Head Game. Kendran Brooks

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Head Game - Kendran Brooks


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Mensch veränderte sich nun einmal über die Jahrzehnte, musste sich irgendwann um seine eigenen Bedürfnisse kümmern, zu sich selbst Sorge tragen und dazu einen gesunden Egoismus entwickeln. Denn was war ein Leben, das nur aus Arbeit, Kindern und Reichtum bestand?

      Je mehr die Liebe zwischen ihnen verging, desto stärker erinnerte sich Sihena an ihre intellektuelle Herkunft. Sie begann Platon und Aristoteles zu lesen, verschlang Dante, Shakespeare und Balzac. So empfand Sihena ihren Gatten Zenweih immer stärker als einen geistlosen Klotz an ihrem Bein. Die Trennung und wenige Jahre später die Scheidung waren die logischen Folgen.

      Heute war sie für den Rest ihres Lebens finanziell abgesichert, besaß ein sehr gut gefülltes Bankkonto und diese noble Villa in einem sicheren Quartier der Millionenmetropole Rio de Janeiro. Sie lebte ihr selbstbestimmtes Leben, nahm sich Liebhaber, wann immer ihr danach war. Doch die Jahre vergingen allzu schnell, flogen nur so dahin. Zumindest empfand die Sechzigjährige heute so. Wo war bloß all die Zeit verloren gegangen? Wie und wo zwischen ihren Fingern zerronnen? Oft genug auch verschwendet?

      Sihena Ling hatte sich zeitlebens schlank und möglichst rank gehalten, betrieb täglich Schattenboxen im Garten, verrenkte sich die Glieder beim Yoga, versuchte Körper und Geist zu vereinen. Nein, alte fühlte sich die über Sechzigjährige nicht.

      Ihre fünf Kinder, allesamt mittels Kaiserschnitt auf die Welt geholt, besuchten sie mit ihren Lebenspartnern leider nur noch selten. Die Enkelkinder kannten die Großmutter kaum, zeigten gegenüber ihrer meist streng und einschüchternd blickenden Oma keine große Zuneigung, waren mit ihr nie richtig warm geworden. Und so vermisste Sihena zunehmend die gute, alte chinesische Erziehung mit all ihren festen Regeln und der überaus klar bestimmten Ehrerbietung gegenüber jeder älteren Generation. Die chinesisch-stämmige Brasilianerin fühlte sich zusehends von allen gemieden und verstoßen und das verbitterte sie sehr.

      War das vielleicht der Grund, warum sie seit einigen Wochen immer wieder aus dem Schlaf hochschrak? Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Aufwachen an ihre Mutter denken musste. Wollte ihr Lien Wong womöglich etwas mitteilen? Ihr noch Wichtiges mitgeben, einen Rat erteilen, der für den Rest ihres Lebens bedeutend war?

      Sihena wusste es nicht.

      Wenn sie sich doch wenigstens an den Inhalt ihrer Träume hätte erinnern können, in denen ihre Mutter zu ihr sprach oder zumindest auftauchte? An den Grund ihres Erschreckens und Aufwachens? Womöglich schwebte eine schlimme Gefahr über ihr und die gute, alte Mutter wollte ihre Tochter davor warnen und bewahren?

      Sihena Ling war selbstverständlich längst zu ihrem Hausarzt geeilt, schon nach dem dritten schreckhaften Erwachen. Sie hatte ihm auch von ihrer Mutter erzählt und dass sie ihren Namen im Schlaf oder Halbschlaf wohl laut gerufen hatte. Der gute Mann konnte ihr allerdings nur wenig dazu sagen oder raten, sprach von möglicherweise unverarbeiteten Erinnerungen aus ihrer Kindheit und dass sie sich doch besser an einen Neurologen oder Psychiater wenden sollte.

      Ihre mittlere Tochter mit Namen Mei war Psychologin, genauso wie ihr Ehemann, dieser Chufu Lederer, ein Philippine, der zusammen mit ihrer Mei an der Universität in Rio de Janeiro studiert und später promoviert hatte. Doch der eigenen Tochter wollte sich die Mutter unter keinen Umständen anvertrauen. Sihena war stets eine stolze und unnahbare Frau und Mutter gewesen, wollte sich keinesfalls eine Blöße geben, keine Schwäche zeigen, musste weiterhin die gradlinige, selbstbestimmte und selbstbewusste Frau sein, die sie ein Leben lang gewesen war. Und der ungeliebte Schwiegersohn kam dafür erst recht nicht in Frage. Der war Philippine. Ein Philippine!

      Und so hatte sich die Chinesin zu einem anderen Spezialisten bemüht, den ihr der Hausarzt empfohlen hatte. Der Mann um die vierzig hieß Horche Condias und war in ihren Augen ein affektierter und sich ungeheuer wichtig nehmender Lackaffe, der bloß vorgab, alle Weisheiten dieser Welt mit großen Löffeln gegessen zu haben. Ihrer Ansicht nach philosophierte der Kerl bloß mehrheitlich herum, gefiel sich gleichzeitig in der Rolle eines Seelenklempners, ohne dass er echte, ärztliche Kunst anzubieten hatte. Der Mann wollte doch bloß möglichst viele und teure und unnütze Sitzungen an sie verkaufen.

      Für morgen Nachmittag, nein, bereits in gut zwölf Stunden, war der nächste Termin mit Dr. Condias vereinbart. Sie würde ihm vom erneuten Aufwachen und ihrer gefühlten Panik berichten und der Psychologe würde bestimmt wieder bedeutungsschwanger mit seinem Kopf nicken und irgendeinen Blödsinn verzapfen, ihr dabei gut zureden und mit seinen ekelhaften Fragen noch weiter in ihrer Kindheit herumstochern, so als wenn sie dies nicht längst schon selbst und ausführlich und ohne jeden Erfolg getan hätte.

      »Allesamt bloß Schaumschläger und ausgesprochene Wichtigtuer.«

      So beurteilte die selbstbewusste chinesisch-stämmige Brasilianerin die gesamte Psychiater- und Psychologen-Brut. Und würde trotzdem wieder zu Dr. Condias hingehen, so wie die Woche zuvor.

      Wenn sie doch nur wüsste, warum ihre Mutter sie in ihren Träumen immer wieder heimsuchte? Dafür musste doch ein sehr wichtiger Grund vorliegen? Oder zumindest eine ernste Sache?

      Sihena erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit ihrer Mãmã, wenige Tage bevor sie überraschend nach einem Herzinfarkt verstarb. Die alte Frau hatte sich bei ihr erneut darüber beklagt, dass sie vom konfuzianischen Glauben abließ, dass sie mit der Heirat mit Zenweih Ling zum Christentum übergetreten und Katholikin geworden war.

       »Also ehrlich, Mãmã, wie oft haben wir das schon durchgekaut? Als Geschäftsfrau hier in Brasilien hilft es mir nun mal ungemein, wenn ich Christin bin. Und der olle Konfuzius hat dir und Vater ja auch nichts genutzt oder euch vor Mao geschützt. Auch ist es besser für meine Kinder, als kleine Christen aufzuwachsen. So werden sie in der Schule weniger gehänselt, in diesem durch und durch katholischen Land. Oder sollen sie etwa die ewig Seltsamen sein und bleiben? Sie hätten als religiöse Außenseiter später nur schlechtere Berufs- und Aufstiegs-Chancen. Das musst du endlich begreifen und akzeptieren.«

      Nein, die alte Frau verstand nicht, wollte nicht einlenken, aus Altersstarrsinn oder weil sie tatsächlich etwas Nützliches bei Konfuzius gefunden hatte. Doch dieser Mann war zu Lebzeiten ein ziemlicher Versager gewesen, trat als kleiner Scheunenaufseher in den Staatsdienst, arbeitete sich zwar bis zum Justizminister einer Provinz hoch, musste jedoch schon wenig später seinen Posten räumen, zog von da an mit einer kleinen Schar von Anhängern durch die Gegend, starb völlig verarmt und bereits ziemlich vergessen. Seine Lehre wurde erst hundert Jahre nach seinem Tod schriftlich aufgezeichnet. Mochte der Henker wissen, wie viel davon tatsächlich auf Konfuzius Mist gewachsen war.

      Sihena konnte kaum verstehen, warum sich bis heute weiterhin Menschen für diesen geschichtlichen Habenichts interessierten. Selbstverständlich waren seine Anleitungen zu gutem Regieren und Verwalten klug und richtig. Doch was hatte das mit echtem Glauben zu tun? Mit der Ausrichtung des eigenen Lebens? Konfuzius gehörte ihrer Meinung nach noch nicht einmal zu den mittelmäßig talentierten Philosophen, hatte auch mit seiner Art der Lebensführung keinen nachhaltigen Erfolg gefeiert. Längst schon griesgrämig wegen seiner anhaltenden Bedeutungslosigkeit geworden, hatte sich der Mann wahrscheinlich nur aus einem einzigen Grund seine vielen Verhaltensregeln und Selbstkasteiungen ausgedacht, nämlich um andere Menschen zu maßregeln und sich an ihnen auf diese bösartige Weise zu rächen. Ja, Konfuzius besaß eigentlich recht viel Ähnlichkeit mit ihrem vom Leben so sehr enttäuschten Vater Wengdo.

      Oder umgekehrt.

      Hatte das Auftauchen ihrer Mutter in ihren Träumen etwas mit ihrem Glauben zu tun? Sorgte sich die längst Verstorbene um ihr Seelenheil? Sie war zwar Christin, ja Katholikin, geworden, doch ohne jeden Glauben an einen Gott, Jesus oder den Heiligen Geist, die Apostel und all den übrigen Zauber. Als ihre Kinder noch klein waren, besuchten sie zwar gemeinsam und geschlossen als Familie an jedem Sonntag pflichtbewusst die Messe, sangen die Lieder und sprachen die Gebete der Gläubigen mit, schluckten auch brav die trockene Scheibe Keks, die ihnen der Priester jeweils auf die Zunge legte, genossen beinahe die eineinhalb Stunden Eintönigkeit und Scheinheiligkeit in der angenehmen Kühle der Kathedrale.

      Alles zum Wohle des Unternehmens.

      Alles zur Steigerung des Wohlstand.

      Denn hinterher, vor der Kirche und nach dem Verabschieden durch


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