Erst mit dem gesprochenen Wort. Helmut Lauschke

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Erst mit dem gesprochenen Wort - Helmut Lauschke


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und ihm damit die natürliche Lebensfreude für immer weggenommen. Ferdinand übergibt das Bein einer Schwester, die es in einem ausgebreiteten grünen Tuch in Empfang nimmt und auf dem Boden in eine doppelte Papierlage einwickelt.

      Im Geist bittet er das schlafende Kind erneut um Entschuldigung, dass er an ihm eine so grässliche Operation ausgeführt hat. Ein kurzer Stumpf bleibt zurück, an dem die kleineren Blutungen koaguliert werden. Die scharfen Kanten des Knochenstumpfes werden glatt gefeilt, und die beiden großen Beinnerven werden unterhalb der Leiste durchtrennt. Dann vernäht Ferdinand schichtweise die Weichteillefzen über dem Stumpf und wickelt den Verband an.

      Der Narkosearzt zieht den Atemtubus aus der Luftröhre des Kindes und setzt ihm die Atemmaske für den Sauerstoff aufs Gesicht. In der stillen Anteilnahme aller, die an der Operation beteiligt waren, wird der Junge vom OP-Tisch auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren. Es ist Ausdruck des tiefen Mitgefühl, dass es mehr Hände gibt als nötig sind, um den Jungen vom OP-Tisch auf die Trage zu heben.

      Es gibt eine kurze Teepause. Der kleine Teeraum ist gefüllt. Die kubanischen Kollegen sitzen auf den durchgesessenen Polsterstühlen und trinken den Kaffee mit viel Zucker. Sie schweigen und schauen den gegenübersitzenden Kollegen zu, wie sie den Zucker in den Kaffee einrühren und schluckweise die Tassen leeren. Über dem Schweigen hebt sich das Verlorene in den Gesichtern ab. Es ist menschliches Frachtgut, das darauf wartet, abgeholt zu werden. Auf keinem Gesicht gibt es die Glätte der Zufriedenheit. Vielmehr sind es die Folien der menschlichen Ratlosigkeit und Unsicherheit, die den Gesichtern aufgeklebt sind. Auf einigen liegen die erstarrten Züge der Resignation, als sei die Freiheit im und fürs Leben eine Utopie und der Lebenswert nicht mehr als eine imaginäre Größe. So bewegt sich der Fortschritt asymptotisch und das nur schwer erkennbar. Aber ohne Menschlichkeit bleibt er eine Farce. Dann ist jeglicher Fortschritt das makabre Kunststück der Lüge, die schmerzt.

      Der ukrainische Narkosearzt kommt in den Teeraum. Er sieht an Ferdinand vorbei und geht zur kleinen Durchreiche, wo er sich die Tasse mit Tee füllt und den Zucker einrührt. Dem Durchreisegesicht hat er die steife Maske des Unberührbaren mit der Nichtansprechbarkeit aufgesetzt. Mit den arrhythmischen Paroxysmen des Augenzwinkerns bemüht er sich, die randvolle Tasse auf die zerkratzte schmale Tischplatte zu setzen, was ihm misslingt. Währenddessen irrt Dr. Ferdinand zwischen Fortschritt und Fortschrittsdenken hin und her. Beim Anlegeversuch der gedachten Asymptoten verliert er die Orientierung, dass es zum vorzeitigen Aus des Fortschritts kommt.

      Das Sein oder Nichtsein vom Seinwollen oder Nichtseinwollen zu trennen, unterliegt einem strengen Denkprozess, der kein Ende hat. Zu oft liegen irgendwelche Trümmer von wertlosen, aber auch wertvollen Dingen, wie es die Integrität ist, herum und blockieren als Stolpersteine den Weg. Die Einheit von Mensch und Kosmos ist entweder zerfranst oder geplatzt. Jedenfalls fällt der Mensch nach unten durch. Er krampft an der Daseinsschwere als Folge der mangelnden Vorstellungskraft und der permanenten Unvernunft.

      Dabei liegt der schöpferische Geist dicht dem weiten Schleier der unverstandenen Freiheit auf, die mit dem Mangel an Verstand auch weiterhin nicht zu begreifen ist. So bleibt die Einbildung im Käfig der Umnachtung hängen. Es bedarf der irritierenden Offenheit und des drängenden Mutes, sich bis zu diesem Selbstgeständnis, was dem Selbstverständnis am nächsten kommt, vorwärts zu bewegen und am Gespräch des Menschseins über Lebenssinn und Verantwortung aktiv teilzunehmen.

      Die Bürde des Chirurgen ist dazu angetan, sich an solchen Gesprächen zu beteiligen. Das um so mehr, wenn Arme und Beine an Kindern amputiert werden.

      Wo einst das Theater stand

      Ob tauig oder trocken, ob Wälder oder Steppe, die Nacht schließt sich zum Gewand, dass du dich fühlst im fremden Land.

      Was dir vorausgeht, bleibt dem Auge unsichtbar. Wohin du auch kommst, es lässt sich nicht erahnen.

      Dinge, die einst standen, sind weggekippt und weggeräumt. Die Kinder von einst sind längst erwachsen mit Falten auf der Stirn.

      Wo einst das Theater stand am Markt im Zentrum der Stadt, steht jetzt ein langgestreckter Neubau mit mondänen Geschäften. Das Theater wurde in einen kleineren Neubau an den Rand der Stadt verlegt.

      Es ist vorstellbar, dass aus der großen Dramaturgie eine kleine geworden ist, weil sich die Einwohner der Stadt mondäner kleiden wollten und dafür das Schauspiel auf eine kleinere Bühne verwiesen.

      Sie lassen das Theaterleben kleiner werden oder eben ganz verkümmern, weil sie in der Erinnerung behalten haben, dass moderne Kleider moderne Leute machen nach dem Ausspruch: “Kleider machen Leute”*.

       [*Gottfried Keller, 1874 im 2. Teil des Novellenzyklus: Die Leute von Seldwyla]

      Was leere Kleiderhaken noch erzählen

      Der letzte Patient auf der OP-Liste ist ein älterer Mann, der sein genaues Alter nicht kennt. Er hat das rechte Bein durch eine Landmine verloren. Wegen einer diabetischen Fußgangrän wird ihm nun das linke Bein entfernt. Die Operation macht aus dem Mann einen Zwerg, der zur Fortbewegung des verbliebenen Körperrumpfes auf das Brett mit den vier Rollen angewiesen sein wird. Der Patient wird auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren. Ferdinand dankt dem Team für die gute Mitarbeit und verlässt den OP.

      Im Umkleideraum hängen nur seine Sachen an einem Haken. Die übrigen Haken und eingeschlagenen Nägel zum Aufhängen der Sachen sind leer. Beim Abnehmen von Hemd und Hose schaut Ferdinand in die Vergangenheit zurück, als an den leeren Haken die Uniformen der jungen Leutnants und die anderen Uniformen mit den breiten großsternigen Epauletten und den roten Längsstreifen an den Hosen der hohen Offizierschirurgen hingen. Diese Offiziere kamen dienstags und freitags vom Militärlazarett in Ondangwa, um am Hospital schwierige Operationen durchzuführen und mit den jungen Leutnants die akademische Saalrunde zu machen. Freitags gab es noch die akademische Stunde ab zehn Uhr, in der die Professoren in Uniform Vorlesungen über chirurgische Themen von praktischer Relevanz gaben.

      Unter den Uniformen steckten hervorragende Ärzte, die von Patienten und Schwestern verehrt wurden trotz der allgemeinen Abneigung gegen die Uniformträger der südafrikanischen Besatzer. Da gab es den jungen Dr. van der Merwe, der bei der Arbeit am Menschen auf seine Uniform keine Rücksicht nahm. Oft verließ er gipsbekleckert den orthopädischen Behandlungsraum. Der andere hervorragende Arzt war der junge Kollege, der mit Verstand und Herz bei der Arbeit an den kranken und verletzten Menschen war. Dieser Kollege schrieb in seiner Freizeit an einem Buch über die Probleme der Rassentrennung in einer Liebesbeziehung im Südafrika der weißen Apartheid. Auch der hohe Offizier, der der Chirurgie am Kalafong-Hospital in Pretoria vorstand, war ein beseelter Arzt als Chirurg und damit ein Vorbild in den harten Zeiten der Not und des Krieges mit den unmenschlichen Auswüchsen der Verrohung und den großen Leiden der Menschen in ihrer Rechtlosigkeit.

      Sicher waren die uniformierten Ärzte, die das menschliche Gesicht der echten Anteilnahme an den Nöten der Menschen der schwarzen Haut über ihre Uniform setzten, die Ausnahme, aber es hat diese Ärzte gegeben, und sie sollen als leuchtende Beispiele in der Erinnerung unvergessen bleiben.

      Ferdinand hat das Zivile angezogen und verlässt den Umkleideraum. Er geht zum Untersuchungsraum 4 im ‘Outpatient department’, um vor der Mittagspause noch Patienten zu sehen, die sich auf den Wartebänken stauen. Es ist ein heißer Tag. Die alte, ratternde Klimaanlage schafft es nicht mit der erforderlichen Kühlung. Das ist auch nach der Unabhängigkeit so geblieben. Die Klimaanlagen sind alt. Manche tun es überhaupt nicht. Ärzte und Schwestern, die hautnah am Patienten arbeiten, um sie zu untersuchen und zu behandeln, müssen weiter schwitzen. Dazu kommen die scharfen Schweißgerüche. In dieser Hinsicht hat sich das Alte mit seinen Mängeln geradlinig über die Zeitschranke hinweg ins Neue verlängert.

      Nach der Unabhängigkeit ist auch geblieben, dass der Verwaltung ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Das ist im Gegensatz zu den medizinischen Abteilungen, wo der ihnen gebührende Stellenwert entweder weiter übersehen oder weiter nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Arbeit am kranken Menschen hat weiterhin


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