RUNNING. Lillie F. Leitner

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RUNNING - Lillie F. Leitner


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sitzt oder etwa das Bett verlässt. Lediglich zum Essen steht er auf. Die gewohnte Bewegung an frischer Luft fehlt ihm. In den letzten Monaten war er ständig draußen, hat oft auch draußen geschlafen, wenn die Temperaturen es zuließen. Sich länger in geschlossenen Räumen aufzuhalten, macht ihm Unbehagen, ganz abgesehen davon, dass Michaelas Haus ihm fremd ist.

      Er fühlt sich – und wird auch – auf Schritt und Tritt beobachtet, derweil für das Paar anscheinend alles seinen gewohnt zwanghaften Gang geht. Man liebt sich nicht, man hat sich gewöhnt. Nun ist man gespannt, wie er, Karl, sich jetzt und künftig verhalten wird. Er sieht ihnen die Fragen ins Gesicht geschrieben und beim Essen auf die Gabel gespickt: Am liebsten würden sie ihn damit pieken und löchern, so kommt es ihm vor. Aber sie trauen sich nicht, und nach Tagen scheint es Karl, als ob sie aus irgendeinem Grund Angst vor ihm haben.

      Das wundert ihn zunächst nicht, denn auch er ist voller Ängste. Angst vor den dunklen, einsamen Nächten, die um ihn kreisen, die Schatten an Wände werfen, die das Haus flüstern und ihn nicht schlafen lassen.

      Ständig ist er darauf gefasst, dass jemand herein kommt – was auch tatsächlich oft passiert. Für die Zimmertür gibt es keinen Schlüssel, und wenn er aus dem unteren Bereich des Hauses vor dem großen Redeschwall seiner Schwester nach oben flüchtet, geschieht es oft, dass sie nervensägend hinter ihm her läuft. Und mit dem Vorwand, irgendetwas ein- oder aufräumen, sortieren oder säubern zu müssen, in seiner Nähe bleibt und weiter schwallt.

      Anstrengend ist seine neue Umgebung für ihn. Er schläft meist tagsüber, wenn Michaela und der Sachse „uff Arbeit“ sind. Dann ist er endlich allein und fühlt sich ungestört.

      Nachts ist er dauerhaft damit beschäftigt, seine Gedanken zu blockieren. Er will nicht denken, nicht an das, was war, schon gar nicht an das, was kommt, und das, was jetzt ist, hält er nur aus, irgendwie.

      Dennoch kriecht Stück für Stück schön langsam die Erinnerung in ihm hoch, die Erinnerung an das, was geschah, an die letzten Stunden, bevor er im Krankenhaus gelandet ist. Was ihm nicht ins Wachbewusstsein dringt, das träumt er, wenn er wehrlos im Schlaf hingegossen auf dem Bett seines Neffen liegt.

      Jedes Mal schreckt er dann hoch aus unruhigem Schlaf, kurz bevor die Eisenstange seinen Kopf trifft, in Erwartung des scheußlichen Geräusches, das sie verursachen wird. Er hat es noch genau im Ohr und im Gefühl.

      Bis dahin hat er aber schon in allen Einzelheiten gesehen, was sie mit Finch gemacht haben. Er kann sich nur zu genau ausmalen, was sie anschließend noch mit ihm getan haben, als erst mal sichergestellt war, dass er, Karl, sich nicht einmischte. Auch wenn keiner mit ihm bisher darüber gesprochen hat, auch wenn er nicht fragt – er weiß es: Finch ist tot. Sie haben ihn umgebracht.

      Karl, zum ersten Mal seit langem vollständig angezogen, öffnet vorsichtig die Wohnzimmertür. Im ersten Moment erschrickt er, denn am Fenster steht David, der normalerweise vormittags nicht zu Hause ist. David, Michaelas Mann, ist nicht viel älter als sie, erweckt aber in seiner großväterlichen Art den Eindruck, als sei er ungefähr siebzig.

      Eine schmale Silhouette, Hände in den Hosentaschen, schaut er durch die gerafften Gardinen hinaus auf die Straße.

      Karl zögert – er weiß nicht, soll er hineingehen oder die Tür einfach wieder zu machen, aber da hört er schon Davids Stimme: „No, kömm rein!“

      So tritt Karl neben David ans Fenster, schiebt ebenfalls die Hände in die Hosentaschen und blickt hinaus. Jetzt fällt ihm auf, dass die Gardinen die gleichen sind wie in seinem Zimmer: Weiß mit Ringelmuster. Die Gardinen sind anscheinend im ganzen Haus gleich, allein im Wohnzimmer wirken sie anders, weil sie gerafft sind. Wahrscheinlich gab es sie im Ausverkauf.

      Draußen entdeckt Karl einen ordentlich gepflegten Vorgarten mit blühenden, bunten Frühlingsblumen, davor die Straße, und vor dem Haus gegenüber einen großen Berg Sperrmüll.

      „Ganz erstaunlich, was die Leute so rausmüllen“, sagt jetzt David in seinem sächsischen Dialekt. Er schüttelt den Kopf: „Ich weiß auch nicht, was mit dem Haus los ist. Wir wohnen jetze fast ein Jahr hier, und das Haus da ...“, er weist mit dem Kinn hinüber, „steht nü schon zum dritten Mal leer.“ David wippt auf den Zehen.

      Karl wirft ihm einen Seitenblick zu und nimmt ihn zum ersten Mal, seit er hier im Haus lebt, bewusst wahr. David ist fast einen Kopf kleiner als er selbst, sehr schmal, nahezu zart gebaut. Karl hat mit David nie viel zu tun gehabt. Auch mit seiner Schwester ist der Kontakt nicht sehr eng gewesen – man hatte sich vielleicht mal bei dem einen oder anderen Familientreffen von Weitem gesehen. Richtig geredet hat er mit David die ganzen Jahre lang nicht, fällt ihm jetzt auf. Er überlegt, ob David auch kleiner ist als Michaela – bisher hat er darauf nicht geachtet.

      David ist die ganze Zeit über praktisch ein Niemand gewesen. Jetzt, wo Karl darüber nachdenkt, fällt ihm auf, dass die Ehe zwischen Michaela und David sich allein dadurch bemerkbar gemacht hatte, dass Michaela sich veränderte. Plötzlich trug sie nur noch Trachtenkleidung. Ob das Davids Idee war? Wäre ja merkwürdig – schließlich kam er aus dem Osten, nicht aus Bayern ...

      Genau wie sein Körperbau sind auch Davids Gesichtszüge sehr fein, fast feminin. Er trägt eine unmoderne, weil viel zu große Brille, die aussieht, als sei sie noch aus den Siebzigern übrig geblieben. Ordentlich getrimmte Koteletten und ein Schnäuzer spenden eine Illusion von Männlichkeit in dem weichen Gesicht. Davids volles Haar, früher kräftig rot, jetzt langsam blasser werdend, ist inzwischen von grauen Strähnen durchzogen. Er trägt es altmodisch glatt zurückgekämmt. Allerdings sind die Haare ziemlich dick, oben und hinten länger, was seinem Kopf Volumen gibt. Die Konturen sind jedoch penibel gestutzt, so wie es früher, vor rund 40 Jahren, modern war.

      Karl seufzt. Die sind schon ein Pärchen, die zwei!

      „Ich dachte, ich geh‘ heute mal später zur Arbeit. Hab‘ noch Überstunden abzufeiern, und der Haushalt hier hat‘s dringend nötig.“

      Schweigen.

      „Weeßte, Michaela allein kann das hier goar nich schaffen, wo sie doch so viel arbeitet in ihrer Beratungsstelle. Was die an Überstunden macht, das geht auf keine Kuhhaut. Aber se will das so. Sie wollte das immer.“

      David schaut Karl von der Seite an, aber der guckt weiter aus dem Fenster, zieht allerdings eine Augenbraue hoch.

      „Sie ist doch da in diesem Verein seit Jahren immer schon ehrenamtlich tätig gewesen, weißt du noch. In dieser Beratungsstelle für Suchtkranke. Offiziell durfte sie da ja nur Kaffee kochen. Und sie ist doch immer so gern hingegangen, se hilft ja so gerne, das is‘ eem’nt ihr Ding. Dann hat se so Wochenend-Lehrgänge gemacht, und letztes Jahr ‘n Abschluss, un‘ dann hat’s geklappt. Super, ne?“

      Karl zeigt keine Reaktion. Eine Weile Schweigen.

      Versunken schauen beide zu, wie ein Mann mit einem Handkarren, an dem das rechte Vorderrad mit lautem Quietschen eiert, aus dem Sperrmüllberg noch schnell drei Stühle abtransportiert.

      „Wir Männer sin ja sowas von unbeholfen!“, erklärt David zusammenhanglos. „Un‘ Michaela is ja ooch so praktisch veranlagt! Sofort sieht sie uff een Blick, was nötig ist. Guck ma‘, ich wär im Leben nich druff jekommen, dass de ooch neue Klamotten brauchs‘.“ David verfällt stärker in seinen Dialekt. „Und bevor ich nachdenke, hat se se schon jekooft. Dat find ich immer wieder gut an Michaela, dasse so praktisch is.“

      Karl mustert David länger von der Seite, schaut dann wieder aus dem Fenster.

      „Sieht doch jut aüs, was de da anhast!“

      Karl runzelt die Stirn.

      „Ja, findste nich‘?“

      Karl findet die Klamotten erbärmlich. So konnte man vielleicht einen 70-Jährigen einkleiden. David selbst hat bestimmt ähnliche Sachen. Und seinem Geschmack sind bestimmt auch die scheußlichen Eichenmöbel zuzuschreiben, die überall im Haus herum stehen. Davids Geschmack musste in der DDR-Zeit stehengeblieben sein – aber was geht das ihn, Karl, an.

      Er


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