Geschichten vom Dachboden 2. Marc Brasil
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Vorwort
Dezember 2016 - eine alte Dame in Hamburg, die eine Fotopostkarte aus dem Karpaten-Gebirge erhält, ein deutscher Soldat, der 1915 in Belgien steht und sich für Sherlock-Holmes-Romane begeistert, ein empörter Professor aus Dortmund, der 1914 einen Brief an einen Schweizer Nobelpreisträger schreibt, und ein Oberlehrer, der das neue Schuljahr 1903/1904 im westpreußischen Deutsch-Eylau begeht – unterschiedlicher können Datums-, Orts- und Personendaten wohl kaum sein.
Dennoch wird die Auswertung historischer Belege aufzeigen, dass sie mehr verbindet als man erahnen kann. Eine spannende und interessante Reise, die durch den Kauf von vier Belegen, bestehend aus zwei alten Postkarten, einem Brief ohne Kuvert und einem historischen Schulbericht beginnt. Vier verstaubte Papiersachen, die eigentlich keiner mehr haben wollte und die für drei Euro den Besitzer wechseln, sind der Beginn einer Geschichte, welche am Schluss ein Buch füllen wird.
Durch umfangreiche Nachforschungen und dem Zukauf weiterer Teile des Briefe- und Papierkonvolutes begeben wir uns auf eine spannende und aufschlussreiche Zeitreise vor und während des Ersten Weltkrieges, die uns in die Menschen und deren damalige Rolle hineinversetzt. Erhalten Sie aus dem Blickwinkel von Schülern, Lehrern, Soldaten und weiteren Personen aus dem gleichen Umfeld, einen zusammenhängenden Überblick über die Gesellschaft und deren Alltag in der damaligen Zeit.
Mitte April 2017 berichtet der Nachrichtensprecher im Radio, dass die amerikanische Armee eine neue Superbombe in Afghanistan eingesetzt hat. 92 tote Feinde sind der Erfolg. Nachfolgende Zeilen sind von einem sechzehnjährigen Jungen vor über einhundert Jahren an dessen Eltern geschrieben, könnten aber auch heute, irgendwo an einem der zahlreichen Brandherde unserer Welt, entstanden sein. Es stimmt nachdenklich, wenn ich daran denke, dass meine beiden Kinder gerade im Alter des Absenders sind:
„Im Übrigen ängstigt euch nicht zu viel, vor allem Mutter nicht. Du weißt ja, eine jede Kugel die trifft ja nicht. Außerdem habe ich die Unverschämtheit mir einzubilden, dass ich in solchen Sachen Schwein habe und zu was Besserem geboren bin als französischen Boden zu düngen. Na und als Krüppel komme ich schon nicht wieder, so etwas gibt es selten bei uns. Da heißt es immer tot oder lebendig. Granatsplitter machen keine halbe Arbeit. Wenn schon, dann geht man am Besten mit einem faulen Witz zum Teufel, so fasse ich das Leben auf.“
„Werfe also um Gottes Willen deinen Idealismus und deine Illusionen ab und glaube nur nicht, dass wir etwa durch unsere Moral siegen werden oder gesiegt haben. Es war mir zuerst auch schwer, dies einsehen zu wollen. Aber ich war zu ehrlich und auch zu hart gegen mich selbst. Ich sagte mir, du darfst dich nicht selbst täuschen und ich habe meine äußersten Konsequenzen gezogen und mich über nichts hinweg getäuscht, sondern mir rücksichtslos eingestanden: Wir sind eben so schlimm, wenn nicht schlimmer wie alle anderen.“
„Was soll ferner die dumme Moraldenke in Sachen requirieren und Appell an die moralische und sittliche Kraft? Ich bin nie ein Unmensch gewesen, aber ich kenne den modernen Krieg jetzt, woselbst ein furchtloser Mann sich nicht scheuen braucht zu sagen: “Mein Herz erbebte vor Grauen.“ Gewiss, es gibt Stunden wo man lacht und fröhlich ist und sich freut. Aber sie kann man zählen. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man abgestumpft gegen alles kraftlos, willenlos, sittenlos zur Maschine wird. Das ist kein Kämpfen voll Liebe und Freude. Du brauchst mir keine Verhaltensregeln ins Feld zu senden als ganz Grüner. Wenn das Zeug in einer Ecke achtlos am Boden liegt, weshalb soll man es verkommen lassen oder warten bis ein anderer es holt? Wenn dass das Schlimmste wäre, das Requirieren, dann ging es noch. Und was sich absolut nicht miteinander verträgt ist Moral und Krieg, vor allem aber moderner Krieg. Wenn früher der Krieg ein ritterliches Handwerk war, heute ist er ein Zerfleischen hirnloser und blutrünstiger Bestien. Jeder ist es, auch ich und die anderen. Nichts ist furchtbarer als der moderne Krieg.“
„Entnervend ist die Hoffnung. Hoffen und Harren reiben einen auf. Der Soldat, der ins Gefecht geht, muss unter alles einen Strich machen, muss wie ein Sisyphusblock bergab rollen auf den Feind, ohne Empfinden und Gefühl. Fängt er aber erst an zu hoffen, oder was dasselbe ist, zu denken, dann ist es aus mit ihm. Er wird schwach. Sicher helfen ihm der Donner der Geschütze und all die schrecklichen Eindrücke, er wird gewissermaßen erst stumpfsinnig gemacht. Vielleicht ist es auch bei anderen anders, ich meine bei solchen, die blindlings an Gott und ein Jenseits glauben. Man kann ja schließlich nur von sich selbst schreiben. Wenn ich jedenfalls mit Hoffnung in den Kampf ginge, machte ich sicher schlapp. Gegen meine Überzeugung kann ich nicht, ich kann an kein ewiges Leben glauben.“
Gleichermaßen laufen in einem Kriege schnell die tendenziöse Berichterstattung und Propaganda der gegnerischen Parteien zur Höchstform auf, nicht selten für den Großteil aller Beteiligten schwer zu entlarven und aufgrund fehlender anderer Quellen leichtfertig angenommen. Aber auch hier hat der zitierte Teenager nach wenigen Monaten Krieg erstaunlich schnell seine eigenen Schlüsse gezogen. Dies zu einer Zeit, in der noch auf beiden Seiten der Front die kämpfenden Soldaten und die Patrioten in der Heimat zahlreich an den gerechten Krieg für Gott, König oder Kaiser glaubten:
„Also mitten im März und es ist noch immer kein Ende vorauszusehen, geschweige denn eins da und trotz der hier jetzt aufgefahrenen 42er Mörser ist kein handbreit Boden zu gewinnen und in Russland ebenso. Dazu geht aus aufgefangenen englischen Berichten und Funksprüchen hervor, dass die Britten im Frühjahr eine neue große Offensive planen und vor allem auch die Küste beschießen wollen. Und in der kläglichen Rundschau und der ganzen Tonleiter der Skandalanzeiger immer derselbe blödsinnige Bockmist: „die Stimmung bei den Truppen ist vorzüglich“ oder „bewundernswert ist die Ruhe der Kanoniere“ usw. Wohin soll das führen? Mich deucht der Krieg ist für uns verloren. Finanziell! Vielleicht ohne das der Franzmann die Rheinfluten zu sehen bekommt, noch der Russe die Oder, noch der Brite das Wattenmeer. Dennoch verloren, wir werden erdrückt! Wir haben schon verloren, wenn der Kampf nur unentschieden ausläuft, „marte ancipiti“ ist für uns dasselbe wie „clades accepta [lat. „Bei Unentschiedenheit des (Kriegsgottes) Mars eine erlittene Niederlage“ - Anm. d. Verf.]. Wenn der April ebenso ereignislos seinen Einzug hält, wenn kein Wunder passiert bis dahin, ist meiner Ansicht nach der Krieg verloren.“
„Auf die amtlichen Mitteilungen übrigens scheiß ich von jetzt ab aus Prinzip. Die kennen zu lernen, hatte ich vor ein paar Tagen Gelegenheit. Vor Weihnachten oder kurz danach, ich weiß es nicht mehr genau, verloren die Matrosen bei St.Georges unseren besten Schützengraben mit elektrischem Licht usw. und ließen sich 400 Mann stark gefangen nehmen. Und was stand in der Zeitung? Wir hätten das Gehöft St.Georges aus strategischen Rücksichten geräumt und solch Schmuns noch viel mehr. Alles Lügen! Dazu ist es kein Gehöft, sondern ein Dorf und wichtiger Stützpunkt. Seht ihr, so wird das gemacht.“
Interessant wird es für geschichtsbewußte Leser besonders, wenn man über die Umstände mehr erfahren kann, unter welchen die vorgenannten Aussagen entstanden sind. Welche Kindheit hatte der Jugendliche, in welchem Umfeld ist er aufgewachsen, wer waren seine Eltern und wie deren Erziehung? Begeben wir uns zurück in die damalige Zeit und machen wir uns selbst ein Bild davon. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich auf meiner Zeitreise begleiten.
15.April 2017
Marc Brasil
Spurensuche
Am Mittwoch, den 28.Dezember 2016 nehme ich kurz nach 19 Uhr den Hörer zur Hand und wähle nun die dritte Nummer aus dem Raum Hamburg, welche unter dem Familiennamen Thomaschki in einer Telefonauskunft eingetragen ist. Die ersten beiden Nummern waren bereits nicht mehr aktuell und so versuche ich bei dem letzten verbleibenden Eintrag Erfolg zu haben. Endlich ein Freizeichen und nach kurzer Zeit meldet sich tatsächlich eine alte Dame mit:„Thomaschki“. „Guten Abend Frau Thomaschki“, erwidere ich und stelle mich kurz vor. „Ich rufe aus Erlangen in Bayern an. Ich beschäftige mich in meiner Freizeit mit der Auswertung historischer Belege und Briefkonvolute. Dabei ist mir in meiner Sammlung eine Fotopostkarte mit dem Absender Leutnant Siegfried Thomaschki aufgefallen und ich suche nach Verwandtschaft“, beginne ich das Gespräch. „Aber ja“, antwortet die alte Dame verwundert, „Siegfried Thomaschki ist mein Vater. Wie haben Sie eigentlich meine Adresse gefunden? Wissen Sie, ich bin 93 Jahre alt und wohne schon lange