Wolfsspuren. Wolf Stein

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Wolfsspuren - Wolf Stein


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war tatsächlich der 13. Juni, den Befehl, an Bord zu gehen. Oder besser gesagt: Die Erlaubnis, an Bord gehen zu dürfen.

      Ein leichtes Grinsen zierte mein verschwitztes Gesicht, als ich mit Sack und Pack den von Containern nur so überquellenden Hafen in Voltri erreichte.

      »Wo ist mein Schiff?« dachte ich. »Wo? Oder war alles doch nur ein Witz? Die Hoffnung stirbt zuletzt!«

      Wenig später schlängelte sich ein Shuttle der Hafeninformation durch das endlos scheinende Labyrinth aus gestapelten Frachtbehälterburgen. Mit mir als Beifahrer.

      Dann lag sie vor mir im Dock. Zwei gigantische Lastkräne fuhren auf Schienen parallel zur Canada Senator. Ich stieg die wackligen Stufen der Schiffsleiter hinauf. Überall rannten Arbeiter mit Helmen umher. Manche grüßten kurz. Punkt 15 Uhr meldete sich Passagier Stein auf der Brücke - bereit zum Ablegen. Aber so weit war es noch lange nicht. Die italienischen Hafenarbeiter waren ein Verein für sich. Ihr Motto: Belade ich heute nicht, belade ich morgen nicht, und übermorgen vielleicht auch nicht. Nur immer schön entspannt bleiben. Diese Arbeitseinstellung war auch der Grund dafür, dass der Frachter bereits ganze zwei Tage in Sichtweite vor Anker gelegen hatte und nicht anlanden durfte. Das erfuhr ich von Sylvia und Holger aus Österreich, zwei meiner Passagierkollegen, deren Hotel sich direkt in Voltri befand. Von dort aus konnten sie das Geschehen mit dem Fernglas genau beobachten.

      »Das muss man sich mal vorstellen!« sagten sie. »Da hat man tagelang dieses blaue Schiff, auf das man so lange warten musste, direkt vor der Nase und kann nicht drauf. Wir wären fast verrückt geworden.«

      Jeder hatte seine eigene Geschichte des Wartens. Neben Sylvia und Holger kamen noch Marco und Nina an Bord, ein junges Pärchen aus der Schweiz. Während Sylvia und Holger ihr gesetztes Alter genossen und jeden Sommer in ihrer kleinen Hütte in Ontario verbrachten, wollten Marco und Nina es wissen. Sie waren auf Weltreise - mit dem Fahrrad! Die beiden hatten bereits die Strecke über Frankreich bis nach Italien auf ihren teuren Drahteseln hinter sich gebracht. Zwei Jahre lang wollten sie in die Pedale treten. Doch da man mit dem Fahrrad, oder dem Velo, wie es in der Schweiz heißt, bekanntlich nicht über das Wasser fahren kann, waren sie auf dem Schiff gelandet.

      Wir alle besaßen eine Gemeinsamkeit: Aus Abenteuerlust und Neugier hatten wir uns für diese eher unkonventionelle Art des Reisens entschieden. Mal was anderes eben.

      Nach dem ersten Kennenlernen brachten alle ihre Koffer auf Kammer, wie man seemännisch sagt. Auf Deck herrschte reges Treiben. Wir mussten uns erst einmal allein beschäftigen, bevor wir offiziell begrüßt wurden. Als ich die Tür meiner Einzelkabine 413 öffnete, fielen mir fast die Augen raus. Nicht vor Schreck über die Winzigkeit der Kajüte, sondern weil ich nicht glauben konnte, was für ein geräumiges, gemütlich eingerichtetes Zimmer sich dahinter verbarg. Hier konnte ich es leicht aushalten - bequeme Holzmöbel, zwei Fenster nach Steuerbord, sogar frisches Obst auf dem Tisch. Fast zu viel des Guten, schließlich hatte ich gerade noch über die feinen Damen und Herren auf ihren Luxuslinern gespottet. Später fand ich heraus, dass das überschwängliche Platzangebot den Nachwehen des Kalten Krieges zu verdanken war. Die M/V Canada Senator wurde 1992 in Polen gebaut. Sie war nicht nur als Frachtschiff, sondern gleichzeitig auch als Truppentransporter konzipiert worden. Um mangelnde Raumfreiheit brauchten wir uns somit keine Sorgen zu machen. Dies nur als kleiner Insidertipp für Menschen mit Klaustrophobie.

      Der Rest des ersten Tages verging wie im Flug. Irgendwann sammelte uns der Sicherheitsoffizier ein, belehrte uns und startete seinen Schiffsrundgang.

      »Hier ist die Offiziersmesse. Dort essen auch Sie. Essenzeiten stehen da drüben auf dem Plan. Getränke, Süßigkeiten und so weiter können Sie hier kaufen. Und jetzt weiter in den Wäscheraum.«

      Wir folgten gehorsamst. Es ging unter Deck. Nicht weit vom Wäscheraum entfernt befand sich das Sportstudio - wenn man es so nennen will - bestückt mit einer alten Tischtennisplatte, ein paar selbstgebastelten Hanteln, alten Fitnessgeräten, einer separaten Sauna und einem einfachen Pool, der regelmäßig mit frischem Meereswasser gefüllt wurde. Wir fragten, ob so eine Ausstattung auf Containerschiffen Standard sei.

      »Nein, nicht unbedingt. Vieles ist dem Kapitän zu verdanken. Aber auch sonst ist die Senator eines der angenehmeren Schiffe. So was braucht man, wenn man monatelang zur See geht.«

      Das stimmt wohl. So vollkommen ist keine Seefahrerromantik, dass man sich nicht über ein wenig Ablenkung und Annehmlichkeit nach getaner Arbeit freut.

      Im Anschluss an die Führung begrüßte uns der Kapitän. Er wünschte uns einen angenehmen Aufenthalt. Wir waren uns sicher, den würden wir haben.

      Es freute mich, dass die Chemie zwischen uns Passagieren stimmte. Hätten ja auch alles komische Vögel sein können. Noch mehr freute mich jedoch, dass es endlich zum Abendbrot ging. Neben der reichhaltigen Hausmannskost, die uns das Küchenteam Ariel, Glen und Nick von nun an täglich kredenzte, gab es in der Messe die Gelegenheit, die Mannschaft unter die Lupe zu nehmen. Zumindest den deutschen Teil. Denn die Offiziere waren alle deutscher Herkunft, genauso wie die Schiffsmechaniker, der Praktikant und die sechs Auszubildenden. Der Rest der Besatzung bestand aus philippinischen Arbeitern, die in der separaten Mannschaftsmesse speisten. Dies rief sofort meinen Gerechtigkeitssinn auf den Plan. Zunächst richtete sich mein Verdacht auf empörende Rassentrennung. Doch auf Nachfrage wurde ich beruhigt. Es sei eine absolute Ausnahme, die aufgrund der Auszubildenden getroffen wurde, dass die Mannschaft mit in der Offiziersmesse essen darf. Und die Philippinos würden lieber unter sich bleiben.

      Nun ja, ich konnte es ihnen nicht verdenken. Ich glaube im philippinischen Speisesaal herrschte mehr Stimmung als im deutschen. Das war schon eine lustige und freundliche Truppe, wenngleich in der Rangordnung ganz unten angesiedelt. Die philippinischen Arbeiter liebten das Karaokesingen und gaben sich ihrer Liebe mit ungezügelter Leidenschaft hin. Jeden Abend sangen sie sich vor dem Fernseher im Freizeitraum die Seele aus dem Hals, zu Schnulzen und Schmuseliedern aus den alten und glorreichen Zeiten der Popgeschichte. Mit einem Ehrgeiz und einer Inbrunst, jedes Frauenherz wäre zu Tränen gerührt dahin geschmolzen. Oder hätte Tränen gelacht. Es war eine unbeschreibliche Mischung aus Charme und Witz. Alles in allem verstand sich die Mannschaft sehr gut. Jeder schien mit seinem Gegenüber klarzukommen. Auch Kapitän Stellmacher war bei allen beliebt.

      In der ersten Nacht schlief ich sehr unruhig in meiner Koje. Sylvia, Holger und Co ging es genauso. Ständig donnerte es draußen. Das Schiff wackelte. Dabei lagen wir noch im Hafen. Schuld waren die Italiener, die wohl lieber nachts arbeiteten als tagsüber. Vielleicht mussten sie auch durcharbeiten, um überhaupt mit dem Be- und Entladen fertig zu werden.

      Der nächste Tag brachte wiederum viel Neues - nur keine Abfahrt, jedenfalls nicht sofort. Dafür jedoch die Erfahrung, dass es in der Seefahrt immer noch gang und gäbe ist, den Bordmüll ins offene Meer zu kippen, wenn man nur weit genug vom Festland entfernt ist. Erschreckend! Frachter aus aller Herren Länder kippen also regulär alles, was nicht mehr gebraucht wird, über Bord. Auch hier bildete die Canada Senator zum Glück eine Ausnahme. Deutsche Schiffe unterliegen strengen Regelungen in Bezug auf die Entsorgung des eigenen Abfalls. Weiterhin lernten wir, welche ungeheure Logistik hinter der ganzen weltweiten Containerwirtschaft steckt.

      Am Abend waren sich alle einig, dass es doch nun bald mal losgehen müsse. Wäre von Anfang an alles ohne Verzögerungen verlaufen, hätten wir jetzt schon fast in Kanada angelegt. Um 23:30 Uhr änderte das immer gegenwärtige, leichte Dröhnen an Bord plötzlich seine Intensität. Wir saßen gerade beim gemeinschaftlichen Kartenspiel auf Kammer, als sich die Sicht aus Holgers und Sylvias Fenster merklich änderte. Die strahlenden Lichter der Stadt zogen langsam vorbei. Nein! Waren wir wirklich dabei, abzulegen? Uns hielt nichts mehr auf unseren Stühlen. Alle stürmten raus auf das Oberdeck. Wir standen sprachlos im Wind. Gespannt beobachteten wir das Ablegemanöver. Zwei Lotsenboote gaben die Richtung vor. Ein kleiner Lichtkegel war alles, was von Genua übrig blieb. Der Nachthimmel präsentierte sich sternenklar. Die Luft roch nach Treibstoff. Die Maschine beschleunigte langsam aber sicher auf Reisegeschwindigkeit. Der Gegenwind ließ unsere Haare und Jacken flattern. Blickten wir direkt in Fahrtrichtung, mussten wir die Augen zukneifen. Es wurde richtiggehend frisch. Zufrieden zogen wir uns in unsere Kojen zurück und träumten von dem, was uns in den nächsten zwei Wochen wohl alles widerfahren


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