Gemütlichkeit. Ursula Reinhold

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Gemütlichkeit - Ursula Reinhold


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      Als wir nach dem Krieg wieder nach Lindenberg kamen, empfing uns Lieschen mit den Worten: "Ich bin jetzt genau so arm wie du als Prolet". Diesen Satz richtete sie an meinen Vater, der ihn später oft zitierte, weshalb er mir wohl im Gedächtnis geblieben ist. Sie wollte uns sagen, dass der Mann abgeholt, große Teile des Viehs weggetrieben und abgeschlachtet waren. Stanislaus war natürlich auch nicht mehr dort. Ansonsten war alles unversehrt. Die Kinder, der Hof, das Haus, Ställe und Scheune. Aber schlimm war für sie, dass sie nun alles abliefern mussten. "Für die Berliner", wie mein kleiner Freund Gerhard mir damals erklärte. Kurze Zeit später, und so blieb es eine ganze Weile lang, kamen die Städter ans Hoftor, das in dieser Zeit im Unterschied zu früher und auch später immer verschlossen war. Sie riefen laut. Wenn einer ausdauernd genug war, wurde er hineingelassen. Die Bäuerin, die ich sonst nur beschäftigt kannte, ließ sich dann viel Zeit, um die Bettbezüge, Teppiche oder das Geschirr, das die Leute mitbrachten, in Friedensmark umzurechnen. Niemals, auch später nicht, habe ich begriffen, was diese Friedensmark bedeutete. Danach entschied sie dann, welche Menge an Kartoffeln oder Mehl, wie viel Eier oder Speck sie den Leuten gab. Meine Mutter nannte das "Schacherei" und war froh, dass wir derlei mit dem Lieschen nicht durchstehen mussten. Die Sachen, die die Leute mitgebracht hatten, legte sie in die drei Truhen auf dem Hausboden, die ihre Aussteuer enthielten. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendetwas davon je benutzt worden wäre. Denn die leinenen Bettbezüge, in denen geschlafen wurde, waren unten im Wäscheschrank.

      Zu uns war das Lieschen immer sehr gut, und ich mochte sie sehr. In späteren Jahren sah ich, wie sie sich quälte, um die Wirtschaft durchzubringen. Nur sie und die beiden Kinder auf dem Hof. Nur selten hatte sie einen Kutscher. An einzelne Männer kann ich mich nur schwach erinnern, weil sie zu schnell immer wieder weg waren. Denn alle wollten sie ihr ein Eheglück bescheren und kündigten deshalb schnell wieder das Arbeitsverhältnis auf, wenn sie merkten, dass ihre Erwartungen sich nicht erfüllten. Derlei spielte in Gesprächen zwischen ihr und meiner Mutter häufig eine Rolle. Die Unterhaltungen endeten stets mit dem Satz: "Ich warte auf Martin". Die Frage meiner Mutter: "Und wenn er nicht kommt”, überging sie mit Achselzucken.

      Ich erlebte, wie sie von früh bis spät auf dem Feld und in den Ställen schuftete. Beim Abendbrot schlief sie mit der Stulle in der Hand ein, worüber wir Kinder natürlich lachten. Meine Mutter weckte sie dann mit den Worten: "Du musst doch noch die Schweine abfüttern." Sie nannte ihren Kurzschlaf "abnicken” und war erst danach wieder bereit oder wohl besser in der Lage, ihr Tagwerk zu vollenden. Im Sommer war sie seit vier Uhr, im Winter seit sechs auf den Beinen.

      Meine Mutter war dort immer sehr willkommen. Es gab dann jemanden, der in Küche, Schleuderküche und Futterküche Ordnung schaffte und auch in den Stuben mal sauber machte. Auch das Kochen unterstand ihr, während Lieschen auf dem Feld war. Sonntags ging sie in die Kirche. Sie saß dann in ihrem blau-weiß geblümten Kirchenstaat am Mittagstisch. Meine Mutter daneben in der Arbeitsschürze, was ich immer ein bisschen ungerecht fand. Aber eigentlich gönnte ich Lieschen ihren sonntäglichen Gang. Es entzückte mich, wenn sie sich vorher das Haar kämmte. Sie löste dann ihren Zopf, der aus langen, kastanienbraunen Haaren bestand, die ihr bis zu den Waden reichten. An den Wochentagen blieb dieses Haar unter dem Kopftuch verborgen, den langen Zopf steckte sie zu einem Dutt auf, aus dem vor dem Zubettgehen die Haarnadeln gezogen wurden. Eine noch größere Aufmerksamkeit, als das sonntägliche Kämmen erregte bei mir, wenn sie die Haare wusch. Es passierte immer, wenn wir dort waren, wahrscheinlich kam sie ohne Hilfe nicht zurecht mit dieser Waschschüssel voll Haar, über das meine Mutter Wasser gießen musste. Wenn sie aus der Kirche kam, schien sie mir immer besonders heiter und zufrieden. Ich hätte damals gern etwas über die Gründe erfahren, aber die besprach sie nicht mit uns. Irgendwie verstand ich, dass es sie in diese Kirche zog, die inmitten des Friedhofes für mich ein geheimnisumwitterter Ort blieb, der Schauplatz vieler Erzählungen über Gespenster, die beide Frauen manchmal zum Besten gaben.

      Lieschen hat tatsächlich bis zum Ende ihres Lebens auf Martin gewartet. Ich flechte das jetzt hier schon ein und greife damit vor, weil ich diese Erzählungen über den Krieg, der mit seinem Ende noch lange nicht vorüber war, endlich hinter mich bringen will. Weil ich sozusagen einer lichteren Zukunft entgegenschreibe. - Also Martin ist niemals mehr aufgetaucht, aber er starb auch nicht wie sein Bruder Ernst aus Fürstenwalde. Von dem gab es wenigstens ein Ende zu berichten. Deshalb ist Martin natürlich immer wieder aufgetaucht, weil es einen solchen Schlusspunkt mit ihm nicht gab. Über eine solche geheimnisvolle Wiederkunft will ich berichten, weil sie mich damals ganz wirr gemacht hat. Es kann 1950 gewesen sein. Elfriede, Martins Tochter, war vielleicht sechzehn Jahre alt. Sie hatte den ersten Freund, was ich aber damals nicht wusste. Er arbeitete bei Jänickes für einige Zeit auf dem Hof. Aus meiner heutigen Perspektive würde ich annehmen, dass er so ein Mann um die dreißig Jahre war. Vielleicht hatte er, von der Mutter abgewiesen, sich um die Tochter gekümmert. Ich weiß es nicht. So könnte es gewesen sein. Elfriede kam jedenfalls eines schönen Sonntags aufgeregt und verheult zu ihrer Mutter. Sie war mit diesem Mann bei einem Spaziergang aufs Feld hinaus auf ihren Vater gestoßen. Der kam dort plötzlich hinter der Feldscheune hervor, stürzte sich auf den Mann an ihrer Seite und streckte den mit kräftigen Faustschlägen zu Boden. Der war zu überrascht, um sich zu wehren. Er rannte fort, so schnell er konnte, Elfriede hinter ihm her. So berichtete sie es atemlos der Mutter, die in der Küche hantierte. Ich saß am Tisch und hörte es. Kurze Zeit später kam auch er, schlich herein, er hatte ein zerschlagenes Gesicht. Die Lippen bluteten, ein Auge war verquollen. Er rechnete offensichtlich nicht mit Mitleid und schaute niemanden an. Wortlos ging er in seine Kammer, die unmittelbar neben der Küche lag. Kurze Zeit später kam er mit einem geschnürten Bündel heraus. Mit einem knappen Kopfnicken ging er durch die Küchentür hinaus über den Hof. Nach einer Weile hörten wir das Hoftor klappen. Wir sahen ihn nicht wieder.

      Dieses Ereignis wurde in späterer Zeit leider nicht so oft besprochen, wie ich gewünscht hätte. Ich wäre am liebsten bei jedem Besuch in Lindenberg darauf zurückgekommen, aber ich sah den Unwillen der anderen, darüber zu reden. Nur Elfriede konnte ich darauf ansprechen. Aber auch dabei kam nichts heraus. Sie versicherte nur wieder und wieder, dass es ihr Vati gewesen sei, der den anderen geschlagen hatte. Warum, wollte sie nicht wissen. Auch hatte sie für den Mann, mit dem sie über die Felder gegangen war, kein Bedauern. Es schien sie gar nicht zu interessieren, wo er abgeblieben war. Kein Wort über ihn, nur Vati, Vati. Noch unverständlicher blieb mir ihre Mutter. Sie, die immerfort von Martin sprach, manchmal, wie die Kinder, ihn auch Vati nannte, überging dieses Ereignis mit Schweigen. Es schien sie nicht zu interessieren, dass er aufgetaucht war. Nur der Mann, mit dem Elfriede gegangen war, dem schimpfe sie hinterher. Ich begriff alles nicht. Wo sie doch wartete und wartete auf ihren Martin.

      Bei diesem Warten muss ihr der nun wirklich liebe Gott geholfen haben, mit dem sie täglich umging. Denn nicht nur sonntags, sondern auch vor jedem Essen sprach sie mit ihm. Uns, meine Mutter und mich, hat sie dazu niemals ermuntert. Auch die Mahnungen an die eigenen Kinder, es ihr gleichzutun, blieben ohne Nachdruck, bis sie sie schließlich ganz aufgab. Als wir sie vor ein paar Jahren zu Grabe trugen auf dem Lindenberger Dorffriedhof, wurde mir bewusst, dass sich ihr Bild für mich immer mit dieser freundlichen, gelassenen Heiterkeit verbinden wird, die sie mir als Kind so angenehm machte. Und dass ich sie an ihr geliebt habe, diese ruhige Ausgeglichenheit. Niemals hat sie mit mir geschimpft, kein böses Wort gab es. Selten nur hat sie mich flüchtig an sich gedrückt. Sie war mir nah, wie man nur als Kind wohl Nähe spüren kann. Unter den Trauergästen in Lindenberg fühlte ich mich fremd. Obwohl auch Elfriede und Gerhard unter ihnen waren und einige Leute, die ich kannte. Alle weinten heftig, besonders Elfriedes Schmerz begriff ich gut. Dennoch blieb ich ohne Tränen. Alles war für mich schon lange versunken.

      "Die Russen kommen"

      Diesen Satz hörte ich gegen Ende des Krieges immer häufiger. Es wurden bestimmte Ortsnamen genannt, von denen es hieß, dass die Russen sie genommen hätten. Namen, die heute jeder kennt aus Film, Fernsehen und Geschichtsunterricht. Deshalb will ich mich über die militärgeschichtlichen Ereignisse nicht weiter verbreiten. Bevor ich berichten kann, was bei uns passierte, als Marschall Konews Truppen sich von Osten her der Reichshauptstadt näherten, um sie in einer Zangenbewegung zu nehmen, muss ich nachtragen, wie es meinem Vater erging, während


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