Im Eckfenster. Gerstäcker Friedrich

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Im Eckfenster - Gerstäcker Friedrich


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      Gesammelte Schriften

      Friedrich Gerstäcker

      Im Eckfenster

      Der Krimi vom Hagenmarkt zu Braunschweig

      Volks- und Familien-Ausgabe

      2. Serie Band Siebzehn

      der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

      Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

      Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Thomas Ostwald. 6 Vollbilder von Ant. C. Baworowski aus der Ausgabe des Verlages C. Grumbach, Leipzig.

      Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

      Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17

      38108 Braunschweig

      Alle Rechte vorbehalten. © 2005 / 2020

      Erstes Kapitel

Eck 7

Eck 7

      Eine Überraschung

      itten in Rhodenburg, einer ziemlich großen deutschen Provinzialstadt, dem alten, jetzt nur noch selten benutzten Schlosse gegenüber, wohnte in einem nicht sehr ausgedehnten, aber dafür höchst elegant eingerichteten Gebäude Freiherr von Solberg, aus einer alten, sehr reichen Familie und durch sein bedeutendes Vermögen auch vollständig unabhängig von der Welt gestellt. Da der Mensch

      aber nur in Ausnahmefällen selber weiß, wann es ihm wohl ist, und außerdem auch noch eine Beschäftigung verlangt, so suchte von Solberg bald nach seiner Verheiratung den Hofdienst und bekleidete jetzt die Stellung eines Kammerherrn, ohne jedoch verpflichtet zu sein, dem Hofe überallhin zu folgen.

       Nur im Spätsommer jedes Jahres zog auch der Hof, oft nur der Fürst allein, auf kurze Zeit nach Rhodenburg, und zwar auf ein benachbartes Jagdschloss, und hielt dort einen kleinen Hofstaat. Dann allerdings lagen dem Kammerherrn von Solberg die üblichen Funktionen ob, die oft seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Freiherr von Solberg nannte sich, aber mit Stolz, einen ‚fürstlichen Diener‘, war jedoch in der Zeit nicht einmal sein eigener Herrn, viel weniger ein Freiherr.

       Gegenwärtig hielt der Fürst aber seinen Hofstaat in der Residenz – es war Frühjahr in Deutschland, und zwar ein so prachtvolles Aprilwetter, dass es den Sommer schon um diese frühe Jahreszeit hereinzauberte. Die glänzenden, klebrigen Knospenkolben der Kastanien brachen auf, die Vögel zwitscherten in allen Zweigen, und die Sonne sandte ihre Strahlen so warm auf die Erde nieder, dass sie den Schnee selbst aus den höheren Gebirgen aufsog und in Sturzbächen hinab ins Tal sandte.

       In dem Frühstückszimmer des Solbergschen Hauses war die Familie heute Morgen versammelt – der Kammerherr, die gnädige Frau und ihre Tochter Franziska, ein liebes, lebensfrisches junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren – und das kleine, freundliche, mit jedem Luxus ausgestattete Gemach sah dabei überaus wohnlich und behaglich aus. Die Fenster standen geöffnet und ließen die Morgensonne voll herein, der große Blumentisch war bedeckt von prachtvollen Blüten und breiten, saftigen Blättern, und das silberne Kaffeegeschirr blitzte und funkelte in den lichten Strahlen – aber an den Insassen dieser reichen Heimat schien das alles machtlos abzugleiten. Die sonst so stolze und gefeierte Dame hatte den Kopf in die linke, feine, mit kostbaren Ringen bedeckte Hand gelehnt und sah still und trüb vor sich nieder; in Franziskas Augen glänzten ein paar große Tränen, und selbst der im Ganzen etwas steife und förmliche Kammerherr schien von irgendeinem Schmerz gedrückt und schaute, während er nur langsam dann und wann an seiner Tasse nippte, still und sinnend vor sich nieder.

       Wieder und wieder aber flog ein Blick der Frau zu einem mit einem frischen Kranz umschlungenen Bilde hinüber, das über dem Sofa hing und einen jungen Mann, eigentlich noch einen Knaben, zeigte, der, in einer kurzen Jacke, mit offenem Hemdkragen und keckem, gutmütigen Ausdruck in den jugendlichen Zügen, den linken Arm auf ein neben ihm stehendes kleines schottisches Pony gestützt, einen großen Neufundländer an der Seite, stand, als ob er nur eben noch auf etwas warte und dann fröhlich in das freie Land hinaustraben wolle.

       „Zehn Jahre“, sagte endlich mit leiser, schmerzgedrückter Stimme die Mutter, „zehn lange, endlose Jahre sind es heute, Rudolf, dass unser Hans uns verließ, an seinem Geburtstag gerade. Heute würde er dreißig Jahre alt, wenn er noch lebte“, setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, und auch quollen jetzt ein paar große, heiße Tränen an den Wangen nieder.

       „Aber warum soll er nicht mehr leben, Mutter!“ sagte die Tochter leise und musste sich Mühe geben, die Eltern nicht merken zu lassen, wie wenig Hoffnung dafür sie selber hatte. „Es sind so viele Menschen weit in die Welt hinausgezogen und gesund und kräftig wieder zu den Ihren zurückgekehrt, und wo sich einer durchschlägt, da darfst du’s dem Hans gewiss auch zutrauen.“

       „Und glaubst du den“, rief die Mutter besorgt aus, „er hätte, wenn er wirklich noch unter den Lebenden weilte, nicht ein einziges Mal an mich, an den Vater geschrieben? Und wovon sollte er gelebt haben? Das wenige Geld, das er mitgenommen, langte ja nicht einmal auf Monate, viel weniger denn auf die langen Jahre aus! Nein, nein, mein Kind ist tot, tot verscharrt an irgendeinem fremden, unbekannten Platz, mir sagt es das Mutterherz, meine Augen werden sein liebes Antlitz nie, nie wieder im Leben sehen.“

       Franziska seufzte schwer auf, sie konnte nichts darauf erwidern, so gern sie die Mutter auch getröstet hätte, und der Kammerherr stand auf. Er schämte sich, seine eigene Bewegung zu zeigen, und ging mit langen, raschen Schritten im Zimmer auf und ab.

       Die Mutter weinte still vor sich hin, aber sie konnte das nicht heimlich und allein tragen, was ihr jetzt in lang zurückgehaltenem Schmerz die Brust erfüllte.

       „Wie still und öde das jetzt hier im Hause ist!“ sagte sie nach einer kurzen Pause. „Weißt du noch, Rudolf, wenn Hans morgens vor uns aufgestanden war und ungeduldig auf das Frühstück wartete, wie er dann da drinnen an das Instrument ging und mit aller Gewalt, um uns herbeizurufen, den Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum spielte? Ich kann den Marsch seit der Zeit nie mehr hören, ohne dass es mir einen förmlichen Stich durchs Herz gibt.“

       Franziska rollten ein paar große Tränen an den Wangen nieder und sie wandte sich halb von der Mutter ab, damit diese sich nicht noch mehr aufregen sollte. Aber plötzlich zuckte sie empor und fühlte zugleich, wie die Mutter fast krampfhaft ihren Arm ergriff und festhielt. Auch der Vater blieb mitten in der Stube erschrocken stehen und horchte nach dem Nebenzimmer hinüber, aus dem jetzt kräftig gegriffene Akkorde herübertönten, die aber auch schon in demselben Moment eine bestimmte Form annahmen.

       „Heiliger Gott“, rief die Mutter und richtete sich, ohne aber den Arm der Tochter loszulassen, halb von ihrem Stuhl empor. „Was ist das? Ist das nicht ...“

       Sie hatte in der Tat Ursache, erstaunt zu sein, denn wer konnte jetzt da drüben überhaupt spielen? Die Gesellschafterin Franziskas lag seit acht Tagen krank in ihrem Zimmere, und die Töne – es war der nämliche Marsch, von dem die Mutter eben gesprochen und den sie nie wieder seit der langen Zeit in dem Hause gehört.

       „Hans!“ kreischte die Frau mehr, als sie den Namen rief. „Allerbarmer!“

       Die Musik war plötzlich verstummt, aber wenige Sekunden später und ehe sich selbst der Vater besonnen hatte, nach der Tür zu eilen, wurde sie aufgerissen. Eine schlanke, kräftige, sonnengebräunte Gestalt mit einem wirren, dunklen Lockenkopf stand auf der Schwelle, und mit dem Jubelschrei „Mutter, meine liebe, liebe Mutter!“ sprang er auf die Dame zu, fasste sie in seine Arme und drückte sie, während er ihre Stirn mit Küssen bedeckte, fest und innig an sich.

       Die Mutter lag halb ohnmächtig, selig in seinen Armen, doch auch Franziska war herbeigeeilt und hatte den


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