Der Nachlass. Werner Hetzschold

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Der Nachlass - Werner Hetzschold


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glü, glü“, zwitscherte sie in den höchsten Tönen.

      Thomas fand das immer sehr lustig und krähte: „glü, glü, glü.“

      Helga fand seinen Gesang gar nicht lustig. Da Worte bei ihm nichts auszurichten vermochten, griff sie zur Kelle und wollte ihn verprügeln. Er entzog sich der Berührung mit der Kelle, indem er fortlief und ihr aus sicherer Entfernung die Zunge herausstreckte oder ihr zurief: „Fang mich doch, du altes Loch ...“ Helga wurde dann noch wütender.

      Diesmal begrüßt ihn Helga mit einem sanften Lächeln und sagt: „Junge, bist du gewachsen. Sicher hat auch dein Verstand zugenommen ...“

      Thomas schluckt, will etwas sagen, zieht es aber vor zu schweigen. Er will seine Mutter nicht enttäuschen, die gerade die Stube betreten hat. Seine Mutter soll immer nur den besten Eindruck von ihm haben.

      Seine Mutter sagt zu ihm: „Thomas, zeig einmal Helga, wie ausdrucksvoll du lesen kannst.“

      „Er muss nicht ausdrucksvoll lesen“, unterbricht Helga die Mutter, „sondern richtig und vor allem flüssig, zügig.“

      „Warum soll ich vorlesen und dann noch zügig, flüssig?“, fragt Thomas.

      „Weil ich mitschreiben will, was du diktierst“, antwortet die Schwester.

      „Warum willst du mitschreiben?“

      „Frag nicht so viel, sondern lies. Als Belohnung winkt dir ein Stück Torte.“

      „Ich darf aber die Torte auswählen.“

      „Ja!“ Helga ist sichtlich genervt.

      Thomas liest auf Helgas Wunsch ihr etwas aus einer Zeitung vor.

      „Diktiere ruhig etwas schneller!“

      „Ich denke, ich soll lesen. Und was ist das für eine Schrift. Die kann doch kein Mensch lesen.“

      „Das ist Stenografie.“

      Ehrfurchtsvoll schweigt Thomas. Jetzt versteht er, warum die Eltern so stolz auf ihre große Tochter sind. Dann fragt er die Schwester: „Erkläre mir einmal, warum eine Sängerin Stenografie schreiben muss.“

      „Du sollst nicht so viel fragen“, bekommt er zur Antwort-

      Jeden Tag diktiert er der Schwester Texte. Thomas gefällt seine neue Aufgabe als Diktator, weil sie etwas einbringt

      Dann verabschiedet sich Helga. In den Augen seiner Mutter schimmern Tränen.

      „Sie kommt doch wieder“, tröstet Thomas die Mutter.

      „Aber wann wird das sein“, schluchzt die Mutter und lässt ihren Tränen freien Lauf.

      Wochen später holt Thomas einen Brief aus dem Briefkasten. Neugierig betrachtet er ihn, denn so eine Briefmarke war bisher noch auf keinem der Briefumschläge. Bundesrepublik Deutschland steht auf der Briefmarke geschrieben. Wer kann ihnen aus der Bundesrepublik Deutschland wohl schreiben? Die Schriftzüge sind ihm nicht vertraut. Genau prüft er jetzt den Absender. Da steht Schwarz auf Weiß geschrieben: Helga Boronsky.

      Thomas stürzt die wenigen Stufen zur Wohnung hinauf. Die Mutter steht in der Küche hinter dem Bügeleisen.

      „Helga hat geschrieben!“

      Seine Mutter unterbricht ihre Arbeit. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Dann schlägt sie ihre Hände über dem Kopf zusammen und schreit in die Stille: „Sie hat es geschafft!“

      Tränen fließen über die eingefallenen Wangen der Frau Boronsky. Mit Tränen erstickter Stimme liest sie Thomas und Gisela den Brief laut vor. Immer wieder stellt Thomas fest, dass seine Mutter sehr gut vorlesen kann. Fließend ist ihr Vortrag und gefühlvoll.

      Beide Kinder erfahren, dass ihre große Schwester Helga in den anderen Teil Deutschlands gegangen ist, den sie unter der Bezeichnung „Goldener Westen“ kennen. Hoffentlich ist dieser Westen so golden, so hoffen die beiden, dass die Familie auch große, dicke Pakete bekommt wie nicht wenige Familien im Viertel. Sie hören aus dem Munde der Mutter, dass ihre große Schwester in Köln ein neues Zuhause gefunden hat. Ihre Karriere als Sängerin hat sie aufgegeben, zumindest vorübergehend, schreibt sie. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin bei einer großen Autofirma. Thomas wird nun klar, warum er ihr immer vorlesen musste. Nicht, um sich im Ausdruck zu schulen, wie Helga sagte, sondern um sie in Stenografie zu Höchstleistungen zu befähigen. Sie äußert, dass ihre Ausbildung in Stenografie und in Maschinenschreiben für ihre Einstellung von großem Vorteil war. Die Tränen verhangenen Augen der Mutter glänzen vor Glück. Entzückt ruft sie immer wieder: „Sie hat es geschafft! Sie hat es geschafft! Dieses kluge Mädchen!“

      Weil die Mutter sich freut, freuen sich die Kinder. Sie wissen, ihre Mutter hat sonst wenig Gelegenheit zur Freude.

      Als Thomas von der Schule nach Hause kommt, sitzt Frau Schlundt bei seiner Mutter in der Küche. Richtig verheult sieht das Gesicht der Frau Schlundt aus, verquollen und aufgedunsen. Beide müssen sich angeregt unterhalten haben, jetzt aber, da Thomas in der Küche ist, verstummt das Gespräch sofort. Das verunsichert Thomas, gleichzeitig macht es ihn neugierig. Nur kann er seine Neugierde nicht befriedigen. Seine Mutter schickt ihn ins Nebenzimmer, weil sie Wichtiges, wie sie sagt, mit Frau Schlundt zu besprechen hat. Wenn Frau Schlundt bei einer solchen Besprechung wie ein Schlosshund heult, muss es tatsächlich etwas sehr Wichtiges sein. Lange muss sich Thomas in der Stube gedulden und seinen Wissensdrang bezwingen. Er lenkt sich ab und vertieft sich in sein aus der Bibliothek ausgeliehenes Indianerbuch. Nur will ihm das nicht völlig gelingen. Die Neugierde meldet sich immer wieder und will wissen, was mit Frau Schlundt los ist. So viel ist Thomas klar: Es muss etwas ganz Außergewöhnliches sein, dass Frau Schlundt zu Tränen rührt, sonst würde nämlich die Frau keine Träne verlieren. Viel Zeit - Thomas kommt es wie eine Ewigkeit vor - ist verstrichen, bis ihn seine Mutter in die Küche ruft.

      Seine Mutter sagt: „Hör gut zu, mein Junge. Der Untermieter von Frau Schlundt ist auf und davon. Niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Nun hat sich Frau Schlundt schweren Herzens entschlossen, ihre Wohnung aufzugeben und ins Stift zu gehen. Wie sie sagt, bekommt sie ein schönes großes Zimmer mit Fenster zum Park Ihre Möbel will sie verkaufen bis auf die, die sie mitnehmen möchte. Für ihren Transport benötigt sie aber keinen Möbelwagen. Nun lässt sie dich durch mich fragen, ob du ihr beim Umzug behilflich sein könntest. Sie will sich auch erkenntlich zeigen. Ich habe schon zugesagt. Und du wirst doch deine Mutter nicht enttäuschen und ihr zur Hand gehen.“

      Seiner Mutter zuliebe sagt Thomas ja. Er möchte ihr eine große Freude bereiten.

      Abends nach dem Abendbrot sagt seine Mutter zum Vater, nachdem die Kinder sich in die Stube zurückgezogen haben: „Hast du schon gehört, Karl, der Schlundten ihr Untermieter ist abgehauen. Niemand hat eine Ahnung, wo er abgeblieben sein könnte. Alle wissen nur, er ist spurlos verschwunden, einfach abgetaucht.“

      „Bei dem Drachen hält es doch keiner aus.“ Mehr hat Herr Boronsky nicht zu sagen.

      Als an diesem Sonnabend Thomas von der Schule nach Hause kommt, wird er mit Ungeduld von Frau Schlundt erwartet. Hoch oben am Himmel steht die Sonne und heizt die Stadt auf. Wie seine Klassenkameraden würde Thomas lieber diesen Tag im Freibad verbringen, aber die Pflicht ruft, die ihm seine Mutter in ihrer Gutmütigkeit eingebrockt hat. Die Mutter will er nicht enttäuschen, deshalb fügt er sich in sein Schicksal, trinkt nur zwei Tassen gesunden Kamillentee, um seinen Durst zu löschen. Dann klopft er an die Tür der Frau Schlundt. Sie muss hinter der Tür gelauert haben, denn gleich nach dem ersten Klopfer wird die Tür aufgerissen, und Frau Schlundt steht vor ihm. Ihre Kleidung sieht gar nicht nach Arbeit aus. Sie trägt einen bunten Blumenrock, eine weiße Bluse. Ihre Füße stecken in Stöckelschuhen.

      „Fein, dass du da bist“, empfängt sie Thomas, „wir gehen gleich nach dem Wagen.“

      Nur ein paar Häuser weiter steht vor dem Hauseingang ein großer Leiterwagen für Frau Schlundts Umzug bereit. Thomas darf sich davor spannen und ihn ziehen, während Frau Schlundt neben ihm daher trippelt und lobt: „Du bist ja ein großer, kräftiger Junge. Für


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