Blühende Zeiten - 1989 etc.. Stefan Koenig

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Blühende Zeiten - 1989 etc. - Stefan Koenig


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hören nur die fernen Stimmen, ohne sie zu verstehen. Sie sehen nur, dass es nicht weitergeht mit Vater und Sohn.

      Der Sohn klammert sich weiter an das Bein des Vaters. Er ergreift jetzt auch das zweite Bein seines Vaters. Das Gewicht wird immer schwerer, das an dem alten Uhrmacher zerrt. Der Vater spürt, wie seine Kraft erschlafft.

      „Du reißt mich in die Tiefe!“, ruft der Vater dem Sohn zu. „Halte dich ganz fest an der Leiter. Aber lass mich los. Wir müssen hier warten, bis es dir besser geht.“

      Der Vater überdenkt die Situation blitzschnell. Er kann das Gewicht seines Sohnes nicht mehr länger halten. Der Schwindelanfall wird nicht in einigen Minuten vorüber sein. Schon einige Sekunden geraten jetzt zu einer gefühlten Ewigkeit. Er wird seinen Sohn höchstens noch eine halbe Minute an sich geklammert ertragen können. Dann wird seine Kraft erschöpft sein und sie werden beide abstürzen. Sein Sohn wird ihn mit in die Tiefe reißen. Er muss handeln.

      Der Vater denkt an seine vier anderen Kinder, die beiden jüngsten sind acht und vierzehn Jahre alt, die beiden älteren, 20 und 22 Jahre; sie haben noch keine Arbeit und helfen im Haushalt mit. Der Uhrmacher denkt an seine alte, kranke Mutter und an seine Frau, die ohne ihn weder ihre Schwiegermutter noch die Kinder ernähren kann. Wenn die Familie ihre beiden ältesten Männer verliert, ist es das größte Unglück überhaupt. Wenn nur einer von ihnen beiden hier oben überlebt, ist es sehr schlimm, aber der Überlebende kann zumindest noch für die Familie sorgen.

      Was soll er tun? Der Sohn hat nun sein ganzes Gewicht an die Beine seines Vaters gehängt und sagt, dass sich immer noch alles um ihn herum dreht und er sich nicht halten kann. Der Vater entschließt sich zu einer übermenschlichen Entscheidung und schleudert mit einem Bein seinen Sohn von sich. Der Schrei des abstürzenden jungen Mannes wird übertönt vom vielstimmigen Aufschrei der unten stehenden Menge, die dem Geschehen ratlos zusieht.

      Der Abgestürzte ist auf der Stelle tot und wird unter Wehklagen, aber auch mit Wutgeschrei geborgen. Die Menschen schauen nach oben und sehen, wie der alte Uhrmacher jetzt sehr langsam nach unten absteigt, wie er jeweils die Leitern bedachtsam mit nach unten nimmt. Als er unten ankommt, bricht er zusammen und ist nicht ansprechbar. Einige wollen ihn sofort lynchen, aber die Mehrheit schützt ihn und sagt, dass er einen fairen Prozess bekommen möge. Man wolle erst wissen, was sich da oben abgespielt habe.

      Soweit also lautete der Text, den wir damals als Schüler erörtern und als „Richter“ beurteilen sollten: Wenn Sie als Richter über den alten Uhrmacher zu urteilen hätten, wie würde ihr Urteil ausfallen und wie würden Sie das Urteil begründen?

      Als ich Lutz das Gleichnis erzählt hatte, sah er mich mit großen Augen an. „Du empfiehlst, ich solle Kai von mir abschütteln?“

      „Ich kann dir nur meine Haltung verdeutlichen. In meinem ethischen Weltbild hat die Mehrheit Vorrang vor dem Einzelnen. Wenn ich vier Personen retten kann und dadurch einen Menschen verliere – und die schreckliche Alternative wäre alle fünf zu verlieren – dann würde ich mich für vier und gegen einen entscheiden. Und dann kommt es freilich auf die Situation an, wenn es um die Frage geht, wer das Opfer für die anderen sein muss.“

      „Gut, dass ich nicht vor solch einer Frage stehe“, sagte Lutz.

      „Sag das nicht. Man kann auch daran denken, jemanden nur auf Zeit »abzuschütteln« – wenn man dieses unschöne Wort benutzen will. Die Frage ist, wie viel dein Adoptivsohn zerstört und ob er euch tatsächlich in den Abgrund reißt. Vielleicht gibt es eine mildere Alternative, die es gestattet, dass ihr erst einmal Abstand voneinander gewinnt. Ich denke an eine therapeutische Wohngemeinschaft für Kai.“

      Ich konnte nicht im Geringsten ahnen, dass mich dieses fürchterliche Gleichnis in zwanzig Jahren noch einmal im realen Leben einholen und ich vor einer ähnlichen Entscheidung stehen würde, ohne ihr entfliehen zu können.

      Nein, das war kein Aprilscherz, und Emma hatte es richtig Angst eingejagt: Sie war mit dem vierjährigen Luca und seiner sechsjährigen Schwester mit dem Fahrrad unterwegs zum Kleingarten meines Vaters. Unterwegs wurden sie von einem gewaltig kläffenden Dackel verfolgt, der nicht auf die „Zurück!“-Rufe seines Herrchens hörte. Der Hund holte die drei ein und verbiss sich in das Bein von Luca. Es war ein Drama, Arztbesuch, Anzeige gegen den Hundebesitzer, trösten der Kinder und schließlich Rücknahme der Anzeige inklusive. Was konnte man tun, um die Angst vor Hunden und den Brass gegen Vierbeiner nicht weiter gedeihen zu lassen? Sich einen eigenen Hund anschaffen!

      Emma machte sich schlau über Hunderassen und ihre Familienverträglichkeit. Sie landete in ihrer aufwendigen Recherchearbeit bei Neufundländern. Dann machte sie sich kundig bei der nächstgelegenen Hundeschule, sprach Hundebesitzer an, fragte nach Erfahrungen und besorgte schließlich all das Zubehör, das man brauchte, um einem Hündchen eine neues Zuhause einzurichten.

      Wir bekamen ein wunderschönes, sechs Wochen altes, schwarzes Wollknäuel in der Größe jenes Dackels, der der Auslöser gewesen war. Das Wollknäuel war ein Weibchen und hieß Adele. Sie hatte bereits in ihrem Babyalter die Größe von Luca, mit dem sie sich ebenso wie mit Karo von der ersten Sekunde an toll verstand, denn sie tollten sofort toll herum. Jetzt hatten wir ein drittes Kind. Ab nun hieß es, in unseren Tagesablauf auch ein langes Gassi einzuplanen. Wir schüttelten schlagartig unsere Ängste und unseren Ekel vor Vierbeinern ab. Die eigeninitiierte psychologische Überrumpelungsarbeit war gelungen.

      Am 14. April schüttelte der SPD-Vorstand aus Kostengründen sein Parteiblatt, das bisher wöchentlich erschienen war, ab, den Vorwärts. Nicht nur seitdem ging es nicht mehr vorwärts, sondern rapide rückwärts mit der guten alten ehemaligen Arbeitnehmerpartei.

      Mai 1989

      Achtzehn Tage später, es war der 2. Mai, begann die Volksrepublik Ungarn völlig unerwartet mit dem Abbau der Grenzbefestigungen zu Österreich. Das Zentralorgan des Kapitalismus, die BILD, jubelte lauthals. Ich realisierte die in Aussicht stehenden historischen Auswirkungen dieses Vorgangs nicht wirklich. Zu sehr war ich befangen von meiner Arbeit und dem wichtigtuerischen Auftritt jenes unsympathischen Herrn Braun. Als ich Emma von seinem theatralischen Auftritt und dazu von Frau Wenzels Idee berichtete, war sie von der Umzugs-Überlegung begeistert.

      „Lass mich das mit dem Nabel-Schoen recherchieren. Ich kann gut verhandeln, wie du weißt. Falls das Gebäude echt noch leer steht, lässt er gewiss mit sich über den Mietpreis reden.“

      Meine Frau war ein Naturtalent in Sachen Verkauf und Verhandeln. Sie übernahm die Sache. Somit war Frau Wenzel entlastet und Emma konnte ihr Talent beweisen. An diesem Abend kamen wir auf ein anderes Naturtalent zu sprechen. Meise hatte mich angerufen und von Jürgen Harksen und seinen Millionen-Anlage-Erfolgen berichtet.

      „Willst du da nicht mal investieren? Dreihundert bis tausend Prozent Rendite, das ist doch phantastisch! Wo sonst kriegst du so etwas geboten? Ich habe keine müde Mark, sonst würde ich bei ihm investieren. Aber du! Du kannst doch etwas hinlegen. Probiere es doch einfach aus. Du weißt, dass ich nicht davon profitiere, wenn ich ihn dir empfehle. Ich rate es dir nur als Freund und weil ich Jürgen gut kenne. Du kannst ihm vertrauen.“

      „Mein guter Meise“, hatte ich ihm geantwortet, „ich glaube an deinen guten Willen, aber ich glaube nicht an ein Tausend-Prozent-Versprechen eines Herrn Harksen, denn ich bin Realist und nicht hauptberuflicher Künstler wie du. Dreihundert bis tausend Prozent – das ist unrealistisch und unseriös. Irgendwann wird sich der Pferdefuß herausstellen. Die Börse boomt zwar tatsächlich, ich verfolge das sehr wohl – doch tausend Prozent zu garantieren, ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Komm, lass uns beide das Thema für immer begraben.“

      Meise berichtete mir dennoch eine weitere geschlagene halbe Stunde von den glorreichen Ereignisfeldern des Herrn Harksen. Aber wie verhielt es sich in Wahrheit? Ich erfuhr es von Harksen selbst, allerdings erst einige Jahre später. Landeten anfangs nur vierstellige Anlagebeträge auf seinem Konto, so rief eines Tages ein Versicherungsmakler an und deutete seine Absicht an, eine größere Summe zu investieren.

      Als sie einige Zeit später beisammen saßen, interessierte sich Harksen als


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