1932. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.mit Tatsachen aufhelfen? Entbrennt irgendwo ein überflüssiger Krieg, so ist die ganze Welt dabei, mit Armeen einzuspringen, um Frieden zu stiften. Wann hat man das wohl gesehen, solange Sie herrschten?
Der Tod: In der Antike. Eine Erfindung der Römer. Der Trick ist uralt; die Großmacht im friedensstiftenden Gewand lässt zunächst einen kleinen Partner den Konflikt mit jenem Staat auslösen, der vernichtet werden soll. Dann kommt Rom, um Ordnung zu schaffen, Roma locuta und bleibt natürlich ein wenig. Man teilt die Beute zwar ein wenig ungleich, aber der Zweck wurde erreicht. Die Unterlegenen müssen wohl oder übel anerkennen, was Rom die Pax romana nannte. Überflüssige Kriege gibt es nicht; wo sie ausbrechen, gehen sie auf Ursachen zurück.
Das Mädchen: Kaum, uns hat die erste Hälfte dieses Jahrhunderts die Augen geöffnet. Nie wieder Krieg, nie mehr Nationalismus, nie mehr Euthanasie; wir wissen Bescheid.
Der Tod: Wie steht es denn? Der geschichtlich handelnde Mensch in der Periode vor dem Untergang dieses Europa schimmert angesichts der Papierberge aus Rechtfertigungen und Schuldbekenntnissen, aus Unsinn und Unterwerfung nur wie durch Milchglas. Die so Belehrten starren gebannt auf die tanzenden Schatten an der gegenüberliegenden Wand ihrer Angsthölle. Ich nehme an, dass Ihnen dieses alte Gleichnis nicht fremd ist, Magister. Einer meiner griechischen Schüler hat es gefunden. Ich fand es nicht schlecht. Und Sie? Wie finden Sie es?
Das Mädchen: Was haben Sie damit im Sinn? Woran denken Sie, Erbe und Enkel eines Reiches, das sich durch Negation und Nichtexistenz auszeichnet? Ihre Griechen haben Sie mehr gefürchtet, als ihren obersten Gott.
Der Tod: Wohl, aber Sie verwechseln da etwas, meine Dame. Plutos Reich war nie das meine. Ich bin Universalist. Nein, ich denke über euren Hochmut nach, daran, dass ihr im erdnahen Raum Blech montiert und in den Himmel schießt, und Eroberung des Weltraumes nennt. Kaum wäre die Ansiedlung von Menschen auf einem erkalteten Stern geschehen, würden die Kolonisatoren einander ausrotten; ihr hättet das Lebensgesetz in den Orbit mitgenommen; darum ist alles, was entsteht, auch wert, dass es zugrunde geht, und besser wär’s, dass nicht entstünde, und so weiter … Ich denke daran, dass eure Informationsgesellschaft aus Individuen besteht, die desorientierter sind, als selbst der Mensch nach dem Schöpfungsplan in der grauen Vorzeit. Was die historische Bearbeitung betrifft, so habt ihr euren Beobachtern die Fesseln des Vorurteils angelegt, lasst sie am langen Seil einer imaginären Schuld voran tasten, und wendet, um euch selbst zirkulierend, an den Landmarken des Dogmas wieder in den Kreis des Irrtums und der Verblendung zurück.
Das Mädchen: Eure Ehrbarkeit, fassen wir Ihre Empfehlungen näher ins Auge! Sie wollen den Krieg moralisch rechtfertigen! Es ist absurd, Sie haben keine Gefolgschaft mehr. Und die Moral? Woran messen Sie denn eigentlich menschliche Handlungen?
Der Tod: An den Folgen. Moralische Wahrheiten gibt es nicht. Wahrheiten, die irgendeiner Hilfskonstruktion bedürfen, um geglaubt zu werden, nennt man Demagogie, Magister. Was Ihnen fehlt, ist das klare, das nüchterne eiskalte Denken. Alles wiederholt sich. Nachdem sie den Untergang des Nationalgedankens aus der Geschichte verbannt und durch den Mischkessel der Rassen ersetzt haben, um so ultimativ wie kategorisch festzustellen, der Mensch ist gut, à la Rousseau. Sie müssen nur noch das ethnische Restbewusstsein denunzieren. Indessen feiert der Nationalismus seine Auferstehung, wie ich auf meiner Liste Ihrer Verluste ablesen kann. Und die gnadenlos ausgetragene Konkurrenz, um Dasein, um Lebensraum, aus der heraus einst alle in Vergessenheit geratenen Tugenden sprossen, richtet sich zuletzt gegen euch selbst. Ich will Ihnen mein tiefstes Geheimnis verraten, Magister, selbst mich, der jeden Zuwachs an Verfall begrüßen müsste, mich ekelt es vor dieser Welt.
Das Mädchen: Nun, zur Menschenliebe sind Sie nicht verpflichtet. Es gibt aber doch ein Gegengewicht zur Entwurzelung, für das Sie die Preisgabe nationaler Zentren verantwortlich machen; die Imaginair Community. Gibt es also im historischen Bezirk keinerlei Verantwortung? Und die persönliche Verfehlung, darf sie nur nüchtern abwägend beschrieben werden, und nicht ethisch qualifiziert?
Der Tod: Das weiß ich nicht. Imaginäre Community, das heißt so viel wie eingebildete Gemeinschaft? Da ich mit einer Intellektuellen rede, noch dazu mit einer Frau, die ihre Bestimmung verfehlt hat, was der Feigheit des intellektuellen Establishments die Krone aufsetzt, bestreite ich vorläufig nur den Nutzen einer Analyse, die alles vermengt, persönliches mit schicksalhaftem. Wohlan! Politik wurzelt in der allgemeinen Geschichte. Was Ihnen heute als Sündenfall erscheint, das empfanden die Zeitgenossen nur als eine Folge aus den Zeitumständen heraus. Alle realen Feststellungen wurden methodisch zu einem bittersüßen Brei verrührt, den Sie, meine Dame, nur schlecht vertragen, sich aber zu genießen nicht weigern dürfen, ohne mit dem Bannfluch des Zeitalters belegt zu werden, der historischen, kollektiven Schuld, die nicht vergeben wird.
Das Mädchen: Das alles klingt dunkel, und es ist überdies noch ungerecht.
Der Tod: Ungerecht? Kaum, und dunkel nur insofern, als Sie sich neu definieren müssen. Übrigens steht der Tod außerhalb der Kategorien von Schuld und von Gerechtigkeit. Ich bin immer gerecht, bin immer Rächer und Gleichmacher. Ich bringe euch den andauernden Frieden. Es ist mir lieb, Frauen und Männer zu bekommen, die sich ehrenhaft benehmen, da ihnen das Urteil der Nachwelt sicher ist.
Das Mädchen: Es kann Ihnen nichts ausmachen, sich zu erklären. Niemand wird Sie zur Rechenschaft ziehen.
Der Tod: Nein. Da Sie und ich Prinzipien sind, und nur im kurzen physischen Dasein des Einzelnen wahrgenommen werden.
Das Mädchen: Meister der hohen Werke. Fürchten Sie nicht, eines Betruges überführt zu werden, wenn Sie sich auf konkrete Geschichte einlassen, und nicht im Dunkel Ihres finsteren Mythos bleiben? Ihre heroischen Frauen und Männer empfanden den Schmerz womöglich nicht als Auszeichnung, sondern als das qualvolle und sinnlose Ende des Lebens. Und, ehe ich es vergesse; dieses Jahrhundert, das uns von der Geißel Nationalismus befreite, forderte den höchsten Zoll an Leben überhaupt.
Der Tod: Wenn Sie die durch Seuchen erledigten abrechnen, ja. Wie mache ich es Ihnen klar, dass Sie einer kollektiven Glaubensregelung aufsaßen, und sich heute nur selbst manipulieren. Wäre ich sterblich, würde ich sagen; wir leben unsere Zeit, Magister. Ich kenne in keiner Sprache einen ähnlichen Begriff für Wandel, für Besserung, als das Wort Wende der Deutschen. Was wirklich untergeht, sind immer die unterschiedlichen Hoffnungen, die in der Real- wie in der Sittengeschichte wurzeln. Den Zeitgenossen der Dreißigerjahre galt der Nationalsozialismus als eine der beiden großen Utopien. Der herrschende Kapitalismus, die schlimme Geldpest der Klassengesellschaft sollte abgelöst, und ein Traum befriedigt werden, wie ihn mein Schüler Plato geträumt hat. Die Zusammenführung aller Wünsche und Hoffnungen in den neuen, den rassisch begründeten Staat galt der großen Mehrheit der Deutschen als die Erfüllung aller Hoffnungen und Wünsche. Gerade diejenigen, die ihn am heftigsten geträumt haben, zweifeln heute auch am tiefsten. Verzeihen Sie, Magister, wenn ich mich ausnahmsweise auf die Erörterung vorübergehender Zustände einlasse; es geschieht, um Ihnen eine Ebene des Disputes zu bieten, da Sie meine Sphäre nicht erreichen werden. Das gilt auch für die angestrebte klassenlose Gesellschaft. Was geschieht und wie, ist immer zeitlich gebunden, was damit auch verfehlt oder gewonnen wird.
Das Mädchen: Wie nun? Sie, der eben noch das Evangelium des Faktischen predigte, negieren, dass der deutsche Großmachttraum durch die beiden verlorenen Kriege ad absurdem geführt wurde, leugnen es angesichts der geschichtlichen Unmöglichkeit, einen deutschen Großstaat zu bilden? Wir vermögen höchstens als eine ökonomische Mittelmacht zu bestehen, aber nicht als Nationalstaat großen Stils, was wir völlig zutreffend als wilhelminischen Größenwahn bezeichnen.
Der Tod: Oder Victorianischen, das geht vorüber. Sie können diese Zeit auch als das Victorianische Zeitalter bezeichnen; die Europäer waren allesamt nicht frei von Großmachtgelüsten. Stabile Großstaaten sind eine Voraussetzung für lange friedliche Zeiträume. Ihr Verfall zeigt jeweils an, wie sehr es der Menschheit erneut nach einer Periode des Kampfes, des Unterganges und des Todes dürstet. In meine Version des Lebens ist alles kurzfristig und auf Zeit angelegt.
Das Mädchen: Letzten Ende hat uns die Lösung, die mit der Überwindung des Deutschen Reiches eng einhergeht, in den Kreis