1932. Helmut H. Schulz

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1932 - Helmut H. Schulz


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erlegtes Wild, Rehe, Schnepfen und Enten, noch im Gefieder, auf schwerem grünen Samt lagen. Moog hatte, nicht ohne vermessenen Stolz auf diese Einrichtung, seine Kameraden durch die Wohnung führen dürfen und auf die erstaunte Frage, weshalb so viele Zimmer leer und ungenutzt blieben, keine andere Antwort als diese zu geben gewusst, so sei es immer gewesen in Riga, obschon er das Stadtpalais der Einars gar nicht kannte ...

      Die Samoware aus Tula auf Tischen mit Intarsienarbeiten in den Zimmern, die Teegläser in metallenen Körbchen und die fingerhutgroßen Goldbecher aus den sibirischen Werkstätten, die lackierten Kästchen, leuchtende Blumen oder Troikas hatten Bewunderung und Staunen erregt, und Moog erkannte damals wie exotisch die Einars den Reichsdeutschen, diesen munter plappernden Berlinern zumal, erscheinen mussten. Das Russisch sprach er schon geläufig und fast so gut wie Deutsch, seine Muttersprache. Moogs Mitschüler in der örtlichen Gemeindeschule, in die er damals gehen musste, weil es dem Anwalt beliebte, ihn mit dem Volk leben und leiden zu lassen, behandelten ihn also achtungsvoll; selbst manch einer der Lehrer bemühte sich um die Gunst dieses jungen Schülers. Erst durch die Befragung, woher er komme und wer er sei, ging ihm denn auch auf, welche Entfernung der Vater bewältigt hatte, auf der Flucht vor den Feinden, Tausende Kilometer zwischen Riga und Wladiwostok, gewaltig und für einen Knaben ganz unvorstellbar, selbst mit der Transsibirischen Eisenbahn eine Reise von vierzehn Tagen. Das gab Moog einen Sonderstatus und in der Tat war er den eingeborenen Kindern in etwas schwer zu Benennendem überlegen. Eine frühe Reife vielleicht, aus der Lage dominierender Minderheiten begründete Ursache, Anlagen, die sich weiter vererbten. Jedermann war davon überzeugt, dass ihm eine große Zukunft gehöre. Ohne es zu wissen, war Moog auf seine künftige Rolle in der kommenden Gesellschaft vorbereitet worden; er wusste früh, früher als andere, dass diese Republik aus Weimar nur Übergang sein konnte und durfte. Im Grunde sah er in seinen Mitschülern ihm widerstrebende Obskuranten, bestenfalls Gefolgsleute, die er duldete, wie es zu seinen Pflichten gehörte, ihnen gegenüber unbedingt zuverlässig zu sein oder Loyalität ihnen gegenüber zumindest anzustreben. Alles lief bei ihm darauf hinaus, Ordnung zu halten, Ordnung letztlich in Natur und Gesellschaft als unverrückbar und ewig zu erkennen ...

      In dem kleinen Salon der Tante gab es also bequeme Sessel und Sofas, Tische und Stühle mit zierlich geschweiften Beinen. Es saß sich ganz angenehm bei ihr. War Einar in der Kanzlei oder, zwangsläufig ein häufiger Fall, in seinem Arbeitszimmer, hielt sich die Sustschina bei ihm auf. Die Geschwister bemühten sich vergeblich, einen Prozess gegen die lettische Republik in Gang zu bringen. An sich waren ihre Ansprüche zwar völker- und staatsrechtlich fragwürdig, Lettland inzwischen völkerrechtlich anerkannt, aber: par in parem non habet iurisdiktionem. Lettland war ein Staat, die deutsche Republik auch. Durch ihre Heirat mit dem ermordeten Stabskapitän war die Baronin zur Erbin oder Miterbin seiner Hinterlassenschaft geworden, das sie nicht in Besitz nehmen konnte. Indessen lag der Fall komplizierter und etliches auf russischem Boden. Unzweifelhaft war Sustschin in seiner Todesstunde russischer Staatsbürger gewesen; so weit es seinen Grundbesitz betraf, lag dieser jedoch heute zum Teil auf sowjetrussischem Territorium. Das sozialistische Rußland hatte die sustschinschen Liegenschaften enteignet, Wälder und Ackerland, durch die normierenden Kräfte der Revolution. Der lettische Staat schließlich, ebenfalls Erbe oder Expropriateur, verwies auf zu schließende Staatsverträge, in denen solche persönlichen wie auch die staatlichen Ansprüche dauerhaft geregelt werden sollten, könnten. Allerdings entschädigte das Reich die aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien vertriebenen Siedler aufgrund einer Vereinbarung zwischen der britischen Mandatsregierung und den Deutschen mehr oder minder gerecht und jedenfalls bewusst säumig und verschleppend, nicht aber die aus dem Osten vertriebenen. Angesichts dieser Lage riet der Anwalt seiner Schwester zu einem Vergleich, falls die Letten bereit wären, überhaupt einen zu schließen, aus welchen Gründen auch immer, was 1932 freilich wenig wahrscheinlich. Dieses schwache nachgiebige und tief gedemütigte Deutschland der Weimarer Republik war eben leider auch kein Verbündeter in diesem Streit. Das zuständige Reichsministerium des Äußeren vertröstete, obschon es wie gesagt die aus den Kolonien Süd- und Ostafrikas vertriebenen Farmer entschädigte. Einar vertrat einige von ihnen gegen das Reichsentschädigungsamt, zähen alten Siedlern, denen die Summen zu gering ausfielen, die der deutsche Staat ihnen anbot. Moog hörte die Verhandlungen zwischen seinem Vater und der Tante gelegentlich mit an, ohne dass ihm die Tragweite dieses Streites aufging. Aber er begriff, dass ihnen etwas weggenommen worden war, etwas, dass Gewalt und Unrecht bedeutete. Und er bewunderte beide, den energischen Vater und die leidenschaftlich kühle Tante ...

      Neben Selbstdisziplin und Härte verband die Geschwister eine brennende Kampfes- und Arbeitslust. Moog fand weder seinen Vater noch die Sustschina jemals ohne Beschäftigung. Auch wenn sie nur grübelnd über Briefen und Prozessakten saßen und versuchten, diese störrischen Letten zur Herausgabe ihres Erbes oder belegbarer Legate zu bewegen, die der Stabskapitän zu Lebzeiten errichtet hatte. Hier ging es um alles, um Familienerbe, um Ehre und um Geschichte ...

      Die Witwe Sustschins besaß die deutsche Staatsbürgerschaft, wie auch ihr Bruder. Sie ließ sich Visitenkarten drucken und hieß nun Helga Katharina Baronin Sustschina-Einar. Von ihr ging eine alte unerschütterliche Zuversicht aus. Hochgewachsen wie ihr Bruder, mit geraden Schultern, einem schlanken Hals und dichtem dunklen Haar, in das sich breite silberne Strähnen zu mischen begannen, hatte sie die gefährlich aufblitzenden Augen der leicht Erregbaren, die sich durch eine Kraftanstrengung zur Ruhe zwingen. Sie war von unberechenbarem, unnahbarem Stolz, von einem eisigen Hochmut und der Schrecken des Hauspersonals, wie der Kanzlei. Da sie immer bestimmt hatte, war ihr herrschen zur Natur geworden; einzig ihren Bruder ließ sie gelten. An seinen politischen Zielen nahm sie nicht nur Anteil, sie verfocht sie noch bedingungsloser als er selber. Seine verzweigten Geschäfte und politischen Verstrickungen zwangen ihn oft genug zu pragmatischen Entschlüssen, was er selber als ein mit der Politik verbundenes Übel betrachtete: Politik ist Schicksal, lautete sein Wahlspruch. Er hasste die parlamentarische Demokratie, die ihm als Mandatsträger Immunität sichert; er verabscheute den Parteienstaat. Seit er das Reichstagsmandat errungen hatte, musste er überdies auch noch gewisse Rücksichten auf die Empfindlichkeiten manch eines seiner Mitstreiter nehmen, zumal auf den einen, Strasser, den Vorsitzenden der Fraktion, einer Macht in der Partei und ein Intrigant ...

      Als Anwalt neigte er eher zum außergerichtlichen Vergleich, wo er sich zivilrechtlich betätigte, was seltener geworden war, und wenn eine gerichtliche Entscheidung gegen seinen Antrag ausfallen konnte, ließ er sich mäßigend hören; in der Fraktion scheute er den langen Streit. Moog entsann sich eines Tages, als sie dem Führer vorgestellt worden waren, der sich aus Anlass einer Parteikontroverse kurzfristig in Berlin aufgehalten hatte. Sie trafen ihn in einer Stube des Hotel Kaiserhof, seinem Berliner Hauptquartier; der Führer saß an einem kleinen Tisch, umgeben von zahlreichen Leuten, Männern und Frauen, und der Anwalt reichte ihm verschiedene Papiere zu. Aber der Führer drehte die Akten unschlüssig, was er damit tun sollte, hin und her, und reichte sie dem Anwalt zurück. Frank solle es sich ansehen, entschied er. Dann hatte sich Einar vorgebeugt und dem Führer etwas zugeflüstert, worauf dieser den Kopf zu ihnen wendete; die Sustschina und er, Moog, traten heran. Laut hatte der Anwalt gefragt, ob er sich erlauben dürfe, dem Führer Schwester und Sohn vorzustellen? Der Führer erhob sich und machte eine Verbeugung, in vollendeter Höflichkeit, sagte der Baronin mit leiser Stimme ein freundliches Wort, strich ihm, Moog, mit der Hand über den Schopf, und lud sie mit einer Armbewegung zum Sitzen ein. Es war eine private Begegnung; in dem Gespräch, das der Führer mit der Sustschina führte, war von ganz normalen Dingen die Rede, vom Wetter, von Autos und von Pferden und der Führer bedauerte, wenig von diesen schönen edlen Rassetieren zu wissen. Dann trat ein Mann an den Tisch und beendete diese Begegnung. Der Führer erhob sich und sagte wie bedauernd: »Meine Parteigenossen ... «

      In den Tagen nach diesem unerwarteten Höhepunkt hatte sich die Tante in sich zurückgezogen, um das Erlebnis dieser Begegnung zu verarbeiten. Sie sprach später selten über ihre Empfindungen; der Anwalt schwieg übrigens zu den gelegentlichen euphorischen Äußerungen seiner Schwester über den Eindruck, den der Führer auf sie gemacht hatte. Ihre Hingebung an den von ihr sehr verehrten Mann, einer Lichtgestalt, schien der Anwalt nicht ganz zu teilen. Frauen empfinden anders, ward ihm vom Vater auf seine Frage geantwortet worden. Moog hatte lediglich die Erinnerung an einen körperlich nicht sehr großen und ziemlich zerstreuten Mann bewahrt, der in Eile war ...

      Während


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