Die schönsten Weihnachtsgeschichten I. Charles Dickens

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Die schönsten Weihnachtsgeschichten I - Charles Dickens


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wenn ich könnte«, sagte sie. »Der Himmel weiß es! Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie stark und unwiderstehlich sie sein muß. Aber wenn du heute oder morgen oder gestern frei wärest, soll ich glauben, daß du ein armes Mädchen wählen würdest, du, der selbst in den vertrautesten Stunden alles nach dem Gewinn taxierst? Oder soll ich mich betören, daß selbst, wenn du für einen Augenblick deinem einzigen leitenden Grundtrieb untreu werden könntest, du sicher einst Enttäuschung und bitteres Bedauern fühlen würdest? Nein; und deswegen gebe ich dir dein Wort zurück. Aus vollem Herzen, um der Liebe willen zu dem, der du einst warst.«

      Es drängte ihn zu sprechen, aber mit abgewandtem Gesicht fuhr sie fort: »Vielleicht – der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast hoffen – wird es dich schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und du wirst dann die Erinnerung daran auslöschen, freudig wie die Gedanken eines unrentablen Traums, von dem zu erwachen es dich beglückte. Mögest du auf dem von dir gewählten Lebensweg glücklich werden!«

      Sie verließ ihn, und so trennten sich ihre Wege.

      »Geist«, sagte Scrooge, »zeige mir nichts mehr, führe mich nach Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?«

      »Noch ein Schatten«, rief der Geist aus.

      »Nein«, bat Scrooge. »Nein! Ich möchte keinen mehr sehen. Zeige mir keinen mehr.«

      Aber der unnachsichtige Geist hielt ihn mit beiden Händen fest und zwang ihn zu betrachten, was jetzt erfolgte.

      Sie waren nun an einem andern Ort, in einem Zimmer, das war nicht sehr groß oder schön, aber recht behaglich. Neben dem Kamin saß ein schönes junges Mädchen, so ähnlich jener, die Scrooge zuletzt gesehen hatte, daß er glaubte, es sei dieselbe, bis er sie, jetzt eine freundliche Dame, der Tochter gegenübersitzen sah. Der Lärm in dem Raum war wahrhaft tumultuarisch; denn es waren mehr Kinder darin, als Scrooge in seiner Aufregung zählen konnte; und hier führten sich nicht vierzig Kinder wie eins auf, sondern jedes Kind wie vierzig. Die Folge davon war ein unbeschreiblicher Lärm. Aber niemand schien sich darum zu kümmern; im Gegenteil, Mutter und Tochter lachten herzlich und freuten sich darüber. Die letztere, die sich bald in die Spiele mischte, wurde von den kleinen Schelmen gar arg umwirtschaftet. Was hätte ich darum gegeben, eines dieser Kinder zu sein, obwohl ich niemals so unartig gewesen wäre. Nein, nein! Ich hätte um alle Schätze der Welt diese Locken nicht zerdrückt und zerwühlt; und hätte es gegolten, mein Leben damit zu retten, so hätte ich diese lieben, kleinen Schuhe nicht abgezogen. Im Spiel ihre Taille zu messen, wie das verwegene junge Gemüse es tat, hätte ich nicht gewagt. Ich hätte geglaubt, mein Arm würde zur Strafe krumm und nie wieder gerade werden. Und doch, wie gern, ich gestehe es, hätte ich ihre Lippen berührt; wie gern hätte ich sie gefragt, damit sie sich geöffnet hätten. Wie gern hätte ich die Wimpern dieser gesenkten Augen betrachtet, ohne ein Erröten hervorzulocken; wie gern hätte ich dieses wallende Haar gelöst, von dem ein Zoll ein unbezahlbarer Schatz gewesen wäre. Kurz, wie gern hätte ich das kleinste Vorrecht eines Kindes gehabt, dabei aber Mann genug sein mögen, um dessen Wert zu erkennen.

      Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Tür vernehmlich, das einen so allgemeinen Sturm auf sie hin veranlaßte, daß das Mädchen mit lachendem Gesicht und verwirrter Kleidung in der Mitte eines frohen, lärmenden Haufens nach der Tür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Hause kam, begleitet von einem Mann, der mit Weihnachtsgeschenken bepackt war. Aber nun das Gejubel und das Gedränge und der Sturm auf den wehrlosen Träger! Wie sie auf Stühlen an ihm emporkletterten, in seine Taschen lugten, die Papierpaketchen raubten, an seiner Halsbinde zupften, ihm auf den Rücken trommelten und an die Beine stießen – alles in unbändiger Freude! Dann diese Ausrufe der Bewunderung und des Vergnügens, mit denen der Inhalt jedes Päckchens begrüßt wurde! Der Schrecken bei der Überraschung dabei, daß das Wickelkind die Bratpfanne der Puppe in den Mund steckte, oder wohl gar das hölzerne Huhn samt der Schüssel verschluckt habe! Die große Befriedigung, wenn sie feststellten, daß es eine unbegründete Sorge gewesen! Welche Freude und welche Dankbarkeit und welches Beglücktsein! Das alles war über alle Begriffe. Es muß genügen, zu wissen, daß die Kinder samt ihrem Jubel endlich aus dem Zimmer kamen und zusammen eine Treppe hinaufgingen, wo sie zu Bett gebracht wurden.

      Und als jetzt Scrooge aufmerksamer als früher sah, wie der Herr des Hauses, die Tochter liebkosend ihm zur Seite, sich mit ihr und ihrer Mutter an seinem eigenen Kamin niedersetzte; und wie er sich ausmalte, daß ein ebenso liebliches und vielversprechendes Wesen ihn hätte Vater nennen und gleichsam zu einem Frühling in dem öden Winter seines Lebens hätte werden können, da wurden seine Augen recht trübe.

      »Bella«, sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner Frau wendend, »ich sah heute nachmittag einen alten Freund von dir.«

      »Wen denn?«

      »Rate.«

      »Wie kann ich das? Doch, jetzt weiß ich«, fügte sie sogleich hinzu, lachend, wie er lachte. »Mr. Scrooge.«

      »Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Kontorfenster vorüber; und da kein Laden davor war, und Licht drin angezündet war, konnte ich ihn beinahe sehen. Sein Kompagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er saß allein dort. Ganz allein in der Welt, glaube ich.«

      »Geist«, sagte Scrooge mit bebender Stimme, »führe mich fort von hier!«

      »Ich sagte dir, daß dieses Schatten gewesener Dinge seien«, sagte der Geist. »Gib mir nicht die Schuld, daß sie so sind, wie sie sind.«

      »Führe mich weg«, rief Scrooge. »Ich kann es nicht ertragen.«

      Er wandte sich an den Geist, und als er sah, daß er ihn mit einem Gesicht anblickte, in dem sich auf eine seltsame Weise einzelne Züge all der Gesichter zeigten, die er gesehen hatte, rang er mit ihm.

      »Laß' mich, führ' mich fort. Umspenstere mich nicht länger.«

      In dem Kampfe, wenn das ein Kampf genannt werden kann, in dem der Geist ohne wahrnehmbaren Widerstand seinerseits durch Anstrengungen seines Gegners nicht gestört war, bemerkte Scrooge, daß das Licht auf seinem Haupte hoch und hell brannte. In einem dunklen Instinkt brachte er jenes Licht mit des Geistes Einfluß auf sich in Zusammenhang und ergriff den Lichtauslöscher und stülpte ihn auf des Geistes Haupt.

      Der Geist sank darunter zusammen, so daß der Lichtauslöscher seine ganze Gestalt bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit ganzer Kraft niederdrückte, konnte er das Licht nicht verbergen, das darunter hervorströmte und mit hellem Schimmer den Boden überflutete.

      Er fühlte sich sehr erschöpft und von einer unwiderstehlichen Müdigkeit befallen, und er war sich bewußt, daß er in seinem eigenen Schlafzimmer war. Er gab dem Lichtauslöscher noch einen Druck zum Abschied und fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, als er auch schon in tiefen Schlaf sank.

      Drittes Kapitel

      Der zweite der drei Geister

      Als Scrooge mitten in einem tüchtigen Geschnarch aufwachte, richtete er sich im Bett empor, um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal brauchte ihm niemand erst zu sagen, daß die Glocke zum Schlage eins ausholen wollte. Er fühlte, daß er gerade zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zweck erwacht sei, um eine Unterredung mit dem zweiten an ihn durch Jakob Marleys Vermittlung abgesandten Boten zu führen. Aber bei dem Gedanken, welche von den Bettgardinen das neue Gespenst wohl zurückziehen würde, überlief es ihn kalt, und er schlug sie eigenhändig zurück. Dann legte er sich wieder nieder und beschloß, rund um das Bett scharfe Ausschau zu halten. Er wollte den Geist im Augenblick seiner Erscheinung anreden und wünschte nicht, überrascht und nervös gemacht zu werden.

      Leute von freier und leichter Natur, die sich schmeicheln, es schon mit etwas aufnehmen zu können und immer auf dem Platze zu sein, betonen ihre weitreichenden Fähigkeiten dadurch, daß sie erklären, sie wären zu allem imstande, vom Brotessen bis zum Menschenverschlingen, zwischen welchen beiden Extremen ohne Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zum Erweisen ihrer Kräfte liegt. Ohne gerade zu behaupten, daß Scrooge es soweit gebracht hätte, muß ich doch den Leser ersuchen, mir zu glauben, daß er auf eine recht stattliche Auswahl von Erscheinungen gefaßt


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