Der Medizinmann. Roland Reitmair
Читать онлайн книгу.ich ging zur Strafe leer aus.
Nach diesen Querelen war ich froh, endlich in die Schule zu kommen, obwohl diese nur unweit des Kindergartens lag und ich so weitere vier Jahre an den verhassten Tauben vorbei sollte – und obwohl viele der mich hänselnden Kinder auch in die Schule wechselten.
Aber die bösen Tanten war ich los. Außerdem war die „schöne“ Gabi Gott sei Dank in der Parallelklasse…
Das Schulgebäude war ein alter Gründerzeit-Bau. Garderoben befanden sich ebenerdig hinter einer modernen, gläsernen Flügeltür. Zu den Klassen im Stockwerk darüber gelangte man über eine breite Treppe. Die Räume dort waren hoch, die Türen groß und aus schwerem Holz. Ich war damals eine ziemlich kleine Maus, dünn und einen Kopf kleiner als die Mitschüler. Die Türschnallen erreichte ich nur auf Zehenspitzen, aber dann konnte ich die schweren Türen nicht öffnen. Anfangs musste mich daher die Lehrerin immer aufs Klo begleiten.
Alles in allem gefiel es mir aber gar nicht schlecht. Ein Nachbarsjunge, der vorher einen anderen Kindergarten besucht hatte, saß nun mit mir in derselben Klasse. Zu zweit ist man gleich mutiger und da hat dann auch diese unselige Fabrikmauer ihre Schrecken verloren. Wir hielten uns die Hand und johlten laut, wenn wir unbekleckst vorbei waren. Am Heimweg küssten wir uns manchmal hinter der Fabrik. Patrick hieß er. Der erste Junge, der mein Interesse weckte. Unsere Eltern bemerkten es und hatten ihren Spaß daran.
Wenn man so will, war er meine erste große Liebe.“ Gabi lachte. „Im Winter allerdings biss er sich beim Schifahren durch die Unterlippe. Die Wunde entzündete sich und eiterte. Da war es dann vorbei damit. Ich ekelte mich und hielt mich von ihm fern…
Vater war in dem Jahr kurz arbeitslos. Eine neue Anstellung fand er in Linz. Wir sollten alle mit nach Linz, übersiedeln.
In der Familie gab es Vorbehalte. Meine Geschwister wollten nicht weg. Mir war es egal. Nein. Mir kam diese Übersiedlung gerade recht – weg von Wien, von Patrick und seiner Eiterwunde, weg vom Taubendreck. Und niemand würde mir mehr „Taubendreck-Gabi“ hinterher rufen.
Außerdem lebte die Oma in der Nähe von Linz. Und meine Oma mochte ich sehr.
Allerdings war Oma nicht mehr gut beisammen, wie Vater uns erklärte. Sie ging in ein Heim, und wir bezogen ihr Haus. Jenes Haus, in dem wir schon oft den Urlaub verbracht hatten. Ich freute mich – auf die Wiesen und Felder, auf meine Cousins und Cousinen.
Das Haus stand am Eck einer Reihenhauszeile und hatte einen großen Garten. Das war auch für meine Geschwister der Pluspunkt zu Wien, zur engen Wohnung.
Neben der kleinen Siedlung waren nur Au und Wiesen, rund um einen riesigen, frei dastehenden Vierkanthof… Da wuchsen Krokusse, Leberblumen und Schlüsselblumen, später im Sommer leuchtend gelber Löwenzahn. Bis zum Sportplatz am Stadtrand stand kein einziges Haus.
Jetzt schaut alles ganz anders aus. Ich war vor kurzem dort… alles zugepflastert. Der kleine Schiberg ist weg und auch der Wald. Der Vierkanter steht noch, aber inmitten eines total verbauten Gebietes.
Omas Haus war so ein altes Hitler-Siedlungshaus. Für Familien mit mehr als sechs Kindern gab es das damals im Krieg angeblich geschenkt. Es hatte vielleicht 60 Quadratmeter, nicht mehr, und anfangs auch nur ein Plumpsklo über den Hof – da fürchtete ich jedes Mal hineinzufallen…
Im Winter war es saukalt in den Räumen. Man konnte das Haus kaum heizen. Die Fenster zierten wunderschöne Eisblumen...“
Gabi verstummte nachdenklich. Drehte ihren Weinkelch spielerisch zwischen Daumen und Zeigefinger.
Erst jetzt in Gabis Denkpause fielen Glanzer zwei ältere Damen am Nachbartisch auf, die tuschelten und immer wieder herüber sahen. Entweder sie kannten ihn von irgendwoher, oder waren gar nicht schwerhörig und verstanden, was Gabi erzählte. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Gabi nahm ihre Erzählung wieder auf.
„In der Nähe von Omas Haus war ein Spielplatz mit einer großen Sandkiste. Am liebsten spielte ich Sandkuchen backen. Füllte alle möglichen Formen mit Sand und stürzte diese dann umgedreht auf ein imaginäres Backblech… Sicher, ich war damals schon sieben und damit eigentlich bereits zu alt für Sandkuchen… aber es machte mir einfach Spaß.
Michael, mein späterer Mann, kam daher. Damals – wie gesagt – noch ein lästiger Rabauke. Er wohnte auch in der Siedlung, besuchte mit meiner großen Schwester die gleiche Klasse. Michael war drei Jahre älter, eigentlich nett, aber so ein Angeber. Damals hänselte er mich ständig – ich war ein leichtes Opfer…
‚Na – immer noch Jungfrau?’, fragte er zum Beispiel öfters. Ich wusste damals natürlich noch nicht, was das ist. Ich kannte nur die Jungfrau Maria – und so was war ich nicht, also verneinte ich vehement.“ Gabi schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Er war so ein Depp …
Einmal brachte er mir dieses fürchterlich dumme Lied bei – „Peter, Peter steht er dir? Steht er nicht, dann wackelt er...“
Ob er über diese Dinge damals schon Bescheid wusste…? Hmm. Weiß nicht.
Darüber hat er nie geredet. Auch später nicht. Ich hab ihn sogar einmal danach gefragt. Da hat er sich ausgeschwiegen. Seine Eltern und sonstigen Verwandten kannten – glaube ich – nicht viele Tabus. Dort wird Michael eben so manches gesehen oder aufgeschnappt haben und mich hat er dann damit geärgert…
Einmal kam er mit einer selbst für ihn seltsamen Laune daher. Im Nachhinein hab ich das natürlich alles verstanden, aber damals? Er musste total verstört gewesen sein. Er war aus der Wohnung geschickt worden, weil er, wie er sagte, „beim Ficken gestört“ hätte… Ich hatte keine Ahnung wovon er sprach und wollte sicher auch nichts davon wissen. Mich interessierten meine Sandkuchen und nicht seine Geschichten, sein Blödsinn – mit dem er mich immer verunsicherte und ärgerte.
Sogar den großen Eimer, den ich mit extra feuchtem Sand gefüllt hatte, konnte ich erfolgreich stürzen. Voller Stolz beanspruchte ich wohl die ganze Sandkiste und war ihm im Weg, oder vielleicht fühlte er sich dadurch doppelt ignoriert und brauchte einfach einen Blitzableiter. Jedenfalls zerstörte Michael meine Backwerke in wenigen Sekunden. Da weinte ich.
„Du blöde Heulsuse“, sagte er, „mit sieben noch Sandkuchen backen und wegen dem Scheißdreck auch noch weinen!“ Er lachte laut und rief immer wieder: „Dummes, kleines Sandmädchen, dummes kleines Sandmädchen…“
Eine schmerzliche Erfahrung für eine Siebenjährige, der Zerstörungswut eines Zehnjährigen machtlos ausgeliefert zu sein. Klar, Sandkuchen sind nicht für die Ewigkeit gedacht, aber ich fühlte mich sehr an Wien erinnert, an die „Taubendreck-Gabi“ und war zu tiefst verletzt.“
2
Gabi holte wieder die Zigaretten hervor, hielt sie Glanzer fragend hin. Auf sein Kopfschütteln, „ich rauche nicht, danke“, zögerte auch sie, klopfte dann aber doch eine aus der Packung, steckte sie an.
„Man sagt immer Erfahrungen machen klug, ich hab aber nichts daraus gelernt. Für mich waren der Michael aus der Sandkiste und jener hübsche junge Mann, der dann mit seinen dreiundzwanzig Jahren braungebrannt aus der Karibik zurückkehrte, zwei verschieden Personen.“
Die Kellnerin kam schnellen Schrittes zum Tisch, legte den Kopf schief, lächelte. „Passt alles? Haben sie noch Wünsche?“ Ihre großen unschuldigen Augen streiften dabei Glanzers feinen Anzug. „Noch einen Tee bitte“, bestellte er und schaute Gabi fragend an. „Noch einen Wein…“ Ihre Stimme klang verhalten, fast abschätzig. „Gerne“, nickte die Kellnerin und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Michael wohnte unweit von uns und war, wie gesagt, Klassenkamerad meiner älteren Schwester. Mit sechzehn begann er eine Kochlehre. Nach der Abschlussprüfung ging er weg. Wollte die Welt sehen. Wurde Frühstückskoch auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik.
Viel hörten wir nicht von ihm in dieser Zeit, eigentlich gar nichts – was ich darüber weiß, habe ich erst viel später von ihm selbst erfahren.
Er