GEN CRASH. Peter Schmidt

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GEN CRASH - Peter Schmidt


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Diensten Altenheime und Pflegeanstalten für geistig Behinderte machen."

      "Klingt mir etwas zu pessimistisch, Jakob. Sie werden nie ganz auf uns verzichten können."

      "Manchmal glaube ich, ich hätte nur geträumt. Was ist aus unseren großen Vorstellungen von Politik geworden? Unseren Idealen. Dort die Mauer mit den Teufeln und hier die glanzvollen Ritter ohne Furcht und Tadel, die sie das Fürchten lehren werden. Da kommt ein einzelner Mann im Schafspelz aus dem hintersten Winkel der Republik, legt sich ein wenig mit altbekannter Rhetorik und kleinen politischen Geschenken ins Zeug, die ihn wenig kosten, ganz im Gegenteil, er entrümpelt nur sein Haus damit – und schon glauben wir ihm, Addi, werfen wir die Schwerter weg und werden zu Friedensengeln. Fünfzig zu fünfzig, vielleicht sogar weniger, stehen seine Chancen, dass er politisch überleben wird. Vom Erfolg seiner Wirtschaftsreformen ganz zu schweigen. Und wie viel Durcheinander hat er schon im eigenen Laden angerichtet?"

      Ich setzte mich auf einen der Hocker, die zwischen den Bücherregalen und einer Sendung afrikanischer Bildbände über die Serengeti standen. Das Plakat an der Wand zeigte eine traurig dreinblickende Giraffe. Beil lehnte neben der hohen Bibliotheksleiter, sein Gesicht gedankenverloren der Decke im Lagerschacht zugewandt; wegen des schwachen Lichts war nicht zu erkennen, wo ihre letzten Sprossen endeten.

      "Gibt es Nachrichten, Jakob?"

      "Irgend etwas ist im Gange."

      "Große Sache?"

      "Sehr große."

      "Schon eine kleine Interpretation auf Lager?"

      "Wie man's nimmt."

      "Ich frage aus persönlichem Interesse."

      "So? Doch nicht, weil dein eigener Stuhl wackelt? Forum ist ohne dich ein Nichts. Das gäbe einen prächtigen Offenbarungseid, wenn man dich aus dem Dienst entfernte, Adrian! Er müsste Farbe bekennen, er müsste vor aller Welt eingestehen, dass er ein elender Stümper ist."

      "Schafspelz – sagt dir der Name was?"

      Beil fuhr sich über den kahlen Hinterkopf, doch seine Hand löste sich sofort wieder, als finde sie dort keine Ruhe, und schraubte sich dem unsichtbaren Leiterende entgegen. "Ein Teil des Materials, das über den großen Teich kommt, macht hier immer noch Zwischenstation. Die Dechiffrierung liegt beim Adressaten, wie in alten Zeiten. Hält man dich etwa an der kurzen Leine?"

      "Ist ausnahmslos alles chiffriert, was durch deine Hände geht?"

      "Ein paar Krumen fallen immer mal wieder für den Postboten ab."

      "Was Verdauliches dabei?"

      "Topsecret. Man erkennt's an der Art der Verschlüsselung."

      "Du machst mich wirklich neugierig."

      "Welches andere Vergnügen haben wir denn noch? Vorgestern waren Luise und ich im Van-Gogh-Museum. Wir standen vor den Bildern und fragten uns, warum ein Mann, der es nicht unter seiner Würde fand, sich selbst ein Ohr abzuschneiden, plötzlich so hoch gehandelt wird, dass man jeden seiner Pinselstriche mühelos vergolden könnte. Wir kamen zu keinem Ergebnis. Seine Welt ist grau und ziemlich verrückt. Von all den leuchtenden Farben der Reproduktionen bleibt wenig übrig, wenn man sich die Originale ansieht. Luise und ich wurden sehr nachdenklich, wir dachten darüber nach, was wir eigentlich verkehrt gemacht hatten – wo liegt der Fehler, Adrian?"

      "Vielleicht wird deine Arbeit später einmal von den Historikern als Bastion der Freiheit angesehen werden. Als ein wichtiger Stein im Mauerwerk – das Fundament ist ausschlaggebend für die Stabilität des Gebäudes, sonst würde es zusammenstürzen."

      "Laufburschenarbeit ich war nicht mal Maurer, wenn wir schon im Bilde bleiben wollen. Man wird mich in der Luft zerreißen, falls ich überhaupt wahrgenommen werde."

      "Das Iran-Contra-Geschäft", sagte ich, um ihn ein wenig aufzumuntern. "Eine Tat von historischer Bedeutung, wenn sie auch in die Hose gegangen ist, weil ein paar Plappermäuler sich wieder mal zu wichtig vorkamen. Ohne deine Hilfe wäre sie ein Torso geblieben. Na gut, vergessen wir lieber, was die Öffentlichkeit darüber denkt, das alles setzt politisches Urteilsvermögen voraus – Abwägen von Vor- und Nachteilen."

      "Ich spielte nur eine ganz unbedeutende Rolle dabei. Ich hielt die Lampe, sozusagen."

      "Meines Wissens warst du sogar mal als Dolmetscher bei einem Geheimtreffen mit Ortega im Gespräch? Als die Contras ihre Waffen niederlegen sollten?"

      "Nur weil ich akzentfrei spanisch spreche", sagte er geschmeichelt. "Sie brauchten dringend einen Neutralen. Die Amerikaner waren dem Commandante nicht gut genug, aber dann wurde der Kuhhandel abgeblasen. In der Öffentlichkeit gab es Gerüchte, und die beste Übersetzung taugt nicht mehr viel, wenn das Ergebnis schon ein paar Tage vorher in den Zeitungen zu lesen war."

      Es klang, als habe die internationale Politik nicht genügend Rücksicht auf den Wert seiner Übersetzung genommen. Wir sind alle unverbesserliche Egozentriker, die Weltgeschichte sollte sich nur um uns allein drehen, aber womöglich tut sie das ja auch.

      Ich nahm eines der angestaubten Bücher vom Stapel, eine ältere Ausgabe von Nabokovs Lolita, und blätterte darin. Hinter der ersten Seite von "Zweiter Teil" waren drei hauchdünn mit Bleistift geschriebene Zahlen zu lesen. Man musste sich anstrengen, um sie im Licht der Wandlampen entziffern zu können: zweiundneunzig, einundvierzig, achtzig …

      "Immer noch die alten Methoden der Informationsübermittlung, Jakob?"

      Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei mein Spott ganz unangebracht. "Es gibt modernere Wege heutzutage. Satelliten-Richtfunk auf schwer zu knackenden Trägerfrequenzen um 15 GHz. Fingernagelgroße Chip-Speicher, die sich selbst zerstören würden, wenn ein Unbefugter sie in die Finger bekäme. Ein Messauge auf der Erde liest, was per Laserstrahl von einem Satelliten weitergegeben wurde, der wiederum ein tennisballgroßes Stück Information auf der Erde analysiert, das, mit einer entsprechend codierten Markierung versehen, ganz einfach irgendwo in die Landschaft geworfen wurde – darauf läuft die Entwicklung hinaus, Adrian. Man schmeißt eine leere Zigarettenschachtel aus dem fahrenden Zug, und der Kontakt ist hergestellt. Dann setzt man sich wieder in den Speisewagen und genießt sein Soufflé. Aber dies hier", sagte er und klopfte so heftig auf den Bücherstapel unter der Leiter, dass Staubwolken aufflogen, "ist nun mal die gute alte Klassik."

      "Wie steht's mit einem Kaffee im Omartje?"

      "Als Bestechung?" Ein vielsagendes Lächeln zog über sein Gesicht, das schlitzäugige Grinsen des orientalischen Basarhändlers, und ein großer orientalischer Basar war diese Stadt ja schließlich auch. "Keine Sorge, wir werden uns bestimmt handelseinig."

      "Großer Gott", seufzte ich. "Ich dachte eigentlich, ein Kaffee würde reichen?"

      Er griff nachdenklich ins Regal, als spiele er mit dem Gedanken, sein Marihuanapfeifchen anzuzünden – die altbekannte Verzögerungstaktik, um den Kaufpreis hochzutreiben. Dann schüttelte er den Kopf, nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem großen Bildband am unteren Ende des Stapels und steckte es bedeutungsvoll grinsend ein. Ich bekam nur mit, dass es wie ein Grundriss aussah. Seine Wangen hatten eine frische, rosige Farbe bekommen. Es war wie in guten alten Zeiten. Geheimdienstarbeit regt die Blutzirkulation an.

      "Lass uns erst mal an die frische Luft gehen, Adrian, hier drinnen verrottet mein Gehirn."

      Wir gingen die Gracht an der Bibliothek entlang und bogen in die ruhigere Huidenstraat ein. Beil hatte einen dünnen braunen Ziegenledermantel übergeworfen, er verdeckte vorteilhaft seinen Bauchansatz, darunter war sein blauer Arbeitskittel zu erkennen. Gegenüber auf der Insel sah man die erleuchteten Fenster der Lesesäle. Das Universitätsgebäude mit seinen angeketteten Fahrrädern lag hinter uns, und die Straßen wurden leerer. Dafür waren die Bäume und Vordächer voller Möwen – ihre Schreie gingen mir auf die Nerven.

      "Man munkelt, sie hätten einen Mann im Allerheiligsten", sagte er plötzlich in das Geschrei der Möwen hinein.

      Ich blieb stehen und blickte mich nach den Passanten am Brückengeländer um. Ein junges Pärchen,


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