Der Schrei des Subjekts. Franz Josef Hinkelammert

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Der Schrei des Subjekts - Franz Josef Hinkelammert


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Aber Jesus verurteilt die Frau nicht, obwohl er die Gültigkeit des Gesetzes nicht bestreitet.

      Die Ehebrecherin, die in den Augen Jesu gesündigt hat, hat aber nicht jene Sünde begangen, gegen die Jesus sich gerade auflehnt. Sie sündigt nicht, weil sie “von der Welt” ist. Von der Welt zu sein, ist nicht der Grund für den Ehebruch, so wie der Grund auch nicht ist, nicht von der Welt zu sein. “Von der Welt” zu sein bedeutet den Haß gegen jeden Gesetzesverletzer, und spezifisch gerade gegen denjenigen, der das Gesetz verletzt, weil er nicht “von dieser Welt” ist. Die Welt, indem sie von der Welt ist, haßt daher Jesus, der das Gesetz verletzt, weil er nicht von dieser Welt ist. Die Ehebrecherin hingegen hat überhaupt keinen Grund, Jesus zu hassen und haßt ihn daher auch nicht. Die andern hingegen, die weggegangen sind, sind von der Welt. Sie zeigen es dadurch, daß sie die Ehebrecherin töten wollen. Sie sind von der Welt gerade dadurch, daß sie das Gesetz erfüllen wollen. Die wahre Sünde, gegen die Jesus aufsteht, ist die Steinigung der Gesetzesverletzerin und diese Sünde erfüllt das Gesetz, das sie verletzt hat. Auf diese Weise ergibt sich eine Sünde, die die Sünde der Autorität und des Gesetzes ist. Sie wird der Gesetzesbrecherin gegenüber getan und ist in den Augen Jesu die größere Sünde.

      Diese Erzählung ist in der gesamten späteren Geschichte des Christentums bis heute als Skandal empfunden worde, sodaß es ständige Versuche gibt, sie aus dem Evangelium herauszunehmen oder ihren Ursprung zu bezweifeln. Dabei werden insbesondere zwei Argumente benutzt:

      Zum ersten weißt man darauf hin, daß der griechische Stil des Textes verschieden ist vom Stil des restlichen Evangeliums. Daraus wird dann geschlossen, daß es sich um einen späteren Einschub handeln müsse. Dieses Argument ist sehr schwach aus dem Grunde, daß, wenn es sich um einen Einschub handelt, dieser Einschub natürlich von Johannes selbst stammen kann. In diesem Falle hätte Johannes einen Text einfach so genommen, wie er ihn vorfand und in seinem Evangelium benutzt. Daß ein solch skandalöser Text später und zwar vom 3. Jahrhundert an eingefügt sein sollte, entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit. Je mehr das Christentum zu einer neuen Gesetzesreligion wurde, umso mehr mußte dieser Text gerade als Störungselement empfunden werden.

      Zum zweiten verweist man darauf, daß in der ersten aufgefundenen Kopie gegen Ende des zweiten Jahrhunderts diese Erzählung nicht vorkommt. Aber die ersten aufgefundenen Kopien sind alle sehr bruchstückhaft. Die erste vollständige Kopie hingegen enthält diese Erzählung. Diese Situation ist ohne weiteres erklärbar ohne die Hypothese eines späteren Einschubs. Die Erzählung kann an anderen Stellen gestanden haben, könnte aber bereits in einigen Varianten ausgelassen worden sein, da sie von vielen Orientierungen des Christentums her bereits in früher Zeit als Skandal erschien.

      Ich gehe daher davon aus, daß diese Erzählung tatsächlich aus dem Ursprung des Evangeliums selbst stammt, aber sehr bald umstritten wurde. Hinzu kommt, daß sie völlig den Vorstellungen des Restes des übrigen Evangeliums entspricht und daher im Gesamtzusammenhang des Evangeliums in keinem Sinne einen Fremdkörper darstellt. Auf der andern Seite ist leicht verständlich, daß man gerade diese Erzählung unterdrücken will, denn sie gibt auf besonders plastische Weise das Verhältnis Jesu zum Gesetz wieder.

      Dabei ist wichtig, daß diese Erzählung herausstellt, daß die Sünde, “von der Welt” zu sein, bei Johannes eben keine sinnliche Sünde oder gar sexuelle Sünde ist, sondern in Erfüllung eines Gesetzes begangen wird und sich daher gerade gegen die Sinnlichkeit richtet. Ich glaube, da dies bei Johannes sehr bewußt ist. Bei Johannes stammt die Sünde nicht aus der Sinnlichkeit, sondern aus der Gesetzlichkeit. Er zeigt dies bereits am Anfang des Evangeliums anläßlich des ersten Auftritts Jesu im öffentlichen Leben. Bei den Synoptikern ist der erste Auftritt Jesu ein höchst feierlicher Moment, in dem Jesus ganz ausdrücklich seine religiöse Mission vertritt. Bei Johannes ist das ganz anders. Da ist es die Teilnahme Jesu an einem großen Hochzeitsfest. Die Geschichte erzählt, daß bei diesem rauschenden Fest der Wein ausging. Jesus tat daher sein erstes Wunder, von dem Johannes berichtet und verwandelte Wasser in Wein, sodaß das Fest weitergehen konnte. Johannes gibt die Zahl der Wassergefäße an und man hat geschätzt, daß es sich um etwa 700 Liter Wein handelte.

      Eine solche Geschichte ist natürlich ähnlich skandalös für alle späteren puritanischen Äußerungen des Christentums. Aber es handelt sich um Wein, nicht um Sexualität. Daher ist sie immer noch eher annehmbar, obwohl sie ständig uminterpretiert wurde im Sinne eines symbolischen Verständnisses, der gemäß Jesus zwar auf diese Hochzeit ging, aber symbolisch gesehen auf einer ganz andern Hochzeit tanzte.

      Die Erzählung von der Ehebrecherin ist einfach die andere Seite dieses Ausgangspunktes des Johannes von der Sinnlichkeit her. Innerhalb seines Arguments scheint mir die Betonung dieses Ausgangspunktes notwendig zu sein. Nicht “von der Welt” sein richtet sich nicht gegen die körperliche, sinnliche Welt, sondern gegen die Welt, die im Namen der Erfüllung des Gesetzes die Sünde begeht. Es ist die Sünde, die der Mensch als Autorität in Erfüllung des Gesetzes begeht.

      Dieser Hochzeit als erstem Auftritt Jesu in der Öffentlichkeit folgt sein zweiter Auftritt im Tempel mit der Reinigung des Tempels. Hier ist dann die Richtung gegen die Gesetzlichkeit, in deren Erfüllung die Sünde begangen wird, der eigentliche Gegenstand.

      Das Problem von Johannes ist daher das Gesetz, nicht die Sinnlichkeit. Im Evangelium stellt er dies auch noch in einem andern Zusammenhang dar, nämlich angesichts der Geschichte von einem anderen Wunder, näamlich der Heilung eines Blinden:

      “Und im Vorbeigehen erblickte er einen Menschen, der von Geburt an blind war. Und seine Jünger fragten ihn: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern.” (Joh 9, 1-2)

      Hier taucht jetzt im naturalistischen Gewande wieder die Vorstellung auf, daß im Zentrum des Lebens und der Sünde die Gesetzesverletzung steht. Im Extrem wird Blindheit als Strafe für eine solche Sünde aufgefaßt. Die Erzählung geht daher weiter und Jesus heilt den Blinden. Jetzt aber wird der Geheilte verfolgt:

      “Nun nahmen sie ihn mit zu den Pharisäern, ihn, den ehemals Blinden. Es war aber Sabbat an dem Tage, an welchem Jesus den Teig gemacht und seine Augen geöffnet hatte. Wiederum fragten ihn nun die Pharisäer, wie er sehend geworden sei. Er sprach zu ihnen: Er hat einen Teig auf meine Augen gelegt, und ich habe mich gewaschen und nun sehe ich. Da sagten einige von den Pharisäern: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.” (Joh 9, 13-16)

      Jetzt hat Jesus das Gesetz verletzt, und seine Gegener klagen ihn an wegen dieser Gesetzesverletzung. Vorher hatte die Ehebrecherin das Gesetz verletzt. Jesus sagte, daß das eine Sünde ist, aber er verurteilt sie nicht. Sie sündigt, aber sie begeht nicht die Sünde. Die Sünde begehen diejenigen, die sie steinigen wollen und zwar in Erfüllung des Gesetzes. Es ist die Sünde, die man begeht, wenn man von der Welt ist. Jetzt aber verletzt Jesus das Gesetz. Diese Gesetzesverletzung aber gilt dem Johannes als legitim. Sie ist nicht deshalb legitim, weil es Jesus ist der das tut. Sie ist legitim, weil diese Gesetzesverletzung einen Kranken heilt. Das Gesetz darf sich nicht dem menschlichen Leben in den Weg stellen. Steht es ihm im Weg, verliert es seine Geltung. Es handelt sich nicht einmal um eine Extremsituation. Jesus hätte den Blinden schließlich genauso am Tag vor oder nach dem Sabbat heilen können. Hier wird das Leben ganz einfach über das Gesetz gestellt. Seine Gegner aber wenden sich gegen ihn im Namen der Erfüllung des Gesetzes. Jesus wirft daher die Sünde denen vor, die die Erfüllung des Gesetzes vertreten. Er tut dies mit sehr harten Worten:

      “Hierauf sprach Jesus: Zu einem Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend und die Sehenden blind werden. Das hörten einige von den Pharisäern, die bei ihm standen, und sagten zu ihm: Sind etwa auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. Eure Sünde bleibt.” (Joh 9, 39-41)

      Jesus wirft ihnen die Sünde vor. Das ist nicht das “sündige nicht mehr”, das er gegenüber der Ehebrecherin sagt, ohne sie zu verurteilen. Jetzt verurteilt er, denn es wird die Sünde begangen. Es ist die Sünde, die die Blindheit der Sehenden begeht. Es ist die Blindheit derer, die zu sehen glauben, aber nicht sehen.

      Jesus hat das Gesetz verletzt. Aber er hat es verletzt,


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