SIE. Henry Rider Haggard

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SIE - Henry Rider Haggard


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ich die Hände. Leo ertrunken, und ich am Leben, ihn zu betrauern!

      »Achtung«, schrie Job, »da kommt noch eine!«

      Ich drehte mich um; eine zweite riesige Woge brach über uns herein. Fast hoffte ich, in ihr umzukommen. Wie gebannt blickte ich ihr entgegen. Der Mond war jetzt von Wolkenfetzen fast verdeckt, doch sein Licht reichte aus, auf ihrem Kamm etwas Dunkles zu erkennen - einen Teil des Wracks, wie mir schien. Jetzt schlug sie über uns zusammen und füllte das Boot fast bis zum Rand mit Wasser. Doch dank der wasserdichten Abteile - der Himmel segne ihren Erfinder! - richtete es sich wieder auf wie ein Schwan. Durch die Gischt sah ich das schwarze Etwas auf der Woge auf mich zu stürzen. Ich hob den rechten Arm, um es abzuwehren, und da schloss sich meine Hand um einen anderen Arm, um ein Handgelenk, das ich mit aller Kraft umklammerte. Obwohl ich sehr kräftig bin, drohten das Gewicht und der Druck des treibenden Körpers mir fast den Arm auszurenken, und hätte die Sturzsee sich noch zwei Sekunden länger über uns ergossen, so hätte ich loslassen müssen oder wäre mitgerissen worden. Doch sie ging schnell vorbei, und wir standen bis zu den Knien im Wasser.

      »Ausschöpfen! Ausschöpfen!«, schrie Job und machte sich unverzüglich ans Werk.

      Ich konnte mich jedoch nicht sogleich ans Ausschöpfen machen, denn in diesem Augenblick fiel ein letzter Strahl des hinter Wolken verschwindenden Mondes auf das Gesicht des Mannes, den ich gepackt hatte und der jetzt, halb schwimmend, auf dem Boden des Bootes lag.

      Es war Leo! Die Woge hatte Leo zurückgebracht - tot oder lebendig, zurück aus den Klauen des Todes.

      »Ausschöpfen!«, schrie Job immer noch. »Sonst kentern wir!«

      Ich ergriff ein großes Zinngefäß, das unter einem der Sitze angebracht war, und wir schöpften zu dritt aus Leibeskräften. Der Sturm fegte über uns hinweg und schleuderte das Boot hin und her, und der Wind und die salzige Gischt blendeten und verwirrten uns, doch wir arbeiteten mit der wilden Lust der Verzweiflung. Eine Minute! Drei Minuten! Sechs Minuten! Langsam hob das Boot sich aus dem Wasser, und zum Glück brach keine weitere Woge über uns herein. Nach weiteren fünf Minuten war das Boot wieder einigermaßen klar. Plötzlich aber übertönte das schreckliche Geheul des Orkans ein dumpfes, tieferes Brausen. Großer Gott! Es war die Stimme der Brandung!

      In diesem Augenblick trat hinter der Bö der Mond wieder aus den Wolken hervor. Weit vor uns, jenseits des aufgewühlten Ozeans, fielen seine Strahlen auf einen dünnen Schaumstreifen, und dahinter sahen wir ein kurzes Stück gähnenden Dunkels, dem ein zweiter weißer Streifen folgte. Es war die Brandung, und ihr Tosen wurde immer lauter und klarer, während wir wie eine Schwalbe auf sie zuschossen. Kochend und schäumend lag sie vor uns wie ein Höllenrachen.

      »Ans Steuer, Mahomed!«, schrie ich auf Arabisch. »Wir müssen durch!« Zugleich ergriff ich ein Ruder und bedeutete Job, es mir gleichzutun.

      Mahomed kletterte nach hinten und packte das Steuer, und Job, der manchmal auf einem Fluss in der Heimat mit einem Boot gefahren war, steckte sein Ruder ins Wasser. In der nächsten Minute richtete sich der Bug des Bootes auf die Schaummassen, denen wir uns mit der Schnelligkeit eines Rennpferdes näherten. An der Stelle, auf die wir zurasten, schien die erste Brandungslinie etwas schmaler zu sein als rechts und links davon - anscheinend war dort eine Rinne mit tieferem Wasser. Ich drehte mich um und deutete darauf.

      »Steure gut, Mahomed!«, schrie ich. »Es geht um unser Leben!« Der Araber, ein geschickter, mit den Tücken dieser gefährlichen Küste wohlvertrauter Steuermann, umklammerte fest das Steuer, beugte sich weit vor und starrte mit weitaufgerissenen Augen auf das Höllengebrodel. Der Sog trieb den Bug des Bootes nach Steuerbord. Wenn wir fünfzig Meter rechts von der tieferen Stelle in die Brandung gerieten, waren wir verloren. Mahomed stemmte einen Fuß gegen den Sitz vor sich, und ich sah, wie seine braunen Zehen sich wie eine Hand spreizten, als er mit aller Kraft das Ruder herumriss. Das Boot machte eine kleine Schwenkung, doch sie reichte nicht aus. Ich brüllte Job zu, er solle Wasser schöpfen, während ich an meinem Ruder zerrte. Endlich gehorchte das Boot - keine Sekunde zu früh.

      Himmel, wir waren mittendrin! Es folgten Minuten nervenzerreißender Aufregung, die sich nicht schildern lassen. Ich entsinne mich nur noch eines brüllenden Schaumgebirges, aus dem da und dort Wellen emporstiegen wie Rachegeister aus ihrem Ozeangrab. Einmal wurden wir rundherum gewirbelt, doch entweder durch einen glücklichen Zufall oder durch Mahomeds geschicktes Steuern kam das Boot wieder in die richtige Lage, bevor eine Sturzwelle über uns zusammenschlug - ein wahres Ungeheuer. Wir rasten unter ihr hindurch, und dann schossen wir unter einem wilden Freudenschrei des Arabers über das verhältnismäßig glatte Wasser zwischen den beiden Brandungen.

      Indessen war das Boot bereits wieder halb voll Wasser, und kaum eine halbe Meile vor uns erhob sich die zweite Brandungswelle. Wieder machten wir uns daran, mit allen Kräften das Wasser auszuschöpfen. Glücklicherweise hatte der Sturm nachgelassen, und im hellen Mondschein erblickten wir ein über eine halbe Meile weit ins Meer hineinragendes Vorgebirge, dessen unter Wasser befindlicher Teil die Ursache dieser zweiten Brandungslinie zu sein schien. Das Ende dieses Vorgebirges bildete eine etwa eine Meile von uns entfernte Felskuppe. Gerade als wir das Boot zum zweiten Mal einigermaßen klargemacht hatten, schlug Leo zu meiner ungeheuren Erleichterung die Augen auf und murmelte benommen, seine Kleider seien vom Bett gefallen, und es sei an der Zeit, sich fertigzumachen, um zur Kirche zu gehen. Ich sagte ihm, er solle die Augen wieder schließen und sich ganz ruhig verhalten, was er, ohne von unserer gefährlichen Lage etwas zu bemerken, sofort tat. Mich erfüllte seine Bemerkung über die Kirche mit wildem Heimweh nach meiner gemütlichen Wohnung in Cambridge. Wie hatte ich nur so töricht sein können, sie zu verlassen!

      Doch jetzt näherten wir uns wieder der Brandung, wenn auch mit verminderter Geschwindigkeit, denn der Wind hatte nachgelassen, und wir wurden nur noch von der Strömung oder der Flut getrieben - wie sich später herausstellte, war es die Flut.

      Eine Minute später waren wir unter lautem Allah-Geschrei des Arabers, einem Stoßgebet von mir und Jobs Flüchen wieder mitten darin. Das schreckliche Schauspiel wiederholte sich, wenn auch diesmal nicht ganz so heftig, und Mahomeds geschicktes Steuern und die wasserdichten Abteile retteten uns das Leben. Binnen fünf Minuten waren wir durch und wurden, da wir vor Erschöpfung nichts weiter tun konnten, als ungefähr den Kurs des Bootes zu halten, mit beängstigender Schnelligkeit um das vorhin erwähnte Vorgebirge herumgetrieben.

      Wir waren schon auf seiner anderen Seite, als unsere Geschwindigkeit plötzlich nachließ und wir schließlich fast ganz zum Stehen kamen. Wir schienen in einem toten Gewässer zu sein. Der Sturm hatte sich gänzlich gelegt und einen klaren blauen Himmel hinterlassen. Der durch den Sturm hervorgerufene schwere Seegang brach sich an dem Vorgebirge, und die Flut, die so wild den Fluss hinauf geströmt war - wir befanden uns jetzt in einer Flussmündung hatte ihre Kraft verloren. Während wir so ruhig dahintrieben, schöpften wir, bevor der Mond unterging, das Wasser aus dem Boot und richteten es wieder her, so gut es ging. Leo schlief fest, und ich hielt es für das klügste, ihn nicht zu wecken. Zwar waren seine Kleider durchnässt, doch die Nacht war jetzt so warm, dass dies nach meiner - und Jobs - Ansicht einem Mann von so robuster Konstitution nicht schaden konnte. Überdies hatten wir ja auch keine trockenen zur Hand.

      Der Mond ging jetzt unter, und wir trieben langsam weiter auf dem Wasser dahin und hatten endlich Muße, über das Erlebte und Überstandene nachzudenken. Job saß am Bug, Mahomed blieb auf seinem Posten am Steuer, und ich nahm in der Mitte des Bootes neben Leo Platz.

      Langsam ging in keuscher Lieblichkeit der Mond unter; er verschwand wie eine süße Braut, die sich in ihr Gemach zurückzieht, und lange Schatten verhüllten den Himmel wie ein Schleier, durch den zaghaft die Sterne blinzelten. Bald jedoch verblassten auch sie vor der Helligkeit, die ihm Osten emporstieg. Immer ruhiger wurde die See, ruhig wie der zarte Nebel, der über ihr hing. Von Osten nach Westen eilten die Engel der Dämmerung, von Meer zu Meer, von Berg zu Berg, mit vollen Händen ihr Licht ausstreuend. Klar und herrlich entstiegen sie der Finsternis wie die Geister der Gerechten dem Grabe, schwebten über die ruhige See und die Küste, über die Sümpfe dahinter und die Berge darüber, über Menschen, die in Frieden schliefen und in Sorge wachten, über die Bösen und über die Guten, über die Lebenden und über die Toten, über die ganze weite Welt und alles, was auf ihr atmete oder einstmals


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