SIE. Henry Rider Haggard
Читать онлайн книгу.Doch sieh dir auch den anderen an; er ist Vinceys - so heißt der Gott - Vormund und angeblich ein sehr gescheiter Kopf. Er wird Charon genannt - ob seines Äußeren wegen oder weil er seinen Schützling über die tiefen Wasser der Examen geleitet hat, weiß ich nicht.«
Als ich ihn betrachtete, fand ich ihn auf seine Art nicht weniger interessant als den jungen Apoll an seiner Seite. Er war etwa vierzig Jahre alt und ebenso hässlich wie sein Begleiter schön. Er war ziemlich klein, hatte krumme Beine, eine breite, kräftige Brust und ungewöhnlich lange Arme, dunkles Haar und kleine Augen. Das Haar wuchs ihm tief in die Stirn hinein, und sein Bart reichte bis zum Haar hinauf, so dass von seinem Gesicht nicht viel zu sehen war. Alles in allem erinnerte er mich stark an einen Gorilla, und dennoch wirkte er überaus sympathisch und anziehend auf mich. Ich bat meinen Freund, mich ihm bekannt zu machen.
»Aber gern«, erwiderte mein Freund, »nichts leichter als das. Ich kenne Vincey und will dich ihm gern vorstellen.« Er tat es, und wir standen eine Weile beisammen und unterhielten uns – so viel ich mich entsinne, über die Zulus, denn ich war vor kurzem erst aus Südafrika zurückgekommen. Kurz darauf näherte sich uns jedoch eine korpulente, von einem hübschen jungen Mädchen begleitete Dame, und Mr. Vincey, der die beiden anscheinend gut kannte, schloss sich ihnen an und entfernte sich mit ihnen. Bereits beim Nahen der Damen änderte sich in auffallender Weise die Miene des älteren Herrn, der, wie ich indessen erfahren hatte, Holly hieß. Er verstummte plötzlich, warf seinem Begleiter einen vorwurfsvollen Blick zu, wandte sich, mir kurz zunickend, ab und ging hinüber auf die andere Straßenseite. Wie ich später hörte, stand er in dem Ruf, Frauen ebenso zu fürchten wie andere Leute einen tollwütigen Hund, was seinen hastigen Rückzug zu erklären schien. Vincey hingegen schien dem weiblichen Geschlecht durchaus nicht abgeneigt; jedenfalls erinnere ich mich, dass ich damals lachend zu meinem Freund sagte, er sei nicht gerade ein Mann, den ich der Dame meines Herzens gern vorstellen würde, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Zuneigung ihm zuwenden könnte, sei doch überaus groß. Er sah einfach gar zu gut aus, und dabei fehlten ihm gänzlich jene Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, welche die meisten hübschen Männer bei ihren Geschlechtsgenossen mit Recht unbeliebt machen.
Mein Besuch endete an diesem Abend, und ich habe danach lange Zeit nichts von Charon und dem Griechengott gesehen oder gehört. Genauer gesagt, ich habe bis zu dieser Stunde keinen der beiden wiedergesehen und werde es wohl auch kaum. Vor einem Monat jedoch erhielt ich einen Brief und zwei Pakete, deren eines ein Manuskript enthielt, und als ich den Brief öffnete, sah ich, dass er die Unterschrift Horace Holly trug - ein Name, der mir im ersten Augenblick nichts sagte. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:
»...College, Cambridge, 1. Mai 18..
Sehr geehrter Herr!
Sie werden, da wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, überrascht sein, einen Brief von mir zu erhalten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, wurden mein Mündel Leo Vincey und ich Ihnen vor einigen Jahren in Cambridge auf der Straße vorgestellt. Doch ich will mich kurz fassen und sogleich mein Anliegen vorbringen. Ich las vor kurzem mit großem Interesse ein Buch, in dem Sie ein Abenteuer im Inneren Afrikas schildern. Wie ich wohl annehmen darf, ist dieses Buch aus Dichtung und Wahrheit gemischt. Wie dem auch sei - es hat mich auf eine Idee gebracht. Aus dem beiliegenden Manuskript (welches ich Ihnen zusammen mit dem Skarabäus Königlicher Sohn der Sonne und der Tonscherbe übersende) werden Sie ersehen, dass mein Mündel oder, besser gesagt, mein Adoptivsohn Leo Vincey und ich ebenfalls ein Abenteuer in Afrika erlebt haben, welches so viel wunderbarer als das von Ihnen erzählte ist, dass ich mich - offen gestanden - aus Furcht, Sie könnten mir nicht glauben, fast scheue, Sie damit vertraut zu machen. Wie Sie in dem Manuskript lesen werden, hatten wir eigentlich beschlossen, diese Geschichte nicht der Öffentlichkeit zu übergeben, solange wir noch am Leben sind. Ganz sicher wären wir diesem Entschluss auch treu geblieben, hätte sich nicht ein besonderer Umstand ergeben. Aus Gründen, die Sie nach Lektüre des Manuskriptes erraten werden, werden wir uns wieder auf eine Reise begeben, diesmal nach Zentralasien, wo, wenn überhaupt auf dieser Welt, wahre Weisheit zu finden ist, und wir nehmen an, dass unser Aufenthalt dort von sehr langer Dauer sein wird. Möglicherweise werden wir überhaupt nicht mehr zurückkehren. Unter diesen veränderten Umständen erhebt sich die Frage, ob wir berechtigt sind, einfach aus der Befürchtung heraus, wir könnten uns lächerlich machen oder auf Unglauben stoßen, der Menschheit einen Bericht über ein rätselhaftes Phänomen vorzuenthalten, welches nach unserer Überzeugung von unvergleichlicher Bedeutung ist. Leo und ich sind in dieser Beziehung verschiedener Ansicht, doch nach langen Diskussionen sind wir übereingekommen, Ihnen die Geschichte zu übersenden und die Entscheidung, ob sie veröffentlicht werden soll oder nicht, Ihnen zu überlassen, wobei nur ein einziger Vorbehalt gemacht sei: dass Sie unsere wirklichen Namen verschweigen und von unserer Identität nur so viel mitteilen, als die Glaubwürdigkeit der Erzählung erfordert.
Was ist dem noch hinzuzufügen? Ich glaube, lediglich die nochmalige Versicherung, dass in beiliegendem Manuskript alles so geschildert ist, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Auch was Sie betrifft, habe ich nichts weiter zu sagen. Von Tag zu Tag bedauern wir mehr, dass wir die Gelegenheit, unser Wissen durch diese wunderbare Frau bereichern zu lassen, nicht besser genützt haben. Wer mag sie gewesen sein? Wie kam sie wohl in die Höhlen von Kôr, und was war ihre wirkliche Religion? Wir haben keine Antwort darauf gefunden, und leider werden wir wohl auch keine mehr finden; zumindest nicht so bald. Diese und viele andere Fragen lassen mir keine Ruhe, doch was nützt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?
Wollen Sie also diese Aufgabe übernehmen? Wir lassen Ihnen völlige Freiheit, und Ihr Lohn wird das Verdienst sein, der Menschheit die phantastischste - und dennoch wahre - Geschichte dargeboten zu haben, die sich auf Erden je zugetragen hat. Lesen Sie das Manuskript (von dem ich eine gute Abschrift für Sie angefertigt habe) und geben Sie mir bald Nachricht.
Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener
L. Horace Holly
P.S. Sollten Sie sich zur Veröffentlichung entschließen und der Verkauf des Buches Gewinn abwerfen, so verfügen Sie nach Belieben; falls Ihnen jedoch ein Verlust entsteht, so sind meine Anwälte, die Herren Geoffrey und Jordan, angewiesen, Ihnen diesen zu ersetzen. Wir vertrauen die Scherbe, den Skarabäus und die Pergamente Ihrer Obhut an und werden sie vielleicht einmal zurückverlangen.
L. H. H.«
Dieser Brief setzte mich, wie man sich wohl denken kann, in nicht geringes Erstaunen, doch noch erstaunter war ich, als ich nach vierzehn Tagen, in denen andere dringende Arbeiten mich daran hinderten, das Manuskript endlich las. Ich beschloss sofort, mich der Sache anzunehmen, und teilte dies Mr. Holly mit, erhielt jedoch eine Woche später meinen Brief mit einem Begleitschreiben seiner Anwälte zurück, in dem mir diese mitteilten, dass ihr Klient und Mr. Leo Vincey bereits nach Tibet abgereist seien und keine Adresse hinterlassen hätten.
Dies ist alles, was ich zu sagen habe. Über die Geschichte mag der Leser sich selbst ein Urteil bilden. Ich übergebe sie ihm, wie ich sie erhalten habe - abgesehen von einigen wenigen Änderungen, die ich vornahm, um die Identität der Akteure der Öffentlichkeit zu verbergen. Jeglichen persönlichen Kommentars will ich mich enthalten. Anfangs neigte ich zu der Ansicht, diese Geschichte einer in die Majestät ihrer ungezählten Jahre gehüllten Frau, auf welcher der Schatten der Ewigkeit ruht wie der dunkle Fittich der Nacht, sei eine gewaltige Allegorie, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermöge. Dann wieder glaubte ich, es sei vielleicht ein kühner Versuch, die Folgen faktischer Unsterblichkeit an einem sterblichen Wesen zu demonstrieren, das seine Kraft aus der Erde zieht, in dessen Brust jedoch Leidenschaften auflodern und erlöschen, wie sich in der unvergänglichen Welt, die es umgibt, die Winde und Fluten unaufhörlich erheben und senken. Doch später ließ ich auch diesen Gedanken fallen. Mir scheint diese Geschichte den Stempel der Wahrheit zu tragen: Ich muss es anderen überlassen, sie zu enträtseln, und so übergebe ich denn nach dieser kurzen, durch die Umstände gebotenen Einleitung der Welt den Bericht über Ayesha und die Höhlen von Kôr.
Der Herausgeber
P.S. Bei nochmaligem Durchlesen der Geschichte ist mir ein, wie ich glaube, sehr wesentlicher Punkt aufgefallen, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Er wird bemerken, dass nichts an Leo Vinceys Charakter,