Die Legende der Eiswölfe. Nicole Seidel

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Die Legende der Eiswölfe - Nicole Seidel


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Avalon den Sarg öffnete, ich schwöre, da lag eine vertrocknete Mumie darin! Seht sie euch an, es ist als würde sie jeden Moment aufwachen!"

      "Sie ist unglaublich schön", erwiderte Steve.

      "Eine wahrhaftige Elfin, dazu noch eine sehr bedeutende", vorsichtig legte Jhil eine Haar­strähne zur Seite und offenbarte ein spitzes Ohr.

      "Steve, bestimmen sie das Alter von Misses Spock!" wandte der Professor mit kühler Stimme ein. "Ich will genau wissen, wie alt dieser ganze Krempel ist. Dreitausend Jahre scheint mir unwahr­scheinlich, es wirkt alles so - neu. Und den Königssarg müssen wir auch noch aufbekommen - vielleicht erwartet uns da auch eine Überraschung?! Wenn uns hier jemand auf den Arm nehmen will und das ganze Zeug hier nicht authentisch ist, kann ich den ganzen Einsatz dieser Expedition abschreiben! Los, rann an die Arbeit!"

      "Jawohl, Professor!" salutierte Aleann mit breitem Grinsen. Er glaubte an die Echtheit seines Fundes.

      Aleann ging zu seiner Schwester und massierte ihr ein wenig den Nacken. "Mir reicht es für heute, ich werde zu Yong gehen, sein feuriges Essen hab ich im Norden vermisst. Komm mit Jhil."

      Jhil schaute von ihrem Mikroskop auf die Uhr - sie zeigte 20:07 h - und meinte: "Nein, ich will die letzten drei Schmuckstücke noch fertig machen. Aber wir können uns auf einen Drink später noch bei Max treffen."

      "Gute Idee, ich warte aber nicht länger als bis Mitternacht auf Dich." Der Mann gab der Frau einen Kuss auf die Stirn und verließ mit Steve Andersen den Raum, in dem die Grabbeigaben im chaotischen System auf Tischen und Regalen, in Holzkisten und am Boden verstreut lagen.

      Das künstliche Licht flackerte diffus von der Decke herab. Jhil rieb sich müde die grünen Augen und kramte einen Schokoriegel hervor. Sie erhob sich, streckte die steifen Glieder und ging zum Sarg der Königin rüber. Die wunderhübsche Elfin schlief friedlich darin. Jhil berührte ihre straffe Wange, die Haut war eisigkalt. Da schien kein Leben in ihr zu sein.

      "Wie wunderschön und friedvoll du aussiehst, Nuaja, " flüsterte Jhil. "Hingegen dein Zwillings­bruder Nuance macht mir Angst. Du bist das Licht und er ist dein böser Schatten." Die zierliche Frau ging zurück zum Tisch und widmete sich wieder ihren Schmuckstücken.

      Von irgendwoher drang das Geheul eines Krankenwagens an ihr Ohr. Eine nahe Turmuhr schlug die volle Stunde. "Verdammt, es ist ja schon zehn!" Die Frau massierte sich den steifen Nacken und speicherte ihre Notizen ab und klappte den Laptop zu.

      Da schepperte etwas im hinteren Teil des Raumes. Jhil blickte in Richtung des Geräusches und stand auf. Sie lauschte aufmerksam. Stille. Nur die typischen Geräusche der Großstadt drangen von ferne an ihre Ohren. Und doch stellten sich ihr die Nackenhärchen auf und sie spürte, dass jemand mit ihr im Raum war.

      Instinktiv ging sie zum Sarg der Elfin und schaute hinein. Die weißhaarige Nuaja lag noch darin - hatte Jhil wirklich geglaubt, dass dieses Wesen auferstehen würde?

      Sie stand am Marmorsarg und wusste plötzlich, dass der unbekannte Besucher hinter ihr stand. Jhil drehte sich langsam um und starrte der Person entgegen, die da dunkel im Schein des flackernden Neonlichts stand. Ein knielanger schwarzer Mantel, mit über dem Kopf gezogener Kapuze. Ein roter Schal betonte die sehr schlanke Taille und ein langes Schwert steckte untypisch darin. Eine behandschuhte Rechte hob sich und streifte die weite Kapuze nach hinten, aber auch so ahnte die Frau, wer da vor ihr stand. Weißes Haar und ein fahles Gesicht mit schattig gelben Augen und schwarzen Lippen kamen zum Vorschein. Jhil erstarrte. Lord Nuance Silver ging näher an sie heran.

      Aus dem hageren Gesicht des Elfen war keinerlei Alter zu erschließen, doch stimmten die Legenden musste nun vor Jhil ein Wesen stehen, dass über dreitausend Jahre alt war. Seine bern­steingelben Augen funkelten hasserfüllt und sahen in das saftige Wiesengrün der jungen Frau. Sie hielt seinem Hass stand, denn der Hass schwand, als er seiner Schwester im Sarg gewahr wurde.

      Nur ein sanfter Windhauch streifte Jhil, als Nuance an ihr vorbei eilte und sich über den Sarkophag beugte. Liebevoll umfasste er das Gesicht der Elfin, sprach zärtlich in der alten Elfen­sprache zu ihr und hauchte ihr einen langen Kuss auf die Stirn, direkt über ihre Augen. "Nuaja, endlich finde ich dich in dieser menschlichen Hölle. All die Zeit der Sehnsucht überdauerte unser Fernsein. Endlich sind wir wieder vereint."

      Jhil verstand die fremde Sprache und sprach ihn mit dem gleichen melodischen Elfisch an. "Prinz Nuance Silver 'Elin, erklärt mir euer Dasein."

      Ruhig wandte sich der schlanke Dunkelelf um. "Nichts muss ich dir erklären. Stattdessen erkläre mir, warum verstehst du meine Worte? Und sprichst sie?"

      "Ein Erbe meiner Familie. Genaueres weiß ich aber nicht."

      Nuance streifte sich die Handschuhe ab. Darunter kamen lange Finger mit blasser Haut hervor. Er berührte sie am Kinn. Seine Finger strahlten eine ungewöhnliche Wärme aus. "Nur unter den Feleaorn sah ich je so ein Augengrün."

      Der weißhaarige, finstersichtige Elfenprinz legte seine Hand auf ihren Kopf. Jhil wehrte sich nicht gegen seine Ergründung. "Nur eine Handvoll Elfen von Ban Gynvael blieben damals übrig. Du trägst das Erbe dieses Alten Blutes in dir. Bemerkenswert. Und du hast einen Zwillingsbruder, Jhil Raven." Er lächelte mit dem giftigen Blick einer Natter.

      Lord Nuance Silver löste sich von der Frau, blickte sich im Raum um. Als er den Sarkophag des Valdavischen Königs sah, eilte er dorthin. Seine Hände ruhten über dem Sarg, suchend. Er lauschte. Und riss in einer einzigen wütenden Geste den schweren Steindeckel von dem Marmorsarg.

      "Elessar, Erstkönig der Menschen", zischte der Elf mit glühendem Hass der gerüsteten Mumie in seinem Innern entgegen. "Du hast mir alles genommen, was mein Leben bedeutsam machte. Doch ich überdauerte und hole es mir nun zurück." Nuance griff in den Sarg und holte einen länglichen Gegenstand hervor. Ein reich-verzierter dunkler Stab, an dessen Spitze eine silberne Speerspitze glänzte.

      Er hatte die sonderbare Waffe mit der rechten umfasst und streckte seinen Arm aus. "Ich bin Nuance Silver, Lord von Dúath 'Áite." Er vollführte mit dem Lanzenschwert einige kunstvolle schwungvolle Bewegungen und hieb unerwartet mit der Spitze in den Sarkophag, erdolchte seinen längst toten Feind.

      Wieder blickte sich der Elfenprinz suchend um, durchschritt den Raum und stöberte in den Grabbeilagen. "Wo ist das Quenya?"

      Jhil verstand nicht. "Ich weiß nicht was ihr meint, Prinz." Obgleich er sie kaum um einen halben Kopf überragte und vom schlanken Wuchs schien, hatte sie vor ihm weiterhin Angst. Er bewegte sich so kraftvoll, schnell und lautlos, wie eine Raubkatze auf Beutefang. Und sein dämonisches Aussehen erfüllte die Luft mit seiner magisch-gefährlichen Aura.

      "Du hast damit meine Schwester ins Dasein erhoben. Ich brauche es, um sie vollends zu erwecken. Ihr Geist ruht noch in den Sphären."

      Er meint das runde Silberstück, den keltischen Dreieck-Knoten, dachte Jhil. Schaute sich nun selbst um. "Mein Bruder muss es bei sich tragen." Nuance stand dicht bei ihr. Speerspitze und Augen funkelten um die Wette. "Bitte tue ihm nichts!" stammelte sie furchtsam.

      Sein hübsches, steinernes Gesicht lächelte. "Hole es mir. Einen Tag gebe ich dir dafür." Nuance sah ihr in die Augen von saftigem Wiesengrün. "Angst brauchst du vor mir nicht zu haben, kleines Elflein. Bleib nur furchtsam." Er berührte sie mit der silbernen Spitze seines Lanzenschwertes und murmelte etwas leise, was Jhil nicht verstehen konnte. Aber ihr schwindelte davon und ihr wurde schwarz vor Augen. Als sie wieder klar sehen konnte war der unheimliche Elfenprinz verschwunden.

      War das nur ein Traum gewesen? Nein, dachte Jhil voller Schaudern, als sie den offenen Sarkophag des König Elessar de Tanelor sah. Langsam schritt sie an den klobigen Steinsarg heran und blickte hinein. In der rotgoldenen edlen Rüstung des Königs von Valdavien steckte ein schrumpeliger mumi­fizierter Leichnam und keine neue böse Überraschung.

      Es schlug 23 Uhr, als Jhil Raven die Museumstüren hinter sich abschloss und den Code für die Alarmanlage eingab. Max' kleine Bar war nur einige Blocks weiter weg, sie lief den Weg dorthin. Ihre Schritten hasteten flink über den Asphalt, deutlich spürte sie den Puls im Hals im aufgebrachten Rhythmus ihres Herzens schlagen.


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