Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.an ihr, das sie durch das lange Warten nicht zurückhalten konnte. Der Küster verabschiedete sich von dem Paar, und der Pfarrer nahm seine junge Frau am Arm. „Das hat ja lange gedauert“, sagte Luise Agnes, „ich hatte mich schon gefragt, ob ich vorausgehen soll. Dann dachte ich, doch zu warten, um den Heimweg nach deiner ersten Amtshandlung gemeinsam zu gehen.“ „Das ist lieb von dir, danke“, sagte Eckhard Hieronymus und drückte ihre Hand. Es war kalt, nicht viel über dem Gefrierpunkt. Der Nieselregen setzte ein, ein typischer Totensonntagsregen. Die Wolkenbank lag schwer über der Stadt, deckte sie mit einem grauen Schleier zu. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen, die meist in ihre Hauseingänge verschwanden, oder aus den Häusern kamen, die Straße überquerten und in andere Häuser der kurzen Entfernung gingen. Das Pfarrerehepaar legte einen Schritt zu, um sich warmzulaufen. „Deine Predigt hat mir gut gefallen“, sagte Luise Agnes schnellen Schrittes, „auch wenn sie anders war als die geschriebene.“ „Ich weiß auch nicht, wie ich dazu gekommen bin, mich nicht an den geschriebenen Text zu halten“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „der Paulustext stand hell vor meinen Augen; der aus sich heraus in meinem Kopf gearbeitet hat, was soviel wurde, dass ich es loswerden musste. Ich fühlte den Druck im Kopf und eine ungewöhnliche Wärme im Herzen. Die Notwendigkeit, ja auch das Verlangen, mich an das Manuskript zu halten, waren verflogen, ich bedurfte der geschriebenen Worte nicht. So sprach ich, wie mir der Schnabel gewachsen war, sprach aus dem Bauch heraus. Die Sätze kamen wie aus einem Quell, ohne dass ich nachdenken und die Sätze in eine rhetorische und satzbauliche Ordnung bringen musste. Das alles hatte mein tiefes Bewusstsein, das sich meinem Willen entzog, bereits getan. Ich musste mich nur darauf konzentrieren, und das war nicht einfach, mit dem Fluss, der von innen kam, Schritt zu halten und mit der Zunge nicht zu stolpern, damit es keine Stauung gab.“ „Nein, eine Stauung gab es nicht, deine Rede war frei und fließend, sie sprach in anschaulichen Bildern von den Menschen der Stadt, ihren Ängsten und Sorgen“, entgegnete Luise Agnes. Sie meinte, dass ihr das mit der Scheinheiligkeit, der gelogenen Betroffenheit, den Falschgesichtern und der Gier nach äußerem Reichtum zwar zugesagt habe; sie könne sich jedoch vorstellen, dass es die Menschen falsch verstehen, die es falsch verstehen wollen. Wenn es auch der Wahrheit entspricht, muss mit Reaktionen, besonders der Leute aus den besseren Kreisen, gerechnet werden, die abfällig, gemein und schädlich sein können. „Jetzt sprichst Du so wie Küster Krause, der meinte, dass ich einen schweren Stand bekommen werde, weil es Menschen gibt, die ihren Neid nicht beherrschen“, setzte Eckhard Hieronymus hinzu und fügte an: „Aber warum soll ich mir den Maulkorb umhängen, wenn mein Herz mir sagt, dass ich die Wahrheit sprechen soll und mich ermahnt, die Wahrheit auszusprechen. Paulus hat doch auch kein Blatt vor den Mund genommen, wenn er den Korinthern den Spiegel vor ihre Gesichter hielt, sie auf ihre Gier, Lüste und Sünden hinwies und sie zur Besserung und einem sittlichen Leben ermahnte. Der Apostel schreckte vor nichts, auch nicht vor den ärgsten Feinden und gemeinsten Verfolgern zurück, wenn es um die Wahrheit und die Botschaft des Herrn geht, um die Liebe, die aufbaut und zur Erkenntnis der Wahrheit führt.“ „Ich weiß, ich weiß!“, versuchte Luise Agnes ihren Mann auf dem wolkenüberhängten Heimweg mit dem feinen Trauerregen im Gedenken der Toten zu trösten.
Sie gingen doch nicht gleich nach Hause, sondern kehrten in das Gasthaus, Zum Schlesischen Krug, ein, um dort das Mittagessen einzunehmen. Es war bereits ein Uhr mittags. Die kleine, von der Einschmelzung verschont gebliebene Glocke machte, wie eine hohe Kinderstimme, den Einuhrschlag, als die beiden die Speisekarte mit den aufgeführten drei Gerichten und ihre Preise aufmerksam studierten, die hinter einem verschlossenen Glasdeckel links neben der Gasthaustür ausgehängt war. Von den drei Tischen waren zwei frei, auf dem dritten, einem Fenstertisch, stand aufrecht eine kleine quadratische, in einen dunklen Holzständer eingedrückte Messingplatte mit der schwarz eingelassenen Aufschrift ‘reserviert’. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner und seine junge Frau wurden vom Wirt mit Bauch und blauer Schürze freundlich begrüßt, obwohl sie das erste Mal in das Gasthaus einkehrten und dem Wirt vorher nicht begegnet waren. Der Wirt mit der feinen Nase, wie sie allen Wirten zugeschrieben wird, wusste, um wen es sich bei den Mittagsgästen handelte, und sprach sie, als Eckhard Hieronymus noch die Außenklinke in der Hand hatte, mit „Guten Tag Herr Pfarrer!, guten Tag gnädige Frau!“ an. Sie setzten sich an den mittleren Tisch, der dem Fenstertisch am nächsten stand. An der alten Holztheke stand ein älterer Mann, an dessen dunklem Anzug der Hauch von Schäbigkeit haftete, und vor sich ein Schnapsglas stehen hatte, das er in regelmäßigen Abständen zum Mund führte und nachfüllen ließ. Die beiden am Tisch verschafften sich die erste Orientierung. Der Wirt, ein Herr in den mittleren Jahren, mit langem Backenbart und großen Ohren, trat an den Tisch. Er lächelte den Gästen ins Gesicht, erst der jungen Frau, dann dem jungen Herrn Pfarrer. Er wollte die Gäste, und noch mehr ihr Kommen, ehren und bot ihnen ein Willkommens-Schnäpschen zum, wie er sagte, Aufwärmen der Gemüter an. Dabei ließ er nicht ungesagt, dass diese Runde ein Geschenk des Hauses sei und auf seine Kosten gehe. Während die beiden sich, ob verblüfft oder erschrocken ansahen, sei dahingestellt, über das Prinzip des alkoholischen Genusses nachzudenken begannen, offerierte der Wirt mit den entsprechenden Erklärungen die verschiedenen Marken und Geschmacksrichtungen, vom Holstenkorn, über den ostpreußischen Bittermann bis zum schlesischen Mandelbitter und Liegnitzer Hirschwasser. „Warum nicht“, meinte Luise Agnes, die sich Hände und Wangen warm rieb, „ich könnte schon einen Aufwärmer gebrauchen“, und mit Blick auf ihren, noch unentschlossenen Mann, „das kommt ja nicht jeden Tag vor.“ „Da darf ich ihnen den Schlesischen Mandelbitter empfehlen; der hat ein erfrischendes Aroma und ist nicht zu stark“, schlug der Wirt vor. „Gut, dann will ich den Mandelbitter probieren“, erwiderte Luise Agnes. „Sehr wohl, gnädige Frau, der wird ihnen gut tun!“ Der Wirt wandte sich dem Herrn zu: „Und ihnen, Herr Pfarrer, wenn ich einen Vorschlag machen darf, würde ich das Liegnitzer Hirschwasser empfehlen, das herb im Geschmack und in der Konzentration nicht zu geistig ist.“ Eckhard Hieronymus schaute seine Frau fragend an, die mit dem Kopf nickte und die Bestellung der Gemütsaufwärmer ohne weitere Verzögerung zu Ende brachte. Der Wirt ging hinter die Theke zurück, als Eckhard Hieronymus seiner Frau die Frage stellte, was wohl die Menschen denken werden, wenn sie den Pfarrer, der hier gerade seinen Dienst begonnen hat, mit dem Schnapsglas in der Hand oder vor dem Munde sehen, und das am Totensonntag. Luise Agnes sah das anders; sie erklärte die Schnapslage als eine wirksame Medizin an einem kalten regnerischen Spätherbsttag, die einer Erkältung mit ihren negativen Folgen vorbeuge. Der Wirt hatte die zwei Schnapsgläser gefüllt, kam und stellte sie auf den Tisch, erst der jungen Frau zur Rechten mit den Worten: „einen Schlesischen Mandelbitter für die gnädige Frau und ein Liegnitzer Hirschwasser für den Herrn Pfarrer.” Dann wünschte der Wirt ein freundliches Prosit. „Können wir die Bestellung aufgeben?“, fragte Luise Agnes. „Selbstverständlich gnädige Frau“, erwiderte der Wirt. Mann und Frau hatten sich bereits abgestimmt, so bestellte Eckhard Hieronymus zweimal Schweinskotelett mit Bratkartoffeln. Die Frage nach dem Gemüse, beantwortete der Wirt mit einem Lächeln, dass es Frischgemüse aus Bohnen, Möhren und Rotkohl sei, überzogen mit einer speziellen Käsesoße nach böhmischer Art. „Wäre es so recht?“, fragte er, um sich zu vergewissern. Luise Agnes nickte mit dem Kopf, der Wirt ging, öffnete die Tür neben der Theke und rief die Bestellung in die Küche, aus der ein aromatischer Fleischgeruch in die Gaststube drang. Eckhard Hieronymus blieb für mehr als eine Minute still. Luise Agnes sah seinem Gesicht und den müden Augen an, dass er in einer anderen Welt war. Sie wollte ihn an den Tisch zurückholen und ermuntern. So fragte sie ihn, ob er zufrieden sei mit dem, was abgelaufen war. „Mit dem Gottesdienst schon, mit dem, was danach kam, weniger“, erwiderte er und rieb sich mit den Zeigefingern über die Augen; worauf Luise Agnes, die sah, dass etwas nicht stimmte, sagte, dass er ihr zu Hause von dem Gespräch in der Sakristei doch berichten möge. Zwei Männer, denen die Haare beim einen ergraut, beim andern ausgefallen waren, betraten die Gaststube und setzten sich an den Fenstertisch. Einer von ihnen schob die kleine Messingplatte mit der schwarzen Aufschrift „reserviert“ mitsamt Ständer zur Seite. Auch sie hatte der Wirt beim Eintreten freundlich begrüßt, aber ein Schnäpschen auf Hauskosten zum Aufwärmen der Gemüter hatte er ihnen nicht angeboten. Es waren Herren, von denen sich Eckhard Hieronymus nur an den glatzköpfigen erinnerte, wie er nach dem Gottesdienst die Kirche verließ, weil er einer der wenigen war, die weder eine Miene zum Gruß verzogen, noch auf seinen Gruß reagierten. Der ältere Mann an der Theke, dessen Jacke vom Regen durchnässt war und der ganze Anzug die Merkmale der ungepflegten Schäbigkeit aufwies, ließ sich