Piranesis Räume. Klaus Heitmann
Читать онлайн книгу.diesem Zustand vollständiger Verlorenheit und notdürftiger Aussöhnung betraten sie einen Raum, in dem eine junge Frau leicht entblößt zwischen griechischen Säulen schlief. Aus der Selbstverständlichkeit, mit der sie dort lag, schlossen Piranesi und Salametti, dass sie keine Schwierigkeiten mit dem Raum hatte. Freudig stürzten sie über zwei Treppen hinunter auf die Frau zu, die sich, als sie die beiden Männer bemerkte, errötend bedeckte.
„Du scheinst dich hier auszukennen“, sagte Salametti ohne Umschweife.
„Die Kenntnis des Raumes ist schwierig“, antwortete die junge Frau freundlich. „Das Problem ist, wie ihr sicher bemerkt habt, die Ähnlichkeit seiner Elemente. Alles ist mehr oder weniger gleich, erscheint aber in immer neuen Kombinationen und Perspektiven. Diese Ähnlichkeit bewirkt, dass ihr nicht wisst, wo ihr schon wart und wo ihr noch nicht gewesen seid. Wenn ihr euch also orientieren wollt, braucht ihr einen zuverlässigen Indikator dafür, welche Wege ihr bereits zurückgelegt und welche ihr noch nicht beschritten habt. Ansonsten werdet ihr euch wiederholen, ohne es zu wissen oder glauben, euch zu wiederholen, obwohl ihr fortgeschritten seid. Ihr benötigt also ein Mittel, an Hand dessen ihr erkennen könnt, was ihr bereits erkannt und durchdacht habt.“
„Kennt ihr ein solches Mittel“, fragte Piranesi.
„Der Raum ist komplex“ fuhr die junge Frau fort, „das Mittel, den Gang durch ihn zu ordnen aber ist einfach. Nehmt diesen Faden, befestigt ihn an eurem Ausgangspunkt und ihr werdet immer wissen, wo ihr bereits gewesen seid. Vor allem werdet ihr euch auf diese Weise niemals im Weglosen verlieren, denn der Faden verbindet euch mit dem Ausgangspunkt. Die Sicherheit, die ihr dadurch gewinnt, wird eure Schritte schließlich beflügeln. Den Ausgang aber werdet ihr sicher finden, ist er doch das, was übrig bleibt, wenn ihr alles erforscht habt.“ Damit übergab sie den beiden ein Knäuel feinen Fadens.
Piranesi und Salametti befestigten den Faden an einem Balken und setzten ihren Weg fort. Sie kamen dabei in einen Raum, der auf mehreren Ebenen von besonders vielen Brücken und Galerien durchzogen war.
Mitten darin befanden sich zwei turmartige Konstruktionen. Um den größeren der beiden Türme wand sich von einer Galerie am unteren Ende eine Treppe in schwindelnde Höhe, die zu einem Kreuz von sechs weiteren Galerien führte. Bei näherer Betrachtung erwies sich der Turm daher als gigantische Säule zur Abstützung dieses Kreuzes. Piranesi und Salametti schien es, dass sie nur über diese Galerien weiterkommen würden und daher in die Höhe steigen mussten. Sie gerieten aber darüber in Streit, auf welche Weise die Höhe zu erreichen sei. Piranesi meinte, man müsse über den größeren Turm aufsteigen, da dort das Galerienkreuz aufliege. Salametti wandte ein, dass die Position dieses Turmes im Raum viel zu unklar sei. Er stehe je nach Blickpunkt in der Mitte oder aber auch neben der Galerie, die ihn im unteren Bereich tangiere. Angesichts dieser Ungereimtheiten sei es besser, über den kleineren Turm aufzusteigen. Da sie aber nur einen Faden hatten, war an eine Trennung nicht mehr zu denken.
„Wir gehören nun wohl zusammen, wie Huhn und Ei“, bemerkte Salametti schließlich und folgte Piranesi zähneknirschend auf den größeren Turm.
Merkwürdigerweise bereitete die unklare Position des Turmes beim Aufstieg über die Wendeltreppe aber nicht die erwarteten Schwierigkeiten. Das Problem löste sich unmerklich auf, als die Treppe den Schnittpunkt von Turm und unterer Galerie durchlief. Oben angekommen mussten die beiden aber festzustellen, dass das Galerienkreuz nicht weiterführte. Die Wege verloren sich im Raum. Daher stiegen sie über den kleineren Turm wieder ab, nicht ohne heftig darüber zu diskutieren, wer nun im Recht gewesen sei.
IV
Nachdem sie weitere Zeit in der Gebäudewüste umhergeirrt waren, wurde den beiden immer deutlicher, wie Recht die junge Frau mit ihrer Warnung vor der Ähnlichkeit der Raumelemente gehabt hatte. Denn obwohl sie glaubten, sich von ihrem Ausgangspunkt entfernt und neue Räume betreten zu haben, stießen sie immer wieder auf den Faden. Salametti schimpfte laut über Huhn und Ei und verfluchte das Schicksal, welches ihn in diese unendlichen Hallen und Gänge verschlagen habe. Piranesi setzte sich verzweifelt auf einen Pilaster aus Marmor, der am Boden lag, und versuchte sich Klarheit über die Lage zu verschaffen.
„Wir bewegen uns immerfort“, stellte er fest, „ohne dass wir fortzuschreiten scheinen. Unser Weg gleicht daher dem des Mäander, einem Fluss, der in Kleinasien, was einmal Kernland des römischen Reiches war, durch eine weite Ebene kurvt, ohne recht vorwärts zu kommen. Er fällt sogar, in dem er sich weit in die Ebene ausbreitet, immer wieder hinter den Fortschritt zurück, den er schon hinter sich hat. Diese Art der Bewegung erscheint uns sinnlos. Vielleicht passt sie aber zu diesem Raum. Den Alten, die diese Räume gebaut haben, war diese Bewegung sehr vertraut. Sie schmückten ihre Bauten daher gerne mit Mäanderfriesen. Ich habe sie in Rom und seiner Umgebung immer wieder gefunden und schon oft abgebildet.
„Was meinst du mit Mäanderfriesen?“, fragte Salametti.
“Es sind Bänder, bei denen aus einer größeren Form eine kleinere wächst, die wieder größer wird, um eine weitere kleinere zu gebären und so fort. Für die Alten waren sie ein Symbol dafür, wie sich das Neue in alle Ewigkeit immer wieder aus dem Alten entwickelt.“
„Wie Huhn und Ei“, stellte Salametti fest und fuhr, nachdem er eine Zeit lang die andere Seite des Pilasters gemustert hatte, auf dem Piranesi saß, fort: „Oder wie die Pflanze, die jemand schön eingerahmt in diesen Stein gemeißelt hat. Sie zieht sich den Pilaster entlang, treibt dabei zu beiden Seiten Verzweigungen aus, wächst aber dennoch spiralförmig immer weiter.“
Piranesi stand auf und betrachtete die andere Seite des Steins. „Eine wahrhaft erstaunliche Akanthusranke“, rief er aus. „Wunderbar wie der Stamm unten aus üppigem Blattwerk herauswächst, sich die Nebenzweige in prallen Blütensternen sammeln und zu prächtigen Fruchtständen einrollen.“
„Du scheinst diese Pflanze gut zu kennen.“
„Ich bin einigermaßen vertraut mit dem Ornament, das aus der Gattung der Akanthusgewächse entwickelt wurde. Es stammt ursprünglich von den Griechen und soll sich, wie ich gehört habe, auf dem ganzen eurasischen Kontinent und selbst auf abgelegene Eilande am Rande der Welt verbreitet haben. Es ging mit Alexander dem Großen nach Baktrien und Indien und von dort weiter nach Osten bis an den Rand des großen Meeres, bis an welches sich der indische Geist ausgebreitet hat. Seine Allgegenwart macht es zum Zeichen dafür, wie Lebensformen dieses Kontinentes, die weit auseinander zu liegen scheinen, untergründig miteinander verbunden sind.“
„Wenn es überall zu finden ist, dann haben es sicher auch die Römer gekannt.“
„Selbstverständlich. Die Römer schmückten ihre wichtigen Bauten mit diesem Ornament vor allen in der Kaiserzeit, deren gediegene Opulenz, aber auch deren Sinnlichkeit es sehr treffend zum Ausdruck bringt. Nicht selten wuchs die Ranke aus dem Schwanz von Löwen, Greifen und sonstigen Fabeltieren oder nach Art der Meerjungfrauen aus dem Unterleib eines Engels.“
„Wie Huhn und Ei.“
„Allerdings habe ich selten eine Akanthusranke gesehen, die plastischer und reicher gestaltet gewesen wäre, als diese. Auch die Bordüre in Form einer Akanthusblattwelle ist meisterlich gearbeitet. Der Pilaster könnte aus der Villa des Hadrian stammen. In seinem für die Kunst so glücklichen Zeitalter hat man derart edle und sorgfältige Arbeiten hergestellt. Ich muss davon unbedingt eine Zeichnung machen.“ Damit zog er Papier und Stift aus seiner Tasche und warf mit großer Schnelligkeit eine Skizze auf das Blatt.
„Deine Zeichnung ist nicht sehr genau“, sagte Salametti, der ihm über