Mythos, Pathos und Ethos. Thomas Häring
Читать онлайн книгу.Schräder dagegen schien völlig losgelöst von der Erde, er fühlte sich gut und strotzte nur so vor Selbstvertrauen. Nun würde es also wieder auf ihn ganz allein ankommen; eine Situation, die ihm mehr als vertraut war und die er mehr genoß als alle seine Genossen, weil er wußte, daß er sich auf sich selbst verlassen konnte. Der Bundeskanzler kannte natürlich die Umfragen, in denen die SPD 15 Prozent hinter der Union lag und dabei handelte es sich noch um die bereinigten Zahlen, bei der politischen Stimmung betrug der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD sage und schreibe 25 Prozent. Gerkel hatte ihn auch bei der Frage, wen sich die Deutschen als Kanzler oder Kanzlerin wünschen, deutlich überholt, aber nichtsdestotrotz waren seine persönlichen Werte viel besser als die seiner Partei, so wie er das schon seit jeher kannte. Es würde also wieder mal auf ihn ankommen, er wurde im Wahlvolk immer noch gut bewertet, ganz so, als ob er mit der rot-grünen Bundesregierung nicht wirklich was zu tun gehabt hätte. Vielleicht imponierte den Wählern aber auch in erster Linie seine Durchsetzungskraft und sein Durchhaltevermögen. Egal, auf jeden Fall war die Schlacht noch lange nicht verloren, man war bereits ganz unten, von daher konnte es nur noch besser werden. Bernhard Schräder war ein Profi und ein begnadeter Wahlkämpfer, er würde sich ganz bestimmt nicht kampflos geschlagen geben und die Vorbehalte gegenüber den schwarz-gelben Oppositionsparteien waren in der Bevölkerung weitaus stärker ausgeprägt als es die Meinungsumfragen erkennen ließen. Die Schlacht konnte also beginnen, würde der alte Kämpfer sie wieder gewinnen?
Ende Juni/Anfang Juli 2005: Mit dem Vertrauen war und ist es ja immer so eine Sache. "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser", lautete einer der Sprüche in jenem Zusammenhang. Nun wiederum sollten sich die SPD-Abgeordneten nach den Vorstellungen ihres Fraktionschefs Mützewirsing bei der Vertrauensfrage, welche der Kanzler Anfang Juli im Parlament stellen wollte, vertrauensvoll enthalten. Das führte zu Irritationen und durchaus lustigen Wendungen. Plötzlich sprachen ausgerechnet die größten Agenda-Kritiker ihrem Kanzler das Vertrauen aus; eben jene Leute, denen Schräder mißtraute und wegen denen er die Neuwahlen ausrufen hatte lassen. Eine ziemlich groteske Situation. Andere Genossen befürchteten wiederum, sie hätten im anstehenden Wahlkampf ein Glaubwürdigkeitsproblem und könnten es ihren Wählern nicht vermitteln, daß sie Schräder, obwohl der das ja so wollte, das Mißtrauen aussprachen, aber andererseits mit ihm an der Spitze in den Wahlkampf zogen. Das Leben war manchmal wirklich nicht leicht.
Es war also alles ein kleines bißchen kompliziert und es wurde auch dadurch nicht besser, daß es immer mehr Stimmen gab, die das ganze Spektakel für äußerst bedenklich hielten und nicht glaubten, daß das Bundesverfassungsgericht den Weg für Neuwahlen frei machen würde.
Darüber redeten auch die unmittelbar davon Betroffenen: "Du, Bernd, was machen wir eigentlich, wenn das mit den Neuwahlen doch nicht funktioniert?" wollte Mützewirsing wissen. "Dann haben wir die Arschkarte gezogen und müssen bis September 2006 weiter regieren", antwortete Schräder. "Das wäre ja furchtbar! Also auf den Nöler können wir uns, glaube ich, verlassen, was die Neuwahlen angeht." "Wollen wir das Beste hoffen. Eigentlich kann der ja gar nicht anders als den Weg freimachen, weil er es sich sonst mit Gerkel, Sträuber, und Festerbelle ein für allemal verschissen hätte." "Ganz genau. Aber die Klappe kann der auch nicht halten, von Vertraulichkeit hat der Typ scheinbar noch nie etwas gehört." "Allerdings, der Kerl ist wahrlich ein Schwätzer. Na ja, wenigstens steht der auf unserer Seite, zumindest in dieser Frage. Aber daß jetzt meine größten Kritiker in der Vertrauensfrage für mich stimmen wollen, das finde ich schon sehr makaber." "Da geht es mir ganz genauso, so eine verlogene Bande." "Man merkt, daß Du Deinen Laden überhaupt nicht mehr im Griff hast, Mütze." "Das kann man wohl sagen. Egal, Augen zu und durch heißt es jetzt. Hoffentlich macht das blöde Verfassungsgericht mit. Dort sieht man es ja überhaupt nicht gerne, wenn ein Kanzler plötzlich Neuwahlen möchte, nur weil es mit dem Regieren nicht mehr so leicht geht." "Die sollen sich mal nicht so haben. Noch ein Jahr mit uns an der Regierung und Deutschland ist endgültig am Boden. Ich habe denen eine Steilvorlage geliefert, die müssen sie jetzt nur noch verwandeln." "Das sind Richter, keine Fußballer." "Leider." Daraufhin machten sich die Beiden vom Acker.
10.07.2005: Die Grünen gab es ja auch noch und die machten sich das Leben mal wieder selber schwer, eine Disziplin, in der sie richtig gut waren. Auf einmal wurde gefordert, man müsse neben Ansgar Mischer noch eine Spitzenkandidatin aufstellen, weil das mit der Doppelspitze bei den Grünen so üblich und quasi Vorschrift sei und um Frau Gerkel von der CDU eine Frau entgegenzusetzen. Gerade noch konnte der Zwergenaufstand der Basis von den Parteioberen niedergeschlagen werden, aber es waren mal wieder unschöne Bilder, die da ins Land gesendet wurden. Die Wähler bestraften Selbstbeschäftigung bei den Parteien meist mit Liebes- sowie Stimmentzug, von daher würde sich der alleinige Spitzenkandidat der Grünen, Bundesaußenminister Mischer, mächtig ins Zeug legen müssen. Schwarz-Gelb wollte man verhindern, aber auf Rot-Grün hatte man nach all den Jahren auch nicht mehr richtig Bock und wenn die Linken ins Parlament kamen, dann würde es ohnehin eine Große Koalition geben. Von daher präsentierte man ein ambitioniertes eigenes Programm, mit dem man sich beispielsweise von CDU/CSU distanzierte, welche eine Erhöhung der Mehrwertsteuer forderten.
Genau jene Forderung sorgte für Unruhe beim potentiellen Koalitionspartner. Die FDP sprach sich klar und deutlich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer aus, ließ aber zugleich verlauten, an jener Frage werde eine Koalition mit der Union nicht scheitern. Man hoffte also auf enttäuschte potentielle CDU/CSU-Wähler, die man einzufangen gedachte. Na ja, in der Union selbst gab es Stimmen, die verlangten, man müsse den Leuten vor der Wahl sagen, was man nach der Wahl vorhabe, aber Andrea Gerkel hätte das lieber vermieden, um keine potentiellen Wähler/innen zu verschrecken. Noch hatte man einen ausreichenden Vorsprung in den Umfragen, aber Kanzler Schräder war alles zuzutrauen. Festerbelle riet seiner Duz-Freundin Andrea von einem Fernsehduell mit dem Medienkanzler ab, doch sie war nicht die Frau, die sich von einem Mann, noch dazu einem im Vergleich zu ihr politischen Leichtgewicht, gute Ratschläge geben ließ. Schließlich hatte sie schon genügend andere Männer im Laufe ihres politischen Lebens aus dem Weg geräumt oder links liegen gelassen. Ihre große Stärke bestand darin, daß sie oft sowie gerne unterschätzt wurde und deshalb blieb sie ruhig sowie gelassen, denn wenn sich die Union keine großen Fehler leistete, dann war ihr der Wahlsieg am 18.September 2005 nicht mehr zu nehmen. Nicht einmal das Bundesverfassungsgericht konnte und würde ihren Siegeszug stoppen, davon war die Frau felsenfest überzeugt.
22.07.2005: "Bundespräsident löst das Parlament auf - Nöler gibt Weg für Neuwahl frei", lautete die Schlagzeile in der SZ. Es war also endlich vollbracht. Um 20.15 Uhr am 21.07.2005 erschien plötzlich der Thorsten auf den bundesdeutschen Bildschirmen und schwafelte was von Untergang und Chaos, wenn es nicht bald eine Neuwahl geben würde, weshalb er sich nach sorgfältiger Abwägung der verschiedenen Interessen sowie Argumente und Anhörung aller Seiten eben doch für diesen Schritt entschieden hätte. Vorher hatte es ein genervtes Warten auf die Entscheidung des Bundespräsidenten gegeben, denn der ließ lange nichts von sich hören, um dann plötzlich doch aus der Versenkung heraus aufzutauchen und den Startschuß für den Wahlkampf, der bereits längst schon angelaufen war, zu geben. Nun ja, jeder hatte halt mal sein eigenes Tempo und daß er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht hatte, das glaubte man dem Nöler Thorsten sofort. Doch damit ging der Zirkus erst so richtig los, denn nun machten sich zwei Abgeordnete aus dem Regierungslager (eine SPD-Frau und ein Grüner) auf den Weg zum Bundesverfassungsgericht, um dort gegen die Neuwahlentscheidung des BP zu klagen. Außerdem echauffierten sich etliche Kleinparteien darüber, daß sie innerhalb kürzester Zeit Tausende von Unterstützerunterschriften abzuliefern hatten, um für die Wahl zugelassen zu werden, was in der Kürze der verbleibenden Zeit aber überhaupt nicht machbar wäre. Auch sie begaben sich nach Karlsruhe um zu klagen.
Ganz anders sah die Stimmungslage selbstverständlich beim Bundeskanzler aus. Der war hochzufrieden, schließlich hatte der Bundespräsi seiner Einschätzung zugestimmt und so konnten die Dinge genau den Lauf nehmen, den er sich vorgestellt hatte. Manchmal klappte alles eben doch wie am Schnürchen.
Nicht alle freuten sich jedoch über jene Entscheidung, insbesondere Juristen und Verfassungsexperten sahen das Ganze sehr skeptisch und hofften nun darauf, daß das BVG dem unwürdigen Spuk ein Ende bereiten würde. Es blieb also weiterhin spannend und das war für die Medien natürlich eine feine Sache.
Ende