Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch


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den Transport an die russische Grenze, die Auslieferung an Väterchens Gendarmen, das Schleppen von Gefängnis zu Gefängnis, die Anklage und die Verurteilung, den Transport nach Sibirien und endlich den vieljährigen Aufenthalt in Kara unter den politischen Gefangenen, der mit Entlassung in die Strafkolonie („freies Kommando“) und der Flucht aus Sibirien über Japan nach San Francisco endigt.

      Wie Leo Deutsch, so befanden und befinden sich in Sibirien Tausende von intelligenten jungen Leuten, die in ihrem Wissen und Können von der Regierung zurückgewiesen und schließlich in ihrer bürgerlichen Existenz vom Zarismus zu Boden getreten worden sind, die „unter anderen Verhältnissen ihrem Vaterland unschätzbare Dienste hätten leisten können“.

       Bis in die achtziger Jahre stellten das Kontingent zu den „Staatsverbrechern“ hauptsächlich die Studierenden der russischen Hochschulen und zum kleinen Teile auch die Offiziere der Armee: heute stellt auch der russische Arbeiter einen erheblichen Teil zu den „Staatsverbrechern“, wodurch die Physiognomie der Verbannten eine wesentlich andere, eine volkstümliche wird. Bei jedem Streik werden „Arbeiter-Führer“ aus der Menge herausgeholt und „nach Sibirien“ verurteilt, damit sie dort über die Weisheit Väterchens nachdenken können.

      Solche sich immer stärker wiederholende Vorgänge zeitigen aber auch eine Wirkung im Inneren des europäischen Russland. Der Ruf nach Beseitigung des autokratischen Regiments ertönte früher nur aus den Reihen der Intelligenz, der Arbeiterstand verhielt sich dem gegenüber indifferent. Die Entwicklung der Industrie häuft große Arbeitermassen an einzelnen Orten zusammen. Die häufigen Bekanntschaften mit den Nagaiken der Kosaken und den Hinterladern der Soldaten haben den Arbeitern in überzeugender Weise demonstriert, dass ihr Feind nicht nur der Kapitalismus, sondern auch der despotische Zarismus ist; laut und deutlich ertönt auch aus den Arbeiterreihen der Ruf: Nieder mit dem Zarismus! Natürlich, jetzt wird den Polizeiseelen Russlands der Boden heiß unter den Füßen, und die immer stärkere Anwendung von Unterdrückungsmaßregeln gegen die Arbeiter zeigt die Ohnmacht der offiziellen Vertreter der Autokratie; denn kaum ist hier ein Aufstand zu Boden geknüppelt, so bricht er an einer anderen Stelle mit doppelter Heftigkeit wieder aus.

      Mit der Beteiligung der Arbeiterklasse am politischen Kampfe in Russland ist der Autokratie ein Gegner erwachsen, den sie nicht bezwingen kann, vor dem sie kapitulieren muss.

      * * *

       Anlässlich eines in Königsberg anhängig gemachten Geheimbundprozesses gegen deutsche Staatsangehörige, die angeblich russische revolutionäre Schriften über die russische Grenze haben schmuggeln wollen, wurde eine Interpellation vom Abgeordneten Haase im Reichstag eingebracht, bei deren Besprechung der Reichskanzler auch den Fall Deutsch anführte, um darzutun, dass die preußische deutsche Politik von heute derjenigen Bismarcks der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in allem gleichwertig sei.

      Graf v. Bülow führte folgendes aus:

      „Unsere Akten bieten ein reichhaltiges Material für die Beurteilung der Methode, welche Fürst Bismarck in solchen Fragen für die dem deutschen Interesse entsprechende hielt. Ich will nur zwei Fälle herausgreifen. Der eine Fall betrifft die in den Jahren 1881 und 1882 spielende Angelegenheit der Ausweisung des russischen Staatsangehörigen Stanislaus Mendelssohn, der andere die Auslieferung des russischen Staatsangehörigen Leon Deutsch-Buligin vom Jahre 1884. „Mendelssohn sollte einer von uns der russischen Regierung erteilten Zusage gemäß nach der russischen Grenze hin ausgewiesen und den russischen Grenzbehörden überliefert werden. Die russischen Behörden wurden jedoch nicht rechtzeitig benachrichtigt, und so gelang es Mendelssohn, zu entkommen, ehe die Übergabe an die russischen Behörden erfolgen konnte. Darüber enthalten nun die Akten folgendes. In einem Schreiben an den Justizminister und an den Minister des Inneren sagt der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, also der Vertreter des Reichskanzlers Fürsten v. Bismarck:

Grafik 46

      (Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, ab 1865 Graf von Bismarck-Schönhausen, ab 1871 Fürst von Bismarck, ab 1890 auch Herzog zu Lauenburg (* 1. April 1815 in Schönhausen (Elbe); † 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Aumühle), war ein deutscher Politiker und Staatsmann)

      ‚Die russische Regierung legt großen Wert darauf, des Mendelssohns habhaft zu werden, und ich halte es aus politischen Rücksichten für angezeigt, diesem Wunsche unsererseits tunlichst entgegenzukommen. Die Ausweisung würde rechtlich zulässig sein, selbst wenn sie nur aus Gefälligkeit gegen die russische Regierung geschähe.‘

       „Sodann heißt es in einem Erlass nach St. Petersburg: Ew. pp. wollen sich darüber Gewissheit verschaffen, ob seitens der russischen Regierung ... betreffs dieser Ausweisung ( i. e. Mendelssohn und Genossen) noch besondere Wünsche bestehen. In einem damaligen Memorandum des Auswärtigen Amtes über den Fall Mendelssohn hieß es am Schluss: Russischerseits wird dieser Ausgang der Sache unseren inneren Behörden als ein Mangel an Willfährigkeit ausgelegt. Dazu bemerkt Fürst v. Bismarck in einem eigenhändigen Marginal: ‚Mit vollem Recht, und das Verhalten steht mit den Anstrengungen, die ich mache, um Vertrauen in Petersburg zu wecken, in einem für unsere russischen Beziehungen schädlichen Widerspruch.‘ „Endlich finden sich in einem vom Fürsten v. Bismarck selbst unterzeichneten Erlasse an unseren damaligen Geschäftsträger in Petersburg folgende Sätze: ‚Das eingeschlagene Verfahren steht mit meinen Intentionen in direktem Widerspruch, und ich bedaure lebhaft, dass ... der russischen Regierung begründeter Anlass gegeben worden ist, an der Aufrichtigkeit der ihr früher erteilten Zusage zu zweifeln.‘ Deutsch, der von der russischen Regierung als Nihilist bezeichnet wurde, war auf deren Antrag von der badischen Regierung ausgeliefert und später vom Militärbezirksgericht in Odessa zu Zwangsarbeit verurteilt worden. Zur Charakteristik des Standpunkts des ersten Reichskanzlers dienen folgende Stellen aus den Fall Deutsch betreffenden Akten des Auswärtigen Amtes. In einem Erlass an den preußischen Gesandten in Darmstadt sagt im Auftrag des Fürsten Bismarck der Staatssekretär Graf Hatzfeldt:

Grafik 49

      Melchior Hubert Paul Gustav Graf von Hatzfeldt zu Wildenburg – 1831 – 1901

      ‚Ich bemerke ergebenst, dass es für unsere politischen Beziehungen zu Russland nützlich sein würde, wenn in diesem Falle dem berechtigten Wunsche der russischen Regierung, eines von ihr als gefährlich und verwegen bezeichneten, aus russischen Gefängnissen flüchtig gewordenen russischen Revolutionärs habhaft zu werden, unsererseits entgegengekommen werden könnte.‘ Ein Schreiben desselben Staatssekretärs an das Großherzoglich badische Staatsministerium enthält folgenden Passus: ‚Da der Deutsch in Russland wegen gemeiner Verbrechen verfolgt wird und überdies aus politischen Gründen Wert darauf zu legen ist, in diesem Falle den Wünschen der russischen Regierung gerecht zu werden, glaube ich mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass das Großherzogliche Staatsministerium bereit sein werde, seine Mitwirkung dazu eintreten zu lassen, um den Verhafteten in die Hände der russischen Behörden zu liefern.‘ In einem über diese Angelegenheit Seiner Majestät dem Kaiser erstatteten Immediatbericht sagt Fürst Bismarck: ‚Für den Fall jedoch, dass sich diese Beibringung

       – nämlich der zur Auslieferung erforderlichen Beweisstücke – verzögern sollte, wünscht sie – nämlich die russische Regierung –, dass die Ausweisung des Genannten in einer Weise ausgeführt werde, welche es den russischen Behörden ermögliche, ihn auf russischem Gebiet zu ergreifen. Seine Majestät der Kaiser von Russland nimmt persönlich großes Interesse daran, dass der von seiner Regierung ausgesprochene Wunsch erfüllt werde. Für die Pflege unserer Beziehungen zu Russland ist es nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten von Wichtigkeit, dass unsererseits alles geschieht, um dem gedachten Wunsche zu entsprechen.‘ In einem ebenfalls von dem Fürsten selbst unterschriebenen Erlass an das Großherzoglich badische Staatsministerium heißt es: ‚Seine Majestät der Kaiser von Russland legt großen Wert darauf, dass dieser gefährliche und in anderen Verbrechen implizierte Nihilist in Russland zur Untersuchung gezogen werden könne. Die Erfüllung oder Versagung dieses Begehrens wird deshalb nicht ohne Rückwirkung auf die Empfindungen bleiben, welche der Kaiser Alexander der deutschen Politik gegenüber hegt, und welche durch unsere auswärtige Politik im Interesse des Friedens


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