Charles Dickens. Charles Dickens

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Charles Dickens - Charles Dickens


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meines beständigen Grübelns gegen Mrs. Rachael, die immer mein Licht fortnahm, wenn ich zu Bette gegangen, und unsere einzige Dienerin war. Aber sie sagte jedes Mal nur: »Esther, gute Nacht!« und ging fort und ließ mich allein.

      Obgleich sich sieben Mädchen in der nahen Schule befanden, wo ich Unterricht erhielt, und sie mich die kleine Esther Summerson nannten, so war ich doch bei keinem von ihnen je zu Besuch gewesen. Alle waren weitaus älter als ich, aber es schien noch eine andere Scheidewand zwischen uns zu bestehen außer dem Umstande, daß sie, älter und klüger als ich, mehr wußten. Eine von ihnen lud mich in der ersten Woche meiner Schulzeit, wie ich mich noch genau erinnere, zu meiner großen Freude zu einem kleinen Fest ein. Aber meine Patin schrieb einen steifen Absagebrief, und ich durfte nicht hingehen. Ich kam nie auf Besuch in andere Häuser.

      Mein Geburtstag war wieder gekommen. Den andern bedeuteten Geburtstage Feiertage – mir niemals; die andern hatten bei solchen Gelegenheiten Festlichkeiten zu Hause, wie ich sie einander erzählen hörte; – ich niemals. Mein Geburtstag war die langen Jahre hindurch der trübste Tag meines Lebens.

      Wenn mich meine Eitelkeit nicht täuscht, was wohl der Fall sein kann, denn so etwas weiß man nicht selber, so wird meine Fassungskraft mit meiner Zuneigung geweckt. Ich habe ein liebebedürftiges und weiches Gemüt, und vielleicht würde ich noch heute eine solche Wunde, wie ich sie damals an meinem Geburtstag empfing, wenn man sie mehr als einmal überhaupt erleiden kann, ebenso tief fühlen wie zu jener Zeit.

      Das Mittagessen war vorüber, und meine Patin und ich saßen am Tisch vor dem Feuer. Die Uhr tickte, das Feuer knisterte, und kein anderer Ton war hörbar im Zimmer und im Hause –, ich weiß nicht, wie lange Zeit schon. Ich erhob zufällig die Augen schüchtern von meiner Näharbeit und sah, wie mich meine Patin über den Tisch hinweg trübe anblickte, als wollte sie sagen: Es wäre viel besser, kleine Esther, wenn du niemals einen Geburtstag gehabt hättest und niemals geboren worden wärest.

      Ich fing an zu schluchzen und zu weinen: »Ach liebe Patin, sage mir, bitte, sage mir, starb Mama an meinem Geburtstag?«

      »Nein«, war die Antwort. »Frage mich nicht weiter, Kind.«

      »Bitte, sage mir etwas von ihr! Nur ein Wort! Ich bitte dich, liebe Patin! Was hab ich ihr getan? Wie hab ich sie verloren? Warum bin ich so verschieden von andern Kindern, und was kann ich dafür, liebe Patin? Nein, nein, nein, geh nicht fort! O sag es mir!«

      Eine Angst, die größer war als mein Schmerz, hatte mich befallen, und ich hielt meine Patin am Kleide fest und kniete vor ihr nieder.

      Bis jetzt hatte sie fortwährend gesagt: »Laß mich gehen«, aber plötzlich blieb sie stehen.

      Der finstere Ausdruck ihres Gesichtes übte eine solche Gewalt auf mich aus, daß ich mitten in meiner Verzweiflung innehielt. Ich wollte mit meiner zitternden Hand die ihre fassen und von ganzer Seele um Verzeihung bitten, zog sie aber bei ihrem Blick schnell wieder zurück, und das Herz klopfte mir. Sie hob mich auf, setzte sich in ihren Stuhl und sprach in kaltem gedämpftem Ton zu mir – ich sehe sie mit gerunzelter Stirn und strafend erhobenem Finger noch heute vor mir –:

      »Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du warst ihre. Die Zeit wird früh genug kommen, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es nur ein Weib kann. Ich habe ihr verziehen« – das Gesicht meiner Patin zeigte nicht den geringsten Zug von Versöhnlichkeit- »ich habe ihr verziehen, was sie mir Böses getan hat, und spreche nicht mehr davon, obgleich ihr Unrecht größer war, als du jemals erfahren wirst oder irgend jemand außer mir, die ich davon betroffen wurde, ahnen kann. Was dich betrifft, unglückliches Kind, warst du verwaist und beschimpft vom ersten unseligen Geburtstag an; bete du täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen, wie es geschrieben steht. Vergiß deine Mutter und hindere nicht, daß die Menschen es tun; deinetwegen. Jetzt geh.«

      Sie hielt mich, als ich wortlos gehen wollte – so bis ins Innere erstarrt war ich – noch einmal fest und setzte hinzu:

      »Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung, Fleiß sind die Wegzeichen für ein Leben, das mit einem solchen Flecken begonnen hat. Du bist anders als die andern Kinder, Esther, weil du nicht wie sie in gemeinsamer Sündhaftigkeit und im Zorne geboren bist. Du bist gezeichnet.«

      Ich schlich in mein Kämmerchen hinauf und kroch ins Bett und legte das Gesicht meiner Puppe an meine tränennasse Wange, und mit dieser einzigen Freundin an der Brust weinte ich mich in Schlaf. So wenig ich mir auch über meinen Schmerz klar werden konnte, so wußte ich doch, daß ich zu keiner Zeit jemand eine Freude gewesen, und niemand auf Erden mich so lieb hatte wie ich meine Puppe.

      Ach Gott, ach Gott, wie oft und lange wir später allein miteinander verbrachten und ich der Puppe die Geschichte meines Geburtstages erzählte und ihr anvertraute, wie sehr ich mich bemühen wollte, den Fehler, der mir mit meiner Geburt anhaftete, wieder gutzumachen und mich zu bestreben, mit den Jahren fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu werden und mir eines Menschen Liebe zu gewinnen, wenn es mir gelingen sollte, und ihm alles nur mögliche Gute zu tun! Vielleicht ist es selbstgefällig, wenn ich bei dem Gedanken daran jetzt noch Tränen vergießen muß. Ich denke mit großer Dankbarkeit zurück und bin fröhlich, aber doch kann ich nicht verhindern, daß sie mir in die Augen treten.

      – So! Jetzt hab ich sie weggewischt und kann wieder fortfahren.

      Ich war mir der großen Kluft zwischen meiner Patin und mir seit jenem Geburtstag nur noch mehr bewußt und empfand so sehr, in ihrem Hause einen Platz einzunehmen, der leer hätte sein sollen, daß es mir schwerer wurde, mich ihr zu nähern als je, so innig verpflichtet ich mich ihr im Herzen auch fühlte.

      Genau so empfand ich gegen meine Mitschülerinnen und gegen Mrs. Rachael, die Witwe war, und gegen ihre Tochter, auf die sie sehr stolz war und die sie einmal alle vierzehn Tage besuchte. Ich blieb sehr schüchtern und still und bemühte mich nach Kräften, fleißig zu sein.

      An einem sonnigen Nachmittag, als ich eben mit meiner Mappe ans der Schule gekommen war und den langen Schatten neben mir beobachtete und wie gewöhnlich die Treppe hinauf in mein Kämmerchen eilen wollte, öffnete meine Patin die Wohnzimmertür und rief mich hinein. Bei ihr saß ein Fremder, was etwas sehr Ungewöhnliches war: ein behäbiger, wichtig aussehender Herr, ganz schwarz gekleidet, mit einer weißen Halsbinde, großen goldnen Petschaften an der Uhrkette, einer goldnen Brille und einem großen Siegelring am kleinen Finger.

      »Das ist das Kind«, sagte meine Patin mit verhaltener Stimme zu ihm. Dann setzte sie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Ton hinzu:

      »Das ist Esther, Sir.«

      Der Herr setzte seine Brille auf, sah mich an und sagte:

      »Komm zu mir, liebes Kind!«

      Er reichte mir die Hand und hieß mich den Hut abnehmen und betrachtete mich unablässig dabei. Als ich seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er: »Ah! Ja!« nahm seine Brille ab, steckte sie in ein rotes Futteral, lehnte sich in den Armstuhl zurück und nickte meiner Patin zu und spielte mit dem Etui. Darauf fing meine Patin wieder an:

      »Du kannst hinaufgehen, Esther.« Ich machte dem Herrn meinen Knicks und ging.

      Es muß zwei Jahre später gewesen sein, und ich war fast vierzehn Jahre alt, als ich an einem Abend, an den ich voll Entsetzen zurückdenken muß, mit meiner Patin vor dem Kamine saß. Ich las ihr vor. Ich war, wie immer, um neun Uhr heruntergekommen, um ihr aus der Bibel vorzulesen, und hielt gerade bei der Stelle im Evangelium Johannis, wo es heißt, daß unser Erlöser sich niederbückte und mit dem Finger auf die Erde schrieb, als sie die Ehebrecherin vor ihn brachten: Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

      Ich hielt inne, denn meine Patin stand auf, legte ihre Hand an die Stirn und rief mit schrecklicher Stimme den Satz aus der Bibel: So wachet nun, auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich euch allen: wachet.

      Sie stand vor mir und wiederholte diese Worte. Dann brach sie plötzlich zusammen. Ich brauchte nicht um Hilfe zu rufen; ihre Stimme


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