Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer
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Hugo Bettauer
Die freudlose Gasse
Inhaltsverzeichnis
Die Erlebnisse eines Lehrbuben.
Zurück in die freudlose Gasse.
Die Perlen der Liane Christens.
Eine Enttäuschung und ihre Folgen.
Flucht aus der freudlosen Gasse.
Melchiorgasse 55.
Das Haus Nr. 55 in der Melchiorgasse, die sich im VII. Wiener Bezirk bis zum Gürtel erstreckt, entstammt der Jahrhundertwende. Wurde also zu einer Zeit gebaut, da Hausbesitzer sein einen Lebensberuf bedeutete. Man war Hausherr wie man Advokat oder Fabrikant war. Die Frau des Hausbesitzers war die Hausbesitzersgattin, der Sohn ein Hausherrensohn. Unter allen Großstadtdrohnen war der Hausbesitzer die stärkste und brutalste. In anderen Städten war ein Haus sichere Kapitalsanlage, in Wien oft ausschließlicher Erwerb. Es galt aus einem Haus so viel Profit wie möglich herauszuschlagen, also mit schlechtem Material zu bauen, mit jedem Quadratzentimeter Raum zu sparen, Öfen aufzustellen, die nichts kosteten und auch nicht heizten, die Luft und das Licht in Kabinette zu verwandeln, aus einem Loch, das kaum für eine Speisekammer genügen würde, ein Schlafzimmer zu machen. Moderner Wohnungsluxus, wie ihn andere Städte haben, gab und gibt es in Wien nicht, beschränkte sich auf einige Dutzend Mietpaläste, die nur für die ganz Reichen in Betracht kommen.
Das Haus Nr. 55 in der Melchiorgasse ist der Typus des neueren Wiener Miethauses mit finsteren Korridoren, stockdunklen Nebenräumen, abgestohlenen Badezimmern, schäbigem Talmiluxus und einer Fassade voll von abscheulichen, angeklecksten Ornamenten aus Kalk und Mörtel.
Dieses Haus betrat an einem Spätherbstabend, da es schon recht dunkel war, ein großer, kräftiger Herr, der, vielleicht um sich vor dem feuchten Nebel zu schützen, den Kragen seines eleganten, hochmodernen englischen Ulsters so hoch aufgeschlagen hatte, daß er den schwarzen Spitzbart und die untere Partie des Gesichtes bedeckte. Hastig, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe ins Mezzanin, sperrte eine Türe auf, deren Schild den Namen Barbara Merkel enthielt, querte das total dunkle Vorzimmer und blieb vor einer kleinen Türe, die in die Küche der Wohnung führte, zögernd stehen. Mit halblauter, gepreßter, wie es schien verstellter Stimme rief er:
"Frau Merkel!"
Eine schlampige, beleibte Frau mit vorgetriebenem Bauch öffnete die Türe, aus der dem Herrn der Geruch von ranzigem Fett entgegenschlug.
"Alles in Ordnung, Herr Doktor, das Bett hab‘ ich frisch überzogen, die Kopfpolster auch. Aber bitt‘ schön, Herr Doktor, das Waschen kostet ja jetzt so viel Geld, ich tät schon bitten, etwas zuzulegen."
Der Herr, der im dunklen Vorzimmer stehen geblieben war, brummte knurrend: "Schon recht, am Ersten werde ich das schon machen. Ich wollte Ihnen nur sagen, wenn es zweimal hintereinander läutet, so werde ich öffnen und Sie lassen sich nicht blicken." "Aber Herr Doktor, auf mich können Sie sich verlassen, wie auf den lieben Herrgott, bei mir sind schon so viele Damen aus- und eingegangen, ich kümmere mich um keine und wenn ich einer auf der Treppe begegnet bin, hab‘ ich immer weggeschaut. Diskretion, das ist Ehrensache bei mir. Das hat auch der letzte Herr vor Ihnen, der was Beamter im Finanzministerium war, so gerühmt. Er ist immer mit der Frau von einem Notar aus der Inneren Stadt gekommen – jetzt fällt mir der Name nicht ein, gleich wer ich‘s wissen – und – –"
Der große Herr mit dem Spitzbart unterbrach den Redestrom der diskreten Zimmervermieterin und wollte sich zurückziehen. Frau Merkel rief ihm nach:
"Herr Doktor, bitt‘ schön, nicht wahr, vor zehn Uhr gehen Sie weg? Es ist wegen der Hausmeisterin. Das Luder tät sonst zum Mietamt laufen und mich anzeigen, damit man mir das Zimmer anfordert oder mich gar ganz hinausschmeißt." "Jawohl, so wie wir es ausbedungen haben: vor zehn Uhr sind wir wieder fort."
Der Herr zog sich nun endlich in das gemietete Absteigequartier zurück, knipste das Licht an, sperrte hinter sich die Türe ab und begann, nachdem er Rock und Hut abgelegt, sich vor dem großen Schrankspiegel sorgfältig des falschen Spitzbartes zu entledigen. Ohne Zwicker, bartlos, hätte höchstens ein sehr kundiger Detektiv in ihm den Herrn von vorhin erkannt. Er trug Frack und Lackstiefel, sah sehr distinguiert aus, wenn auch die Perlen in der Hemdbrust dem Anschein nach nicht echt waren.
Bart und Zwicker steckte er in die weiten Taschen des Ulsters, dann zündete er den kleinen Gasofen in der Ecke des großen, mit billiger Eleganz möblierten Zimmers an, setzte eine Zigarette in Brand und ging ungeduldig auf und ab. Die gerunzelte Stirne, das nervöse Kauen an den langen wohlgepflegten Fingernägeln, die zusammengekniffenen Lippen deuteten auf innere Unruhe und schwere Gedanken.
Das Rattern eines Autos wurde vernehmbar, der Herr sperrte auf, trat in das finstere Vorzimmer, lauschte hinaus. Jetzt zweimal ein schrilles Tönen der Klingel, der Herr ohne Bart öffnete die Wohnungstür, flüsterte "Grüß Gott, Lia", nahm die Eintretende am Arm und führte sie in das Zimmer. Frau Merkel, die durch das Schlüsselloch der Küchentür schaute, konnte zu ihrem Bedauern nicht das mindeste von der fremden Dame sehen und begab sich wieder zu ihren Kochtöpfen.
Die schlanke, junge Frau riß den kostbaren Chinchillapelz auf.
"Du,