Die Herren von Hermiston. Robert Louis Stevenson

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Die Herren von Hermiston - Robert Louis Stevenson


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       Vater und Sohn

      Mylord, der Oberrichter, war vielen bekannt, der Mensch, Adam Weir, wohl niemandem. Der hatte nichts zu zeigen oder zu verbergen; der war restlos und schweigend sich selbst genug; und jener Teil unserer Natur, welcher (nur allzuoft mit falscher Münze) Ruhm und Liebe zu erwerben sucht, war bei ihm anscheinend vergessen worden. Er strebte nicht nach Liebe, er fragte nicht danach, ja höchstwahrscheinlich war ihm nicht einmal der Gedanke an sie je gekommen. Er war ein vielbewunderter Jurist, ein äußerst unbeliebter Richter und sah herab auf alle, die in diesen beiden Eigenschaften, sei es als weniger scharfsinnige Juristen oder als minder verhaßte Richter, unter ihm standen. Sonst war in all seinem Leben und Wirken keine Spur von Eitelkeit; er durchmaß das Dasein fast wie ein Nachtwandler, mit einem mechanischen Rhythmus, der an das Erhabene grenzte.

      Seinen Sohn sah er nur selten. Wenn die üblichen Kinderkrankheiten den Jungen heimsuchten, pflegte er sich täglich nach ihm zu erkundigen und ihm täglich einen Besuch abzustatten, wobei er das Krankenzimmer mit einem fürchterlichen, humoristisch sein wollenden Ausdruck betrat, pflichtgemäß ein paar Scherze vom Stapel ließ und sich zu des Patienten Erleichterung sehr bald wieder entfernte. Einmal, als die Gerichtsferien in einen gelegenen Moment fielen, ließ Mylord seinen Wagen vorfahren und brachte das Kind persönlich nach Hermiston, dem gewöhnlichen Erholungsort. Es ist anzunehmen, daß er sich in diesem Falle ganz besonders um Archie sorgte, denn jene Reise stand einzig da in des Jungen Gedächtnis, da der Vater ihm von Anfang bis zu Ende und mit allen Einzelheiten drei authentische Mordfälle auseinandersetzte. Archie durchlief den üblichen Bildungsgang der Edinburger Jugend: das Gymnasium und die Universität, und Hermiston sah ihm von ferne zu, oder richtiger blickte hinweg, ohne auch nur ein schwaches Interesse für seine Fortschritte zu heucheln. Täglich nach dem Diner wurde Archie auf ein Zeichen zu ihm hereingeführt, erhielt eine Handvoll Nüsse und ein Glas Portwein und wurde einer sardonischen Musterung sowie einem sarkastischen Verhör unterzogen. »Nun, junger Mann, was haben wir heute gelernt?« lautete Mylords gewöhnliche Begrüßung, und zugleich ging er dazu über, ihm auf Juristenlatein allerlei Fragen zu stellen. Für ein Kind, das sich gerade durch seinen Corderius durchackerte, erwiesen Papinian und Paul sich als unüberwindlich. Aber Papa hatte alles andere selbst verlernt. Er war nicht etwa hart gegen den angehenden kleinen Gelehrten, da er sich vom Richterstuhl her einen unermeßlichen Vorrat an Geduld angeeignet hatte, aber ebensowenig gab er sich Mühe, seine Enttäuschung auszudrücken oder zu verbergen. »Na, du hast ja noch eine nette Strecke Wegs vor dir!« – so ungefähr lautete sein Kommentar, und in zwei Fällen von vier versank er sogleich von neuem in seine Gedanken, bis die Stunde des Schlafengehens schlug und er Karaffe und Glas ergriff und sich in sein Hinterzimmer mit dem Blick über die Meadows zurückzog, um dort noch bis tief in die Nacht hinein seine Akten zu bearbeiten. Im ganzen Richterkollegium gab es keinen beschlageneren Menschen; sein Gedächtnis war schier wunderbar, obwohl lediglich auf juristische Dinge beschränkt; galt es extempore zu arbeiten, so kam ihm keiner gleich, und doch war niemand so sorgfältig vorbereitet wie er. Wenn er so die Nächte durchwachte oder bei Tisch die Gegenwart seines Sohnes vergaß, schöpfte er ohne Zweifel tief aus verborgenen Genüssen. Gleich ihm sich völlig einer einzigen intellektuellen Übung hingeben bedeutet den sicheren Erfolg im Leben; und vielleicht vermögen nur die Jurisprudenz und die höhere Mathematik ohne Reaktion eine derartige Hingabe zu erzeugen und ohne Erregungen so unerschöpflichen Lohn zu spenden. Diese Atmosphäre gediegensten Fleißes war der beste Teil von Archies Erziehung. Sicherlich bot sie ihm nicht die leisesten Reize; sicherlich stieß sie ihn eher ab und bedrückte ihn. Und doch war sie allgegenwärtig, unauffällig wie das Ticken einer Uhr, ein dürres Ideal, ein unschmackhafter Stimulans in des Knaben Leben.

      Aber Hermiston war nicht völlig aus einem Holze. Er war auch ein gewaltiger Zecher, der bis zum Morgengrauen beim Wein zu sitzen vermochte und sich dann direkt von der Tafel weg mit fester Hand und klarem Kopf auf den Richterstuhl begab. Nach der dritten Flasche verkündete er in immer größer werdenden Lettern den Plebejer; der breite, gewöhnliche Akzent wurde breiter, der gemeine, schmutzige Humor noch gröber; er wirkte jetzt weniger schreckenerregend, aber unendlich viel abstoßender. Nun hatte aber der Junge von Johanna Rutherford ein mimosenhaftes Zartgefühl geerbt, das sich nur schlecht mit einer Anlage zum Jähzorn paarte. Auf dem Spielplatz unter seinen Altersgenossen vergalt er einen gemeinen Ausdruck mit einem Hieb, an seines Vaters Tisch (als die Zeit kam, da er an dessen Gelagen teilnehmen mußte) erbleichte er und versank in angeekeltes Schweigen. Von allen Gästen, die er dort traf, vertrug er nur einen einzigen: David Keith Carnegie, Lord Glenalmond. Lord Glenalmond war hochgewachsen und hager mit schlanken, zarten Händen; man hatte ihn häufig mit Forbes Statue von Cullodon im Parlamentshaus verglichen, und seine blauen Augen hatten, selbst über die Sechzig hinaus, sich noch etwas von dem Feuer der Jugend bewahrt. Der vollendete Gegensatz, den er zu den anderen Gästen bot, seine Erscheinung, die der eines Künstlers und Aristokraten glich, welcher unversehens in rüde Gesellschaft geraten ist, fesselten des Knaben Aufmerksamkeit; und da Neugier und Interesse diejenigen Dinge sind, die auf dieser Welt den raschesten und sichersten Lohn ernten, fühlte sich Lord Glenalmond auch seinerseits von dem Knaben angezogen.

      »Das ist also Ihr Sohn, Hermiston?« fragte er und legte seine Hand auf Archies Schulter. »Er wird mal ein großer Junge werden!«

      »Pah!« sagte der gnädige Vater. »Ganz seiner Mutter Ebenbild – wagt nicht, buh zu 'ner Gans zu sagen!«

      Aber der Fremde hielt den Jungen fest, verwickelte ihn in ein Gespräch über sich selber und entdeckte in ihm einen Geschmack an Büchern sowie eine reine, begeisterungsfähige, bescheidene jugendliche Seele. Er lud ihn ein, ihn an Sonntagabenden in seinem kahlen, kalten, einsamen Eßzimmer zu besuchen, wo er selbst in der Verlassenheit eines alten, in vornehmer Zurückgezogenheit ergrauten Junggesellen über seinen Büchern saß. Die schöne Sanftmut und Anmut des alten Richters, die Zartheit seiner Person, Gedanken und Sprache redeten unmittelbar in seiner eigenen Zunge zu Archies Herzen. In ihm wuchs der Ehrgeiz, ein ebensolcher Mann zu werden; und als der Tag erschien, da er sich einen Beruf wählen mußte, geschah es in Nacheiferung Lord Glenalmonds und nicht Lord Hermistons, daß er sich für die Jurisprudenz entschied. Hermiston begegnete dieser Freundschaft mit geheimem Stolz, öffentlich jedoch mit der Unduldsamkeit der Verachtung. Nur selten ließ er sich eine Gelegenheit entgehen, das Paar durch groben Spott zu ducken; und das war, um die Wahrheit zu sagen, nicht schwer, denn beide waren nicht schlagfertig. Er hatte ein verächtliches Wort für die ganze Horde von Poeten, Malern, Musikanten und deren Bewunderer: die Bastardrasse der Amateure. Es gab ein Wort, das er wieder und wieder gebrauchte. »Signor Fiedeldumdei«, pflegte er zu sagen. »Um Gottes willen, nichts mehr von dem Signor!«

      »Sie und mein Vater sind sehr befreundet, nicht wahr?« fragte Archie einmal.

      »Es gibt niemanden, den ich höher achte«, entgegnete Lord Glenalmond. »Er hat zwei unschätzbare Eigenschaften. Er ist ein großer Jurist, und er ist so aufrecht wie der Tag.«

      »Sie und er sind so verschieden«, sagte der Junge, und sein Blick ruhte in dem seines alten Freundes wie der eines Liebhabers in den Augen seiner Herrin. »In der Tat«, erwiderte der Richter, »sehr verschieden. Und ich fürchte, du und er seid es auch. Und doch würde es mir sehr mißfallen, wenn mein junger Freund seinen Vater falsch beurteilte. Er besitzt alle Tugenden eines Römers: Cato und Brutus waren Männer seines Schlages; ich meine, ein Sohn müßte stolz sein, von solch einem Manne abzustammen.«

      »Und ich wollte, er wäre ein einfacher Bauer!« rief Archie mit plötzlicher Bitterkeit.

      »Das ist weder sehr klug noch, glaube ich, ganz ehrlich«, antwortete Glenalmond. »Wenn du es dir recht überlegst, wirst du finden, daß einige dieser Ausdrücke dir wie Reue in der Kehle aufsteigen werden. Sie sind rein literarisch und dekorativ; sie drücken nicht deine wahren Gedanken aus; auch hast du diese Gedanken selbst nicht klar erfaßt. Zweifellos würde dein Vater (wäre er jetzt hier) ›Signor Fiedeldumdei!‹ rufen.«

      Mit dem unendlich feinen Takt der Jugend mied Archie von jener Stunde an das Thema. Das war vielleicht schade. Hätte er nur gesprochen – sich frei ausgesprochen – sich selbst in einen Strom von Worten aufgelöst (wie es die Jugend liebt und das ihr gutes Recht ist) – es hätte vielleicht nie eine Geschichte


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