Meine Kinderjahre. Theodor Fontane

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Meine Kinderjahre - Theodor Fontane


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Spielpassion eigentlich nur durch den Wunsch, die Zeit hinzubringen, aufgedrungen war, eine ganz aufrichtige Passion für Pferd und Wagen, und sein Lebelang in der Welt umherzukutschieren, immer auf der Suche nach einer Apotheke, ohne diese je finden zu können, wäre wohl eigentlich sein Ideal gewesen. Er sah aber freilich ein, daß das unmöglich sei – wenige Reisejahre würden sein Vermögen aufgezehrt haben –, und so war er denn nur beflissen, sich, weils ihm so paßte, vor Ankaufsübereilungen zu bewahren. Je kritischer er verfuhr, je länger konnte er seine Fahrten fortsetzen und seinem geliebten Schimmel, einem übrigens reizenden Tiere, jeden Abend ein neues Quartier bereiten. Ich sage seinem Schimmel, denn ein gutes Quartier für diesen lag ihm mehr am Herzen als sein eignes. Dreiviertel Jahre, bis Weihnachten 26, ist er denn auch vielfach, um nicht zu sagen meistens, unterwegs gewesen, und zwar auf einem ziemlich umfangreichen Gebiete, das außer der Provinz Brandenburg auch noch Sachsen, Thüringen und zuletzt Pommern umschloß. Diese Reisezeit war später ein bevorzugter Unterhaltungsstoff beider Eltern, auch meiner Mutter, die sich sonst ziemlich ablehnend gegen die Lieblingsthemata meines Vaters verhielt. Daß sie hier einen Ausnahmefall eintreten ließ, hatte zum Teil seinen Grund darin, daß mein Vater in dieser seiner Reisezeit viele an seine junge Frau gerichtete »Liebesbriefe« geschrieben hatte, die nun als solche zu persiflieren, zeitlebens ein Hauptvergnügen meiner Mutter war. »Ihr müßt nämlich wissen, Kinder«, so hieß es dann wohl, »ich habe noch eures Vaters Liebesbriefe, so was Hübsches hebt man sich eben auf, und einen kann ich sogar auswendig, wenigstens den Anfang. Dieser eine kam aus Eisleben, und darin schrieb er mir: ›Ich bin hier heute nachmittag angekommen und habe ein recht gutes Quartier gefunden. Auch für den Schimmel, der sich vorn etwas gedrückt hat. Aber davon will ich Dir heute nicht schreiben, sondern nur davon, daß dies der Ort ist, wo Martin Luther am 10. November 1483 geboren wurde, neun Jahre vor der Entdeckung von Amerika‹ ... Da habt ihr euren Vater als Liebhaber. Ihr seht, er hätte einen Briefsteller herausgeben können.«

      Dies alles war seitens meiner Mutter nicht bloß ziemlich ernsthaft, sondern leider auch bitter gemeint; sie litt darunter, daß mein Vater, sosehr er sie liebte, von Zärtlichkeitsallüren auch nie eine Spur gehabt hatte.

      Das Reisen dauerte dreiviertel Jahr und ging zuletzt in östlicher Richtung auf die Odermündung zu. Kurz vor Weihnachten fuhr er mit der Fahrpost, weil ihm sein Schimmel zu schade für die Winterstrapazen sein mochte, nach Swinemünde, das er bei sechsundzwanzig Grad Kälte erreichte. Der Kognak in seiner Flasche war zu einem Eisklumpen gefroren. Desto wärmer empfing ihn die verwitwete Frau Geißler, die, weil ihr das Jahr vorher der Mann gestorben war, ihre Apotheke so schnell wie möglich zu verkaufen wünschte. Dazu kam es denn auch. In dem diesen Geschäftsabschluß anmeldenden Briefe hieß es: »Wir haben nun eine neue Heimat, die Provinz Pommern, Pommern, von dem man vielleicht falsche Vorstellungen hat; denn es ist eigentlich eine Prachtprovinz und viel reicher als die Mark. Und wo die Leute reich sind, lebt es sich auch am besten. Swinemünde selbst ist zwar ungepflastert, aber Sand ist besser als schlechtes Pflaster, wo die Pferde ewig was am Spann haben. Freilich ist noch ein halbes Jahr bis zur Übergabe, was ich beklage. Man muß doch wieder etwas tun, wieder eine Beschäftigung haben.«

      Drei Tage nach Eingang dieses Briefes war er selber wieder da. Wir wurden verschlafen aus den Betten geholt und mußten uns freuen, daß es nach Swinemünde gehe.

      Mir klang das Wort bloß befremdlich.

      Unsere Übersiedlung nach Swinemünde

       – Ankunft daselbst

      Das halbe Jahr bis zur Übernahme des neuen Geschäfts verging langsam, aber es verging. Etwa Ende Mai begann das Verpacken und Aufladen unseres inzwischen durch den Tod des Großvaters vermehrten Mobiliarvermögens, und als vier Wochen später die Nachricht kam, daß alles glücklich in der neuen Heimat angelangt sei, brachen wir am Johannistage 1827 auf, um selber die Reise dorthin zu machen. Meine Mutter war nicht mit dabei, sie hatte sich Mitte Juni nach Berlin begeben, um sich daselbst einer Nervenkur bei dem damals berühmtesten Arzte, dem Geheimrat Horn, zu unterziehn. Horn empfahl ihr das, was noch heute empfohlen wird. »Verpflegen Sie sich gut, meine verehrte Frau« (man sagte damals in bürgerlichen Kreisen noch nicht »meine gnädige Frau«), »und suchen Sie sich unangenehmen Eindrücken nach Möglichkeit zu entziehn.« Und gerade so wie jetzt, dieser ärztliche Rat half auch, solange es möglich war, ihm nachzukommen. In Berlin, unter den dort lebenden Freundinnen aus der Lionnetschen Pension, hatte sich das tun lassen; als meine Mutter aber etliche Wochen später in Swinemünde eintraf und vieles anders fand, als sie wünschte, war es mit »Vermeidung unangenehmer Eindrücke« vorbei, und die Nervenzustände stellten sich wieder ein.

      Unsere Reise hatte mittlerweile begonnen und ging, auf drei Tage berechnet, auf nächstem Wege durch Uckermark, Mecklenburg-Strelitz und Schwedisch-Pommern. Wir waren, groß und klein, sechs Personen: mein Vater, vier Kinder und die Amme des jüngsten Kindes, eine zigeunerhafte, häßliche Wendin von, wie sich später herausstellte, schlechtem Charakter, die sich durch nichts als durch eminente spezielle Berufserfüllung meinem erst halbjährigen jüngsten Bruder gegenüber auszeichnete. Den ersten Tag kamen wir bis Neustrelitz, wo sich uns ein für die Apotheke brieflich engagierter Gehilfe zugesellte, Herr Wolff, ein sehr hübscher, krausköpfiger Mann, und trotzdem er Mecklenburger war, von durchaus brünettem Typus. Er empfahl sich unserm Hause, wie gleich hier bemerkt werden mag, durch Brauchbarkeit und gute Manieren und hatte das Glück, seine durch zwei lange Jahre hin nicht bloß von Erfolgen, sondern auch von »Folgen« begleiteten Liebesverhältnisse beständig pardonniert zu sehen, bis ihm endlich eine junge, bildschöne Person, ein Liebling meiner Eltern, zum Opfer fiel. Da fiel er denn, sehr berechtigt, mit. Aber das alles stand zu der Zeit, von der ich hier spreche, noch weit aus. Vorläufig war er, trotz weiterer Beengung des ohnehin engen Platzes, ein sehr angenehmer Reisegefährte, der sich mit uns Kindern ebenso geschickt wie liebenswürdig unterhielt und in seiner mehr als korrekten Haltung der Amme gegenüber auch nicht das geringste von seiner starken »schwachen Seite« vermuten ließ. Der zweite Tag führte uns bis Anklam. »Hier sind wir nun schon in Pommern«, sagte mein Vater, der eine Gelegenheit, etwas Geographisch-Historisches anzubringen, nicht gern vorübergehen ließ. »Anklam hat den höchsten Turm in ganz Pommern, und Gustav Adolf ist, soviel ich weiß, hier durchgekommen. Es ist aber auch möglich, daß es Karl XII. war.« Von Anklam bis Swinemünde war die kürzeste Wegstrecke, nur noch sechs Meilen. Auf einer Fähre setzten wir, ich weiß nicht mehr von welchem Punkt aus, nach der Insel Usedom über und fuhren nun unserm Ziele zu. Das letzte Dorf hieß Kamminke. Halben Wegs zwischen diesem Dorf und Swinemünde selbst passierten wir eine mitten im Walde gelegene Bohlenbrücke, zu deren beiden Seiten sich eine dunkelschwarze Wasserfläche mit weißen Nymphäen ausbreitete; die niedergehende Sonne stand schon hinter den Tannen, und ein roter Schimmer, der zwischen den Wipfeln glühte, spiegelte sich unten in dem schönen und zugleich etwas unheimlichen Teich. Es steht vor mir, als hätt ich es gestern gesehen. Bald hinter dieser Brücke hörte der Wald auf, und ein kurzer chaussierter Weg kam, von dem aus man, etwas zurückgelegen, ein weites Moor überblickte, drauf wie Indianerhütten, die ich aus meinen Bilderbüchern kannte, zahllose Torfpyramiden standen. Der chaussierte Weg, auf dem wir fuhren, war von jungen Silberpappeln eingefaßt, und als diese kurze Chausseestrecke hinter uns lag, begann die Stadt selbst, deren erstes Haus, nicht weitab zu unsrer Linken, auf einer kleinen Anhöhe lag. Ein Tischler wohnte darin. Das Strohdach des Hauses hing weit herab und ließ den Lehm- und Fachwerkbau mit seinen Fensterchen nur undeutlich erkennen, aber neben dem Hause zog sich ein Hof- und Gartenstreifen, und auf einem den Garten durchschneidenden und allmählich ansteigenden Wege stand ein Sarg, der, weil eben mit einem frischen Lack gestrichen, hell in der Abendsonne blinkte. Das war der Empfang. Ich erschrak in meinem Kinderherzen und wies scheu darauf hin, aber mein Vater wollte von Angst und schlechter Vorbedeutung nichts wissen und sagte: »Sei nicht so dumm. Das ist das Beste, was uns passieren kann. Das ist, wie wenn einem eine Karre mit einem toten Pferd darauf begegnet, und das hier ist noch besser. Das tote Pferd bedeutet immer bloß Geld, aber ein Sarg bedeutet Glück überhaupt. Und bei allem Respekt vor Geld, Glück ist noch besser. Glück ist alles. Wir werden also hier Glück haben. Nicht wahr, Herr Wolff? Glück sag ich. Und Sie auch.« Herr Wolff nickte. Übrigens hatte mein Vater ganz recht prophezeit. Es ging uns gut hier, und was mitunter anders aussah, daran war das Glück nicht schuld, das tat, umgekehrt, sein Möglichstes


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