China – ein Lehrstück. Renate Dr. Dillmann

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China – ein Lehrstück - Renate Dr. Dillmann


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weil die nationale Befreiung, die angeblich alle Klassen der chinesischen Gesellschaft »brauchen«, gar nicht ohne Weiteres zusammenfällt mit den Interessen der Arbeiter und Bauern bzw. der kommunistischen Kritik an ihrer bisherigen ökonomischen Ausbeutung und ihrer Unterdrückung durch den Staatsapparat. Der Parole zur weltrevolutionären Befreiung »aller unterdrückten Völker« wird deshalb auch noch die von der Befreiung »aller unterdrückten Klassen« hinterher geschickt – auch das ein deutlicher Hinweis, dass es sich dabei um zwei verschiedene Paar Stiefel handelt und die Befreiung der unterdrückten Klassen noch in gar keiner Weise eingeleitet ist, wenn ein Volk »sich selbst bestimmt«. Die chinesischen Kommunisten peilen mit ihren Beteuerungen und Windungen allerdings genau die umgekehrte Aussage an. Sie behaupten, dass es keinen gravierenden Gegensatz gibt zwischen der Sache der Nation und ihrem kommunistischen Programm, sondern dass im Gegenteil beides zusammenpasst und unverbrüchlich zusammengehört.

      Sehr unbefangen schreibt sich die chinesische KP also beides zugleich auf die Fahnen: Kommunismus und Nationalismus, Befreiung der Massen von Ausbeutung und Befreiung der Nation von äußeren und inneren Fesseln. So wenig sie theoretisch etwas von der Unverträglichkeit beider Ziele wissen bzw. gelten lassen will, so sehr macht sich diese in ihrer praktischen Verfolgung derselben immer wieder geltend. Um den Nachvollzug der Darstellung dieser widersprüchlichen Politik und ihrer Verlaufsformen in den Jahrzehnten des sozialistischen Aufbaus zu erleichtern, seien einige grundsätzliche Überlegungen zur notwendigen Unverträglichkeit von Kommunismus und Nationalismus vorangestellt (die auch zur Kritik anderer sozialistischer Staatsprojekte der bisherigen Geschichte ermuntern wollen).

      1. Im »Kommunistischen Manifest« heißt es kurz und bündig: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.« (Marx/Engels 1848: 473) Marx und Engels denken dabei daran, dass das Anliegen der sozialistischen oder kommunistischen Revolution – die Herrschaft der kapitalistischen Ausbeutung abzuschaffen – nicht an irgendwelchen Landesgrenzen endet. Deshalb ist der revolutionäre Klassenkampf, zu dem sie aufrufen, seinem Inhalt nach international, auch wenn die Revolutionäre sich zunächst einmal mit ihrem jeweiligen nationalen Staat auseinanderzusetzen haben, der mit seiner Gewalt das Eigentum schützt. Dieser Gedanke war den beiden ganz selbstverständlich – vor allem angesichts dessen, was sie im »Manifest« auf den Seiten davor betrachten: Wie sich die aufstrebende westeuropäische Bourgeoisie gerade anschickt, die Welt zu erobern und mit ihren Gewinnrechnungen vor nichts und niemand Halt macht – schon gar nicht vor irgendwelchen überkommenen nationalen Gewohnheiten bzw. Sitten und Bräuchen.14

      Ähnlich selbstverständlich war für sie der Gedanke, dass es sich bei dem politischen Kampf, den eine revolutionär gestimmte Arbeiterbewegung insofern zu führen hat, um einen Kampf handeln müsste, der zumindest letztlich – nach einer Zwischenetappe, die sie ohne jeden Hang zur Beschönigung die »Diktatur des Proletariats« nannten – die Staatsgewalt überhaupt beseitigt. In der neuen sozialistischen Gesellschaft wird mit der Klasse der die Arbeiter ausbeutenden kapitalistischen Eigentümer der Klassengegensatz überhaupt abgeschafft; bei der neuen, gemeinschaftlich geplanten Produktion handelt es sich erstmals um die Ökonomie einer Gesellschaft, deren Ziel darin besteht, ihre Mitglieder zu versorgen und die das – auf Basis des erreichten Fortschritts der Produktivkräfte – auch leisten kann; in dieser Gesellschaft werden die antagonistischen Gegensätze zwischen den Klassen, die in den bisherigen Etappen der Menschheitsgeschichte in welcher Form auch immer präsent waren, endlich überwunden – damit entfallen dann auch die Gründe für die (Fort-)Existenz von herrschaftlichem Zwang. Ausschluss vom Reichtum und Ausbeutung einer Klasse durch eine andere sind bisher einhergegangen mit ihrer Sicherung durch staatliche Gewalt; gibt es sie nicht mehr, »stirbt der Staat« allmählich ab; übrig bleiben die funktionellen Leistungen einer Verwaltung für das, was die Mitglieder der Gesellschaft sich an Produktion und Versorgung leisten wollen: »An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen«. (Engels 1882: 224)

      Es entfallen aber nicht nur die Gründe, Gewalt im Innern der Gesellschaft auszuüben. Das neue kommunistische Gemeinwesen kennt keine ökonomischen Interessen oder politischen Zwecke, für die es Sinn macht, Gewalt nach außen zu entfalten: Es konkurriert nicht um Reichtumsquellen oder Absatzmärkte; der revolutionäre Wille, die kapitalistische Ökonomie auch andernorts zu beseitigen, ist darauf angewiesen, dass sich die jeweils Geschädigten vor Ort gegen Ausbeutung und staatliche Gewalt erheben. Unterstützung revolutionärer Bewegungen anderswo ist also etwas anderes als Eroberung fremder Staaten. Was bleibt an notwendiger Gewalt, dient dazu, die Freiheit, sich eine Gesellschaft zum Nutzen der Produzenten einzurichten, gegen ökonomische und staatliche Interessen zu verteidigen, die das nicht hinnehmen wollen.

      Diese Gesellschaftskritik, die Partei, die sie durchsetzen will und die von ihr angestrebte Gesellschaft heißt »kommunistisch«, weil ihr Hauptkennzeichen darin besteht, dass sie ein Zusammenschluss zur gemeinschaftlichen Organisation der Wirtschaft ist, zum größtmöglichen Nutzen für alle an ihr Beteiligten. Die kommunistische Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus,

       dass ihre Mitglieder ihr – zumindest nach einer Übergangsphase – aus freiem Entschluss angehören und sich an ihr beteiligen,

       dass ihr Zweck in der möglichst rationalen Organisation einer geplanten Wirtschaft besteht,

       dass ihre Mitglieder diesen Zweck in einer sachlichen Auseinandersetzung bestimmen und nachprüfen, inwiefern seine Umsetzung mit ihren Interessen konform geht,

       dass sie über das Wohlergehen ihrer Mitglieder hinaus keinen »höheren« Wert kennt.

      2. Auch in »Nation« geht es um Gemeinschaft. Es gibt vielfältige (und durchaus widersprüchliche) Versuche, sie über Sprache, Geschichte oder Kultur zu begründen. In ihnen wird eine logische Gemeinsamkeit deutlich. Das Nation konstituierende Moment wird vor allem dort gesucht, wo es Willen und Berechnung der zur Nation gehörenden Individuen entzogen ist: Nation ist nicht freier Wille und rationale Entscheidung, sondern – auf die eine oder andere Weise – »Gewordenes«, Tradition, Schicksal. Dass es dunstig und phrasenhaft klingt, wenn von Nation die Rede ist, ist dabei kein Zufall, sondern notwendig. Wenn von Nation gesprochen wird, geht es nicht um die Niederungen des politischen Alltags, sondern um Höheres. Hier wird ein vorpolitischer Zusammenhang postuliert, der den Staat und die jeweilige Regierung als Ausdruck von und Diener an einem unabhängig von ihm bereits existierenden nationalen Kollektiv erscheinen lässt – was die Wahrheit auf den Kopf stellt.

      Die staatliche Zwangsvergesellschaftung, die ein Territorium nach außen abgrenzt und sich im Innern ihr Volk schafft, wird in diesem Konstrukt legitimiert und überhöht zur Idee eines großen Ganzen, an dem oben und unten, Herrscher und Beherrschte gleichermaßen beteiligt sind. Sämtliche Unterschiede und Gegensätze innerhalb einer Gesellschaft – bis hin zum Klassengegensatz – werden damit für unerheblich erklärt gegenüber dem, was alle Stände, Schichten und Klassen »wirklich« eint: die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv und die quasi natürliche Verpflichtung, seinen Erfolg zu wollen. Nation ist also die Art von Gemeinschaftlichkeit, zu der eine bürgerliche Gesellschaft mit ihren antagonistischen Gegensätzen, die die politische Herrschaft etabliert und die sie benutzt, es bringt.

      Sie hat ihre Wahrheit in nichts anderem als in der staatlichen Aufsicht und Benutzung der kapitalistischen Klassengesellschaft. Deren ökonomisches Alltagsleben ist durch allseitige Konkurrenz gekennzeichnet, in der Bereicherung auf Kosten und durch Benutzung der anderen »Marktteilnehmer« der erklärte Zweck und ein entsprechend negativer Bezug der Konkurrenten aufeinander die Regel ist. Gerade von diesem Ausgangspunkt aus – verfabelt in die angebliche Wolfsnatur des Menschen – werden sich die Mitglieder einer bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft allerdings seltsam einig: Zur Wahrnehmung ihrer Interessen gegen andere und um letztere an Übergriffen auf die eigene Person und ihr Eigentum zu hindern, wollen sie eine ihr Gegeneinander fördernde und rechtlich


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