1984 - Neunzehnhundertvierundachtzig. George Orwell
Читать онлайн книгу.für das vierte Quartal 1983, das gleichzeitig das sechste Quartal des Neunten Dreijahresplans war, veröffentlicht worden. Die heutige Ausgabe der Times enthielt nun allerdings eine Erklärung über die tatsächlichen Produktionsergebnisse, aus der hervorging, dass die Prognosen in jedem Fall grob falsch gewesen waren. Winstons Aufgabe war es, die ursprünglichen Zahlen so zu korrigieren, dass sie mit den nun angegebenen Werten übereinstimmten. Was die dritte Aufgabe betraf, so bezog sich diese auf einen sehr einfachen Fehler, der in ein paar Minuten behoben werden konnte: Vor nicht allzu langer Zeit, erst im Februar, hatte das Ministerium des Überflusses ein Versprechen abgegeben (eine „kategorische Zusage“ waren die offiziellen Worte gewesen), dass es keine Absenkung der Schokoladenration während des ganzen Jahres 1984 geben sollte. Tatsächlich, das wusste Winston, sollte aber am Ende dieser Woche schon die Zuteilung von dreißig auf zwanzig Gramm verringert werden. Alles, was erledigt werden musste, war also, die ursprüngliche Zusicherung durch eine Warnung des Inhalts zu ersetzen, dass im April wahrscheinlich weniger Schokolade ausgegeben würde.
Sobald Winston eine jede der Aufgaben abgearbeitet hatte, klemmte er die mit dem Sprechschreiber ausgedruckten Korrekturen an das entsprechende Zeitungsexemplar und schob alles zusammen in die Rohrpostanlage. Dann zerknüllte er mit einer Bewegung, die so gut wie möglich unbewusst war, die Aufträge und auch alle Notizen, die er selbst gemacht hatte, und warf sie in das Erinnerungsloch, damit sie von den Flammen gefressen würden.
Was in dem unüberschaubaren Labyrinth geschah, in das die Luftdruckschläuche der Rohrpostanlage führten, wusste er nicht im Detail, aber im Allgemeinen: Sobald alle Korrekturen, die in einer bestimmten Ausgabe der Times notwendig wurden, gesammelt worden waren, wurde diese Nummer nachgedruckt, das Original vernichtet und das korrigierte Exemplar im Archiv an die vorherige Stelle gelegt. Dieser Prozess der fortlaufenden Veränderung wurde nicht nur auf Zeitungen angewandt, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Broschüren und Plakate, Flugblätter, Filme, Tonspuren, Zeichentrickfilme, Fotos; letztlich auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die möglicherweise eine politische oder ideologische Bedeutung hatte. Tag für Tag und fast Minute für Minute wurde die Vergangenheit auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise konnte hinsichtlich jeder von der Partei gemachten Vorhersage durch dokumentarische Belege nachgewiesen werden, dass diese Voraussagen richtig gewesen waren, und außerdem blieb keine Nachricht oder Meinungsäußerung, die im Widerspruch zu den jeweils tatsächlichen Gegebenheiten stand, jemals in den Aufzeichnungen erhalten. Alle Historie war wie ein mittelalterliches Pergament: sauber abgekratzt und genauso oft neu beschriftet, wie es notwendig geworden war; allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass heutzutage die erfolgten Änderungen nicht mehr nachgewiesen werden konnten. Der größte Teil der Archivabteilung, der weitaus umfangreicher war als derjenige, in dem Winston arbeitete, bestand aus Personen, die nur eine Aufgabe hatten: alle Kopien von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten, die überholt waren und damit zur Vernichtung anstanden, aufzuspüren und einzusammeln. So befand sich stets nur eine einzige Nummer der Times unter dem ursprünglichen Datum im Archiv, und obwohl sie aufgrund von Veränderungen in der politischen Ausrichtung oder wegen von Big Brother irrtümlich gemachter Vorhersagen möglicherweise bereits ein Dutzend Mal umgeschrieben worden war, gab es keinerlei andere Kopie mehr, die dem jetzigen Inhalt widersprach. Auch Bücher wurden immer wieder zurückgerufen, umgeschrieben und neu herausgebracht, ohne dass daran vorgenommene Änderungen jemals eingestanden worden wären. Selbst die schriftlichen Anweisungen, die Winston erhielt und die er ausnahmslos wieder wegwarf, sobald er sich mit ihnen befasst hatte, erklärten niemals oder deuteten auch nur an, dass eine Fälschung begangen werden sollte: Immer ging es um Ausrutscher, Versehen, Fehldrucke oder unrichtige Zitate, und die Änderungen erfolgten stets auch nur im Interesse der Genauigkeit.
In Wahrheit aber, so dachte Winston, als er die Angaben des Ministeriums des Überflusses berichtigte, war das alles ja nicht einmal eine Fälschung, sondern lediglich die Ersetzung eines Blödsinns durch einen anderen: Der größte Teil des Zahlenmaterials, mit dem hier gearbeitet wurde, hatte keinerlei Beziehung zur realen Welt, nicht einmal jene Art von Verbindung, die in einer unmittelbaren Lüge wenigstens noch enthalten ist. Die Statistik war ebenso eine Phantasie in ihrer ursprünglichen wie in ihrer überarbeiteten Fassung. Meist wurde stillschweigend erwartet, die Werte einfach nur zu erfinden. Die Vorhersage des Ministeriums des Überflusses hatte für das genannte Quartal hinsichtlich der Produktion von Stiefeln bei einhundertfünfundvierzig Millionen Paar gelegen. Die tatsächliche Leistung wurde nun mit zweiundsechzig Millionen angegeben. Winston setzte also bei der Neuformulierung der Vorhersage die Zahl auf siebenundfünfzig Millionen fest, um den üblichen Anspruch zu berücksichtigen, die Planung wäre übererfüllt worden. In jedem Fall aber waren zweiundsechzig Millionen nicht näher an der Wahrheit als siebenundfünfzig Millionen oder einhundertfünfundvierzig Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel hergestellt worden. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass niemand wusste, wie viele produziert worden waren und sich auch niemand dafür interessierte. Bekannt war nur, dass auf dem Papier in jedem Quartal eine astronomisch hohe Anzahl von Stiefeln die Fabriken verließ, während wahrscheinlich die Hälfte der Bevölkerung Ozeaniens barfuß ging. Und so war es mit jeder Art von aufgezeichneten Fakten, bedeutend oder nicht: Alles verblasste zu einer Schattenwelt, in der schließlich sogar die Jahreszahl unsicher wurde.
Winston warf einen Blick durch den Saal: In der gegenüberliegenden Kabine arbeitete ein kleiner, pedantisch wirkender, dunkelwangiger Mann namens Tillotson gleichmäßig vor sich hin, mit einer gefalteten Zeitung auf den Knien und dem Mund sehr nahe am Sprechschreiber. Tillotson versuchte das, was er sagte, zu einem Geheimnis zwischen sich und dem Teleschirm zu machen. Er blickte auf, und seine Brille warf einen feindseligen Blitz in Winstons Richtung.
Winston kannte Tillotson kaum und hatte keine Ahnung, mit was genau dieser beschäftigt war. Die Mitarbeiter der Archivabteilung sprachen nicht so gern über ihre Arbeit. In der langen, fensterlosen Halle mit ihrer doppelten Reihe von Kabinen, dem endlosen Rascheln der Papiere und dem Summen der Stimmen, die in die Sprechschreiber murmelten, gab es ungefähr ein Dutzend Personen, die Winston nicht einmal vom Namen her kannte, obwohl er sie täglich in den Korridoren hin und her eilen oder beim Zwei-Minuten-Hass wild gestikulieren sah. Winston wusste, dass sich in der Kabine nebenan die kleine sandhaarige Frau Tag für Tag damit beschäftigte, die Namen von Personen, die vaporisiert worden und deshalb nicht mehr existent waren, in der Presse zu finden und dann daraus zu entfernen. Die Frau verfügte für diese Aufgabe auch über beste Voraussetzungen, da ihr eigener Mann einige Jahre zuvor vaporisiert worden war. Und ein paar Kabinen weiter war es die Aufgabe einer harmlosen, lebensuntüchtigen und verträumten Kreatur namens Ampleforth, die äußerst behaarte Ohren und ein überraschendes Talent für das Jonglieren mit Reimen und Metren hatte, verstümmelte Versionen – „definitive Texte“, so wurden sie genannt – von Gedichten herzustellen, die ideologisch anstößig geworden waren, dennoch aber aus dem einen oder anderen Grund in den Sammelbänden aufbewahrt werden sollten. Und dieser Saal mit seinen ungefähr fünfzig Mitarbeitern war nur eine Untersektion, sozusagen eine einzige Zelle in der enormen Komplexität der Archivabteilung. Außerdem, darüber, darunter, gab es ganze Schwärme von Angestellten, die eine unvorstellbare Vielzahl von weiteren Tätigkeiten ausübten: Da waren die riesigen Druckereien mit ihren Unter-Editoren, ihren Typografie-Experten und aufwendig ausgestatteten Studios für die Fälschung von Fotografien. Auch gab es eine riesige Sektion für Teleprogramme; mit Ingenieuren, Produzenten und großen Teams von Schauspielern, die speziell nach ihrer Fähigkeit ausgewählt worden waren, Stimmen nachzuahmen. An anderer Stelle wirkte eine ganze Armee von Referenzsuchern, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die zum Rückruf fällig waren. Es gab die riesigen Lager, in denen die korrigierten Dokumente aufbewahrt und gespeichert, und die versteckten Öfen, in denen die obsolet gewordenen Kopien vernichtet wurden. Und an anderer, unbekannter Stelle, beinahe anonym, saßen die verantwortlichen Superhirne, die alle Anstrengungen koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten, die es jeweils erforderlich werden ließen, dieses Fragment der Vergangenheit aufzubewahren, jenes zu verfälschen und manches andere vollständig zu vernichten.
Und die Archivabteilung war schließlich auch nur ein einziger Teil des Ministeriums der Wahrheit, dessen Hauptaufgabe ja nicht die Rekonstruktion der Vergangenheit war, sondern vor allem die Versorgung der Bürger Ozeaniens mit