Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten. Hein Bruns
Читать онлайн книгу.von den Bauern und Tagelöhnern des Dorfes beileibe nicht behaupten kann. Jawohl, Monsieur Vignaud konnte sich benehmen und konnte auch mit den Bauern und manchmal auch mit den Tagelöhnern saufen. Saufen konnte er... und sein Junge war dunkelhäutig, dunkelhaarig und dunkeläugig. Im Dorf nur das Franzosenkind genannt. Der Bauer Josef Würdemann, der seiner Tochter Grete den Schritt, den Fehlschritt nicht verzieh, bis zu seinem Tode nicht, liebte aber den Franzosenbankert, nur, dass er es in der Öffentlichkeit nicht zeigte. Und auf seinem Totenbette (Monsieur Vignaud war längst zu seines Königs Fahnen geeilt), setzte der alte Würdemann den Franzosenbankert Ferdinand Vignaud als Erben ein. So kamen die Vignauds zu einem Hof, zu Acker, zu Wiesen und Wald. Die LPG, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, hatte später ihre helle Freude daran. Aber soweit ist das noch nicht. Im Fuchsloch stand der Hochwald, tannig und hoch, und vor ihm wellte sich ein Kirschgarten, alles Besitz des Bauern Josef Würdemann. Unter den blühenden Kirschbäumen wurde das zweite Kind gezeugt, das aber bei der Geburt starb. Mit Leidenschaft ergriff Monsieur von Grete Würdemann Besitz, und Monsieur Vignaud war leidenschaftlich und riss das Weib mit. Nie mehr hat Madame Vignaud, geborene Würdemann, nachdem Monsieur Vignaud wieder zu seines Königs Fahnen geeilt war, einen Mann ins Bett genommen. Nie mehr! Denn die Liebe und Leidenschaft des Monsieurs Vignaud konnte im Dorf keiner aufbringen. Madame Vignaud, geborene Grete Würdemann, hat nie darüber gesprochen, wie Monsieur Vignaud liebte, aber das hat sie gesagt, dass Monsieur Vignaud sie vor jedem Beischlaf erst mit Worten betörte, sie mit heißen Liebesworten bereitmachte, ihr Komplimente ins Ohr flüsterte. Auch hat sie erzählt, und das durfte sie ja auch, dass er roten Mohn und Feldblumen ins Schlafzimmer stellte, oder Apfelzweige, Kastanien oder zur Winterzeit Tannengrün. Und das hat sie auch noch gesagt, dass im Schlafzimmer stets eine Kerze brannte, wenn sie sich liebten… und Monsieur Vignaud liebte oft und liebte gut. Monsieur Vignaud liebte auch nie im Bett, sondern auf dem Bett. Und Grete Vignaud lächelte, wenn sie so erzählte, aber wie er geliebt hat, das hat sie nie verraten. Später, viel später, gut einhundertfünfzig Jahre später; die Ururenkelin Mira Vignaud war freier, offener und nicht nur in den Gesprächen.
Der Ostwind pfiff über die Hänge und Hügel des Südharzes, trieb den Schnee über die Wipfel und Tannen und drückte ihn auch gegen und in die braune Rinde der Bäume. Verhedderte ihn im knorrigen Unterholz. Waldwege, von Menschen ausgetreten, von Waldarbeitern und Bauern, Holzfällern und Kirchgängern, waren jetzt verschneit und eingeebnet. Der Ost heulte und krakeelte in den Lüften und den Baumkronen. Die kahlästigen Kirschbäume, die jeder Frühling zu jungen Mädchen macht und dem Fuchsloch den jungfräulichen Duft gibt, spreizten ihre kahlen Zweige wie die Arme und Beine alter Weiber. Das Dorf Walkenrode schlief im kalten Schneebett. In den Stuben und Ställen und Scheunen brütete die Wärme. In den Stuben brannten die Öfen. In den Ställen heizte das Vieh. Und in den Scheunen tat es die gespeicherte Wärme des Sommers in Heu und Stroh. Es war zur Futterzeit. Der Abend glitzerte im Sternen- wie auch im Schneegefunkel. Eine zerlumpte und zerfledderte Gestalt schleppte und schlurfte sich mühsam und keuchend durch Wald, Schnee und Kälte dem Dorfe Walkenrode zu. Lichter im Dorf flackerten, und in den Ställen huschten, haschten und zuckten Lichter. Es war zur Futterzeit. Auch von den Ställen zu den Scheunen und auch von den Scheunen zu den Ställen huschten Lichter. Das Vieh brüllte. Ein Hund heulte, und ein paar Krähen zogen krächzend und mit hartem Flügelschlag über das verschneite Land. Näher kam der Mann dem Dorfe. Im Mondlicht sah man große schwarze Augen und die kümmerlichen Reste einer Montur. Im Pulverschnee hinterließen die mit Lumpen bewickelten Füße Schleifspuren, die aber der Ost sofort wieder verwischte. Jetzt erreichte der Mann die kleine Brücke, die sich über den starren eingefrorenen Bach spannte, und er stützte sich, Luft holend, aufs Brückengeländer. Alte verhutzelte Weiden standen veteranenhaft am Bach, wie Wachsoldaten, junge Apfelbäume bildeten den Vortrupp. An der Brücke, direkt am ersten Holzpfeiler, stand alt und knorrig, allein und einsam ein Weidenbaum. Das ist wohl der älteste Dorfsoldat, dachte Monsieur Vignaud. Monsieur Vignaud, ein Offizier der geschlagenen napoleonischen Armee, dachte nur in soldatischen und militärischen Begriffen. Wie konnte er auch anders denken? Er war dem Korsen auf all seinen Feldzügen gefolgt, in die Gluthitze der Wüste, stand mit ihm am Ebro, am Tejo, an der Maas und Elbe und erlebte an der Beresina in arktischer Kälte den Zusammenbruch der Großen Armee. Sah und erlebte Aufstieg, Siege, Triumphe des großen Kaisers sowie auch seinen Fall und seine Niederlage in der Eiswüste Russlands. Das waren Jahre des blutigen Handwerks. Nun aber war Napoleon geschlagen und auf der Flucht. So war auch Monsieur Vignaud geschlagen und auf der Flucht, passierte jetzt, zerlumpt, verhungert, verdreckt und fast verloren die Brücke über den Bach, passierte den alten Weidewachsoldaten, der vor diesem Strolch und Vagabunden keine Ehrenbezeigung machte, und schlurfte auf das Licht des Stalles zu. Grete Würdemann erschrak fast bis zu Tode, als in der Tür ein Mann stand, der sich mühsam aufrecht hielt. Grete Würdemann sah, dass der Mann am Ende seiner Kräfte war und Hilfe brauchte. Sie zog ihn herein und gab ihm kuhwarme Milch, bettete ihn ins Heu und deckte ihn zu, deckte ihn zu mit Heu und Stroh. Hielt ihn versteckt, und das war gut. Später deckte er sie zu, und das war auch gut und ergab ein Kind. Und der Korse saß auf der Insel Elba. Die Dorfbewohner mochten den drahtigen und liebenswürdigen und arbeitsamen Franzosen und rieten ihm, doch die Grete Würdemann zu ehelichen, da dieses wohl auch dazu beitragen würde, um den alten Würdemann zu versöhnen und um dem kleinen Ferdinand einen ehrlichen Namen zu geben. Monsieur Vignaud tat das. Und der Kaiser saß immer noch auf der Insel Elba. Der Kaiser saß bis zum zweiten Kind, der Totgeburt, auf der Insel Elba. Die Kunde kam: Napoleon entflohen. Napoleon gelandet! Napoleon sammelt seine Armee! Napoleon kämpft! Monsieur Vignaud entfloh bei Nacht aus Walkenrode, gesund, kräftig und eingekleidet. Monsieur Vignaud kämpft wieder unter den Fahnen seines Kaisers. Monsieur Vignaud ist wieder Offizier der glorreichen französischen Armee. Madame Vignaud, geborene Würdemann und den Sohn Ferdinand ließ er zurück, und niemals mehr haben beide wieder von ihm gehört.
Kapitel 4
Alle Straßen führen zum Westen, alle Straßen, die aus dem Osten kommen. Aber alle Straßen, die aus dem Osten kommen, enden im Osten, enden am Schlagbaum der Demarkationslinie in der DDR. Vom Schlagbaum westlich führend sind die Straßen grün, solange sie durchs Niemandsland führen und bis sie wieder auf einen Schlagbaum treffen. Unkrautig verwuchert. Grün wie ein Rasen, ein ungepflegter. Wem dieser „Rasen“ wohl gehört? Alle Straßen, die vom zweiten Schlagbaum aus weiterführen, enden im Westen, irgendwo im Westen, oder an der Atlantikküste. Der Blutstrom der Straße ist aber unterbrochen durch den Rasen, durch das Niemandsland, und darum sind die Straßen krank, die im Osten und auch die im Westen. Die Straßen im Osten sind holperig und verdrückt und gedrückt. Die Straßen im Westen aber sind glatt, aalig, sauber, flüssig und gängig... und trotzdem sind die Straßen krank. Sie hockten zusammen im Schwesternzimmer eines Krankenhauses in der DDR. Lauthämmern eines Radios. Kein Westsender. DDR-Sender und laut, sollte ja auch gehört werden, dass man eben nebenan nichts hört, nebenan in der nächsten „Zelle“. Sie hocken zusammen, Mira Vignaud, ein netter junger Mann und zwei Jungärzte. F 6 rauchten sie, eine DDR-Filterzigarette, die einzige überhaupt, na ja, immerhin, es war doch eine Filterzigarette. Rauchten und steckten die Köpfe zusammen und sprachen miteinander und gingen dann auseinander. Gaben sich die Hand und versprachen sich, nächstens wieder so einen netten Abend zu verleben. Denn der Abend war nett, man hatte sich doch gut und angeregt unterhalten, F 6 geraucht und auch ein Gläschen Wein getrunken.
Durch die Nacht rollte und ratterte auf volkseigenem Pflaster ein Lkw, ein schwerer Lkw mit einem zweiachsigen Hänger. Rollte über die holperige Straße und rollte und rollte. „Verflucht!“ sagte der Fahrer, ein netter junger Mann, „wir haben uns verfahren!“ Der Beifahrer sagte nichts. „Wir müssen irgendwo wenden, verdammte Scheiße!“ Nun wende mal, kein Platz, nur lange, leere, dunkle Straße. Also weiter, müssen weiter, bis sich eine Gelegenheit und Platz findet. Und weiter, an blühenden Obstbäumen vorüber, über holperige Straßen und unter einem sternenlosen Himmel rollte der Lkw mit einem zweiachsigen Hänger, einem fluchenden Fahrer und einem schweigsamen Beifahrer. Und die Straße rollte ihnen entgegen. Die gelben Fächer der Lichtwerfer rissen die Nacht nur kurz auf, dann war es wieder die Dunkelheit, die ihre Herrschaft behauptete. Der Beifahrer sagte nichts. „Verdammt noch mal, wir müssen irgendwo wenden!“ Vorne sahen sie Licht! „Da!“ sagte der Fahrer, „da vorne, siehst du das?“ Der