Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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und sich an- und auskleideten. Das Lokal war weder günstig noch bequem, indem man das Theater in einen Konzertsaal hineingezwängt hatte, so daß für die Schauspieler hinter der Bühne keine besonderen Abteilungen stattfanden. In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartien gedient hatte, waren nun beide Geschlechter meist beisammen und schienen sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu scheuen, wenn es beim Anlegen oder Verändern der Kleidungsstücke nicht immer zum anständigsten herging. Mir war dergleichen niemals vorgekommen, und doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bei wiederholtem Besuch, ganz natürlich.

      Es währte nicht lange, so entspann sich aber für mich ein eignes und besondres Interesse. Der junge Derones, so will ich den Knaben nennen, mit dem ich mein Verhältnis immer fortsetzte, war außer seinen Aufschneidereien ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre älter als wir und ein gar angenehmes Mädchen war, gut gewachsen, von einer regelmäßigen Bildung, brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf alle Weise gefällig zu sein; allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken. Junge Mädchen dünken sich gegen jüngere Knaben sehr weit vorgeschritten, und nehmen, indem sie nach den Jünglingen hinschauen, ein tantenhaftes Betragen gegen den Knaben an, der ihnen seine erste Neigung zuwendet. Mit einem jüngern Bruder hatte ich kein Verhältnis.

      Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Gesellschaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schönen eine Blume, eine Frucht oder sonst etwas zu überreichen, welches sie zwar jederzeit mit sehr guter Art annahm und auf das höflichste dankte; allein ich sah ihren traurigen Blick sich niemals erheitern, und fand keine Spur, daß sie sonst auf mich geachtet hätte. Endlich glaubte ich ihr Geheimnis zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner Mutter, das mit eleganten seidnen Vorhängen aufgeputzt war, ein Pastellbild, das Porträt eines schönen Mannes, und bemerkte zugleich mit schlauer Miene: das sei eigentlich nicht der Papa, aber ebensogut wie der Papa; und indem er diesen Mann rühmte, und nach seiner Art umständlich und prahlerisch manches erzählte, so glaubte ich herauszufinden, daß die Tochter wohl dem Vater, die beiden andern Kinder aber dem Hausfreund angehören mochten. Ich erklärte mir nun ihr trauriges Ansehen und hatte sie nur um desto lieber.

      Die Neigung zu diesem Mädchen half mir die Schwindeleien des Bruders übertragen, der nicht immer in seinen Grenzen blieb. Ich hatte oft die weitläuftigen Erzählungen seiner Großtaten auszuhalten, wie er sich schon öfter geschlagen, ohne jedoch dem andern schaden zu wollen: es sei alles bloß der Ehre wegen geschehen. Stets habe er gewußt, seinen Widersacher zu entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verstehe sich aufs Ligieren so gut, daß er einst selbst in große Verlegenheit geraten, als er den Degen seines Gegners auf einen hohen Baum geschleudert, so daß man ihn nicht leicht wieder habhaft werden können.

      Was mir meine Besuche auf dem Theater sehr erleichterte, war, daß mir mein Freibillett, als aus den Händen des Schultheißen, den Weg zu allen Plätzen eröffnete, und also auch zu den Sitzen im Proszenium. Dieses war nach französischer Art sehr tief und an beiden Seiten mit Sitzen eingefaßt, die, durch eine niedrige Barriere beschränkt, sich in mehreren Reihen hinter einander aufbauten, und zwar dergestalt, daß die ersten Sitze nur wenig über die Bühne erhoben waren. Das Ganze galt für einen besondern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten sich gewöhnlich desselben, obgleich die Nähe der Schauspieler, ich will nicht sagen jede Illusion, sondern gewissermaßen jedes Gefallen aufhob. Sogar jenen Gebrauch oder Mißbrauch, über den sich Voltaire so sehr beschwert, habe ich noch erlebt und mit Augen gesehen. Wenn bei sehr vollem Hause, und etwa zur Zeit von Durchmärschen, angesehene Offiziere nach jenem Ehrenplatz strebten, der aber gewöhnlich schon besetzt war, so stellte man noch einige Reihen Bänke und Stühle ins Proszenium auf die Bühne selbst, und es blieb den Helden und Heldinnen nichts übrig, als in einem sehr mäßigen Raume zwischen den Uniformen und Orden ihre Geheimnisse zu enthüllen. Ich habe die »Hypermnestra« selbst unter solchen Umständen aufführen sehen.

      Der Vorhang fiel nicht zwischen den Akten; und ich erwähne noch eines seltsamen Gebrauchs, den ich sehr auffallend finden mußte, da mir als einem guten deutschen Knaben das Kunstwidrige daran ganz unerträglich war. Das Theater nämlich ward als das größte Heiligtum betrachtet, und eine vorfallende Störung auf demselben hätte als das größte Verbrechen gegen die Majestät des Publikums sogleich müssen gerügt werden. Zwei Grenadiere, das Gewehr beim Fuß, standen daher in allen Lustspielen ganz öffentlich zu beiden Seiten des hintersten Vorhangs, und waren Zeugen von allem, was im Innersten der Familie vorging. Da, wie gesagt, zwischen den Akten der Vorhang nicht niedergelassen wurde, so lösten, bei einfallender Musik, zwei andere dergestalt ab, daß sie aus den Kulissen ganz strack vor jene hintraten, welche sich dann ebenso gemessentlich zurückzogen. Wenn nun eine solche Anstalt recht dazu geeignet war, alles, was man beim Theater Illusion nennt, aufzuheben, so fällt es um so mehr auf, da dieses zu einer Zeit geschah, wo nach Diderots Grundsätzen und Beispielen die natürlichste Natürlichkeit auf der Bühne gefordert, und eine vollkommene Täuschung als das eigentliche Ziel der theatralischen Kunst angegeben wurde. Von einer solchen militärischen Polizeianstalt war jedoch die Tragödie entbunden, und die Helden des Altertums hatten das Recht, sich selbst zu bewachen; die gedachten Grenadiere standen indes nahe genug hinter den Kulissen.

      So will ich denn auch noch anführen, daß ich Diderots »Hausvater« und die »Philosophen« von Palissot gesehen habe, und mich im letztern Stück der Figur des Philosophen, der auf allen vieren geht und in ein rohes Salathaupt beißt, noch wohl erinnre.

      Alle diese theatralische Mannigfaltigkeit konnte jedoch uns Kinder nicht immer im Schauspielhause festhalten. Wir spielten bei schönem Wetter vor demselben und in der Nähe, und begingen allerlei Torheiten, welche besonders an Sonn- und Festtagen keineswegs zu unsrem Äußeren paßten: denn ich und meinesgleichen erschienen alsdann, angezogen wie man mich in jenem Märchen gesehen, den Hut unterm Arm, mit einem kleinen Degen, dessen Bügel mit einer großen seidenen Bandschleife geziert war. Einst, als wir eine ganze Zeit unser Wesen getrieben und Derones sich unter uns gemischt hatte, fiel es diesem ein, mir zu beteuern, ich hätte ihn beleidigt und müsse ihm Satisfaktion geben. Ich begriff zwar nicht, was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber seine Ausforderung gefallen und wollte ziehen. Er versicherte mir aber, es sei in solchen Fällen gebräuchlich, daß man an einsame Örter gehe, um die Sache desto bequemer ausmachen zu können. Wir verfügten uns deshalb hinter einige Scheunen, und stellten uns in gehörige Positur. Der Zweikampf erfolgte auf eine etwas theatralische Weise, die Klingen klirrten, und die Stöße gingen nebenaus; doch im Feuer der Aktion blieb er mit der Spitze seines Degens an der Bandschleife meines Bügels hangen. Sie ward durchbohrt, und er versicherte mir, daß er nun die vollkommenste Satisfaktion habe, umarmte mich sodann, gleichfalls recht theatralisch, und wir gingen in das nächste Kaffeehaus, um uns mit einem Glase Mandelmilch von unserer Gemütsbewegung zu erholen und den alten Freundschaftsbund nur desto fester zu schließen.

      Ein andres Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause, obgleich später, begegnet, will ich bei dieser Gelegenheit erzählen. Ich saß nämlich mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre, und wir sahen mit Vergnügen einem Solotanze zu, den ein hübscher Knabe, ungefähr von unserm Alter, der Sohn eines durchreisenden französischen Tanzmeisters, mit vieler Gewandtheit und Anmut aufführte. Nach Art der Tänzer war er mit einem knappen Wämschen von roter Seide bekleidet, welches, in einen kurzen Reifrock ausgehend, gleich den Lauferschürzen, bis über die Knie schwebte. Wir hatten diesem angehenden Künstler mit dem ganzen Publikum unsern Beifall gezollt, als mir, ich weiß nicht wie, einfiel, eine moralische Reflexion zu machen. Ich sagte zu meinem Begleiter: »Wie schön war dieser Knabe geputzt und wie gut nahm er sich aus; wer weiß, in was für einem zerrissenen Jäckchen er heute nacht schlafen mag!« – Alles war schon aufgestanden, nur ließ uns die Menge noch nicht vorwärts. Eine Frau, die neben mir gesessen hatte und nun hart an mir stand, war zufälligerweise die Mutter dieses jungen Künstlers, die sich durch meine Reflexion sehr beleidigt fühlte. Zu meinem Unglück konnte sie Deutsch genug, um mich verstanden zu haben, und sprach es gerade so viel, als nötig war, um schelten zu können. Sie machte mich gewaltig herunter: Wer ich denn sei, meinte sie, daß ich Ursache hätte, an der Familie und an der Wohlhabenheit dieses jungen Menschen zu zweifeln. Auf alle Fälle dürfe


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