Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens


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bemerkte, als sie beim Aufstehen aus dem Fenster sah, nicht anders glaubte, als sie seien während der Nacht durch irgend ein Wunder aus der Erde hervorgeschossen. Ein anderes Mal legte er die Achttageuhr am ersten Treppenabsatze auseinander, unter dem Vorgeben, sie reinigen zu wollen, und er setzte sodann das Werk durch einen bis dahin unentdeckten Prozeß auf eine so wundervolle Weise wieder zusammen, daß der kleine Zeiger seitdem dem großen, so oft er demselben kleinen begegnet, ein Bein stellt. Sofort fiel es ihm ein, sich in der Seidenwürmerzucht zu versuchen, die er täglich zwei oder drei Mal in kleinen Papierdüten herüberbrachte, um sie der alten Dame zu zeigen, wobei er in der Regel ein paar der Thierchen verlor. Die Folge war, daß eines Morgens ein ungewöhnlich großer Seidenwurm gefunden wurde, der gerade im Begriffe war, die Treppe hinaufzukriechen, wahrscheinlich in der Absicht, sich nach seinen Freunden zu erkundigen, denn wirklich machte man bei genauerem Nachsuchen die Entdeckung, daß sich fast in allen Zimmern des Hauses bereits einige seiner Stammesvettern eingebürgert hatten. Die alte Dame reiste in der Verzweiflung nach der Seeküste, und während ihrer Abwesenheit machte der Kapitän an ihrer messingenen Thürplatte so erfolgreiche Polirversuche mit äzenden Wassern, daß es ihm gelang, den eingegrabenen Namen vollständig auszutilgen.

      Aber all dieses ist noch nichts im Vergleiche mit seinem aufwieglerischen Benehmen im öffentlichen Leben. Er legt dieß bei jeder Kirchspielversammlung an den Tag, die er alle besucht, widersetzt sich stets den bestehenden Autoritäten, wirft den Kirchenvorstehern allerlei Schlechtigkeiten vor; fängt mit den Kirchspielsschreibern Streitigkeiten über gesetzliche Punkte an; läßt sich vom Steuereinnehmer an seine Schuldigkeit stets erinnern, und erst, wenn dieser mit seinen Erinnerungen aufhört, sendet er die Steuer; findet jeden Sonntag an der Predigt etwas zu tadeln; sagt laut, daß sich der Organist seines Spiels schämen müsse, und erbietet sich zu jeder Wette, die Psalmen weit besser singen zu wollen, als die Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts zusammengenommen; kurz er beträgt sich auf höchst unruhige und aufrührerische Weise. Das Schlimmste dabei ist, daß er sich unaufhörlich bemüht, die alte Dame, da er so ausgezeichnete Achtung gegen sie hegt, für seine Ansichten zu gewinnen und deßhalb mit den Zeitungs-Neuigkeiten in der Hand täglich in ihr kleines Zimmer eindringt und heftige, stundenlange politische Reden hält. – Trotz dem Allem ist er im Grunde seines Herzens ein biederer, offenherziger, menschenfreundlicher alter Knabe und harmonirt im Ganzen mit der alten Lady, obgleich er ihr zuweilen gar zu viel zumuthet, sehr gut; und wenn ihr Unmuth vorüber ist, so lacht sie so herzlich, als irgend Jemand, über seine Kunststückchen.

      Drittes Kapitel

      Die vier Schwestern.

      Dieselbe Reihe, in welcher die Häuser der alten Dame und ihres gewaltthätigen Nachbars stehen, umfaßt unstreitig eine größere Anzahl Originale als der ganze Rest unseres Kirchspiels zusammengenommen. Da wir aber nach dem uns vorgesteckten Plane die Zahl unserer Parochialskizzen nicht über sieben ausdehnen können, so wird es wohl am besten sein, die besonders ausgezeichneten auszuwählen, und sie auf ein Mal ohne weitere Erläuterung unsern Lesern vorzuführen.

      Die vier Miß Willis wohnen bereits dreizehn Jahre in unserem Kirchspiele. Es ist eine fatale Betrachtung, daß das alte Sprichwort: »Ebbe und Fluth warten auf Niemand«, sich mit gleicher Macht auf die schönere Hälfte der Schöpfung anwenden läßt; und gerne wollten wir die Thatsache verschweigen, daß sogar schon vor jenen dreizehn Jahren die vier Miß Willis bereits über ihre Jugendblüthe hinausgerückt waren; allein unsere Pflicht als Parochialchronikschreiber überwiegt jede andere Rücksicht, und wir können nicht umhin, kund zu thun, daß die Autoritäten in Heirathsangelegenheiten schon vor dreizehn Jahren des Dafürhaltens waren, daß es um die Aussichten der jüngsten Miß Willis sehr prekär stände, während die der ältesten Schwester, als über alle menschliche Hoffnung hinausgehend, vollkommen aufgegeben werden müßten.

      Die vier Miß Willis also mietheten ein Haus; es wurde von oben bis unten neu gemalt und tapezirt, die gemalten Piecen wurden vollständig getäfelt, der Marmor gesäubert; die alten Kamine abgenommen und durch Registeröfen ersetzt; in dem Garten hinter dem Hause wurden vier Bäume gepflanzt, der Platz vor dem Hause mit einigen kleinen Körben Kies überschüttet, große Vorräthe eleganter Möbeln langten an, Federn-Jalousien wurden an den Fenstern angebracht; die Zimmerleute, welche verschiedene Zubereitungen, Veränderungen und Reparaturen vorgenommen hatten, erzählten den verschiedenen Mägden des Quartiers von der Pracht, mit welcher die Miß Willis ihre Einrichtungen getroffen hätten; die Mägde theilten es ihren »Mississes« und die Mississes ihren Freundinnen mit, und das Gerücht verbreitete sich mit reißender Schnelle durch das ganze Kirchspiel, daß sich in Nr. 25 auf dem Gordonplatze vier unverheiratete, unermeßlich reiche Damen eingemiethet hätten.

      Endlich zogen die vier Miß Willis ein, und das Besuchemachen nahm seinen Anfang. Das Haus war der Inbegriff alles Niedlichen und Säuberlichen – die vier Miß Willis waren es gleichfalls. – Alles war förmlich, steif und kalt, – das waren die vier Miß Willis auch. Immer stand jeder einzelne Stuhl an seiner bestimmten Stelle, – und immer befand sich jede Miß Willis auf dem ihrigen. Sie saßen stets auf derselben Stelle und thaten genau dasselbe zu ein und derselben Stunde. Die älteste Miß Willis war gewohnt zu stricken, die zweite zu zeichnen, die beiden jüngsten vierhändige Sonaten auf dem Fortepiano zu spielen. – Sie schienen blos ein einziges unabgesondertes Dasein zu haben und entschlossen zu sein, ihr Leben vereint durchzuwintern. Es waren die drei Grazien, freilich nicht in Kostüme und etwas hochgewachsen, zu denen sich eine vierte gesellte – gleich einem Schulmittagessen, wo zum dritten langen Gratias noch ein viertes hinzukommt – die drei Parzen mit einer vierten Schwester – die Siamesenzwillinge durch zwei multiplizirt. Wurde die älteste Miß Willis gallsüchtig, so wurden es im Augenblicke auch die andern drei. Die älteste Miß Willis wurde übellaunig und andächtig – sogleich waren auch die drei jüngeren Miß Willis übellaunig und andächtig. Was auch immer die älteste that, das thaten ihr die jüngeren nach, und was irgend sonst Jemand that, wurde von Allen getadelt. – So vegetirten sie – in einer Harmonie, wie man sie nur bei einer Nordpolexpedition trifft, und wenn sie zuweilen in eine Gesellschaft gingen, oder eine stille Gesellschaft bei sich sahen, so wurden die Nachbarn durchgehechelt. Drei Jahre waren auf diese Weise hingegangen, als ein unvorhergesehenes, unerwartetes Phänomen eintrat. Die Miß Willis zeigten Symptome von Sommer; das Eis ging nach und nach auf; ein vollständiges Thauwetter trat ein. War es möglich? eine der vier Miß Willis war im Begriff sich zu verheirathen.

      Aus welchem Welttheile aber der Zukünftige gekommen, welche Gefühle und Beweggründe den armen Mann geleitet haben mochten, oder durch welchen Verstandesprozeß die vier Miß Willis dahin gelangt waren, sich zu überzeugen, es sei möglich, daß Eine von ihnen einen Mann heirathe, ohne daß er alle vier zugleich mitehelichte? – dieß sind Fragen, die uns zu tief liegen, um sie analisiren zu können. Soviel ist übrigens gewiß, daß die Besuche Herrn Robinson's (eines Gentlemans, der eine Anstellung im Staatsdienste mit einem guten Gehalt hatte und einiges eigenes Vermögen besaß) angenommen wurden – daß den vier Miß Willis von besagtem Herrn Robinson in aller Form der Hof gemacht wurde – daß die Nachbarn vor Begierde fast rasend waren, zu entdecken, welche von den vier Miß Willis die Beglückte wäre, und daß die Schwierigkeiten, die sich der Lösung dieses Problems entgegenstellten, nicht sehr durch die Eröffnung der ältesten Miß Willis gehoben wurden: »Wir sind im Begriff Herrn Robinson zu heirathen.«

      Es war wirklich ein außerordentlicher Fall – es war die Eine mit der Andern so vollständig identifizirt, daß die Neugierde der ganzen Reihe – sogar der alten Dame selbst – fast nimmer auszuhalten war. Man brachte den Gegenstand bei jeder noch so geringfügigen Gelegenheit, am Spieltische, beim Thee u. s. w. zur Sprache. Der alte Seidenwürmerzucht-Gentleman säumte nicht, seine Meinung entschieden dahin auszusprechen, daß Herr Robinson aus dem Orient komme, und sämmtliche Schwestern zumal zu heirathen gedenke; und die Bewohner der Reihe schüttelten ernsthaft den Kopf, und erklärten, daß die Sache äußerst geheimnißvoll wäre. Man hoffte, es werde alles gut enden; zwar hätte es wahrlich einen höchst sonderbaren Anschein, aber noch würde es ungerecht sein, eine vielleicht unbegründete Meinung darüber auszusprechen, auch wären die Miß Willis unstreitig vollkommen alt genug, um sich selbst am besten berathen zu können; Jedermann müsse selbst am besten wissen, wo ihn der


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