Rüpel in Roben. Tomek Lehnert
Читать онлайн книгу.Übertragungslinie zu einer sehr unsicheren Zeit. Elf Jahre waren seid dem Tod des 16. Karmapa vergangen und die 17. Inkarnation war nirgendwo in Sicht. Die vier Lamas, mit ihrer riesigen Pflicht betraut, schienen außerstande mit einer Lösung aufzuwarten. Die lange Wartezeit begann ihren Tribut zu fordern. Eine Anzahl politisch orientierter Gruppen tauchte in der buddhistischen Szene im Osten auf. Sie übertrafen sich gegenseitig in der Verbreitung absurder Gerüchte und beteiligten sich an einem Feldzug, der die Linienhalter zum Handeln nötigen sollte.
Die „Derge Association“ war nur eine dieser vielen Gruppen. Was sie jedoch von den anderen unterschied, war der Versuch, einen von Karmapas früheren Schüler, Tai Situpa, den anderen drei Lamas vorzuziehen. In ihrem Brief, der in Umlauf gebracht worden war und in dem sie sich anmaßten, die Mehrheit der Kagyü-Praktizierenden zu vertreten, behaupteten sie unverblümt, daß nur die jeweilige Inkarnation des Tai Situ Rinpoche (*Fußnote: Rinpoche ist ein Ehrentitel, der soviel heißt wie “Kostbarer” und der oft an buddhistische Meister verliehen wird) das historische Recht gehabt hätte, den nachfolgenden Karmapa anzuerkennen. Sie baten Tai Situ eindringlich, sofort von seinem einzigartigen Recht Gebrauch zu machen. Diese Forderung war ein abrupter Abschied von alten Gewohnheiten. In der Vergangenheit war es immer jene Person mit der größten geistigen Verwirklichung, die über ihre Träume und Visionen sprechen würde, um so den heiklen Prozeß, einen wiedergeborenen Tulku zu finden, zu unterstützen. Kein Lama hatte das alleinige Recht, Inkarnationen zu identifizieren und schon gar nicht die aufeinanderfolgenden Karmapas zu finden, die sich letzten Endes immer durch ihre Taten zu erkennen gaben.
Nun plante jedenfalls irgendwer eine Revolte. Eine größere Auseinandersetzung innerhalb der Linie stand bevor. Man bezeichnete Tai Situ als den einzigen, der berechtigt sei, den jungen Karmapa zu identifizieren, während seine drei Kameraden als Verhinderer bezeichnet wurden, die das ganze Vorhaben blockieren wollten. Zum ersten Mal seit sie der Öffentlichkeit im Osten solche Überlegungen einzutrichtern versuchten, dehnten die Kaufleute aus dem Kathmandu-Tal ihren Aktionsradius jetzt auch nach Westen aus. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug ihre Nachricht in der Szene der europäischen Buddhisten ein.
Während wir regungslos Sys Worten lauschten und versuchten ihren Ausführungen zu folgen, schätzte Lama Ole ruhig die Situation mit den Worten ein: „Das bedeutet Krieg”. Wir sollten während der nächsten zwei Jahre noch herausfinden, wie treffend seine Worte waren. An diesem Morgen des 17. März 1992 fielen die ersten Schüsse im Karma-Kagyü-Krieg. Ole erkannte dies mit seinem militärischen Instinkt sofort. Von da an eskalierte die Situation zusehends. Ein harter, kompromißloser Kampf sollte sich entfalten. Die Protagonisten, hochrangige und angesehene tibetische Lamas, verstrickten sich in Auseinandersetzungen und Schlammschlachten, die eher zu ehrgeizigen Politikern als zu religiösen Lehrern gepaßt hätten. Der kommende Konflikt sollte die Reife und Entschlossenheit Tausender buddhistischer Praktizierender auf der ganzen Welt prüfen. Er sollte die Landschaft des tibetischen Buddhismus im Westen verändern. Die Auswirkungen auf den Osten sind noch gar nicht voll abzuschätzen.
Als sich die Situation zuspitzte und - wie wir in diesem Buch erfahren werden - als sich die überschlagenden Ereignisse fast zur Übernahme der Kagyü-Linie durch das kommunistische China geführt hätten, beschäftigte uns alle eine brennende Frage: Wie konnte das nur passieren? Wie konnte eine Gruppe hochentwickelter Wesen, an der spirituellen Spitze einer Linie, Angelegenheiten, die das Wohlergehen und Wachstum ihrer Schüler betrafen, in solch einen unordentlichen Zustand bringen?
Heute, nach Jahren sorgfältiger Auswertung der Ereignisse, liegt die Antwort klarer auf der Hand, als wir das ursprünglich dachten. So seltsam es auch für moderne westliche Ohren klingen mag: die gegenwärtige Loyalität, die Rivalitäten und Feindseligkeiten der Lamas im Himalaya haben direkte Verbindung mit dem, was in Tibet und auch in China vor mehreren hundert Jahren geschah. Die Tibeter sind, wie alle Menschen - die hohen Lehrer mit eingeschlossen - ein Produkt der sozialen und politischen Bedingungen, in welche sie hineingeboren wurden. Ihre Handlungen und Geistesgewohnheiten sind in großem Maße von früheren Erlebnissen bestimmt. Um nun die Gründe und die Vielfalt ihrer Probleme zu erkennen, muß man in die Geschichte Tibets eintauchen. Diese besondere Geschichte beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts in den dunklen Gängen des majestätischen Potala Palastes in Lhasa - Residenz der Dalai Lamas. Sie führt uns durch eine Reihe von Ereignissen hin zu den heutigen tibetischen Lagern und Klöstern im Himalaya und auch zu den modernen tibetischen Zentren im Westen.
Als 1959 die ehrwürdigen Rinpoches, Lamas und Mönche Tibet verlassen mußten und zuerst nach Indien und dann in den Westen kamen, waren sie vom Feudalismus geprägt. Sich brachten nicht nur die gesammelten Werke Buddhas mit - die kraftvollsten Mittel, um mit dem Geist zu arbeiten - sondern auch ihre eigenen Probleme. Deswegen liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres bisweilen recht eigenartigen Verhaltens im Westen, in der Geschichte Tibets, eines bis zur chinesischen Invasion hermetisch abgeschlossenen Landes. Es ist das Land des Schnees längst vergangener Tage, sagenumwoben und eingehüllt in Mythen und Halbwahrheiten, das die Hintergründe des gegenwärtigen Dramas im tibetischen Buddhismus erhellen kann.
Dieses Buch versucht weder eine radikale Lösung zu bieten, noch hat es zum Ziel „keinen Stein auf dem anderen zu lassen“. Es ist der persönliche Erlebnisbericht eines Menschen, der Zeuge dieser Krise war, ein chronologischer Bericht über den Zeitraum von zwei Jahren, in denen das „Kagyü-Haus“ beinahe unter die Kontrolle des kommunistischen Chinas geraten wäre. Der Leser kann, bei genauerer Betrachtung der ungewöhnlichen Vorkommnisse, nach und nach Einblick in die Motive dieser Auseinandersetzung erlangen. Wenn man diese dann mit den alten sozialen Strukturen Tibets vergleicht, wird man zu einer etwas objektiveren Bewertung der Hauptcharaktere in dieser Verschwörung gelangen und sich darüber bewußt werden, daß es gefährlich ist, auf solche Charaktere blind hereinzufallen. Lassen wir Fakten für sich selbst sprechen und folgen wir der Geschichte und dem Menschenverstand. Möge die Vergangenheit die Rätsel der Gegenwart enthüllen und als Lektion für die Zukunft dienen.
KAPITEL 1
Das Königreich
Über Jahrhunderte war Isolation das bestimmende Merkmal Tibets. Die geographische Unzugänglichkeit des Landes und das echte Bedürfnis seiner Bewohner nach wenig Kontakt schufen ideale Voraussetzungen für diese Abgeschlossenheit. Als die siegreichen chinesischen Dynastien die Souveränität über ihre fernen Nachbarn beanspruchten und Lhasa unterwerfen und zur Anerkennung ihrer reizenden Oberherrschaft zwingen wollten, gaben die Tibeter nicht klein bei. Ungeachtet Pekings gewaltsamen Vorgehens gelang es dem Bergland, weiterhin ungestört und von der Außenwelt vergessen zu existieren. Die wilden Mongolenhorden, die Mitte des 17. Jahrhunderts große Teile des Landes zerstört hatten, waren eher ein Werkzeug in den Händen einer politischen Fraktion gewesen, um deren Rivalen zu unterwerfen, als ein tatsächlicher Aggressor von außen - ein Werkzeug, das zwar außer Kontrolle geraten war, aber trotzdem nicht mehr war als ein Werkzeug, das Politiker in ihrem Kampf um Macht eingeführt hatten. So waren im Verlauf der Geschichte Tibets Eindringlinge ein ungewohnter Anblick und das Land blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts so abgeschlossen, wie es zur Zeit war, als um das Jahr 750 der Buddhismus zum ersten mal Einzug in das Himalaya-Königreich hielt. Wegen dieser Abgeschlossenheit war es den Tibetern möglich gewesen, über ein Jahrtausend lang das zu bewahren, was tausend Jahre zuvor mehrere moslemische Invasionen in Nordindien äußerst gewissenhaft zerstört hatten: Die vollständigen Belehrungen Buddhas.
Die ersten Kontakte mit dem Westen entstanden im 19. Jahrhundert, als das russische und das britische Reich, im gegenseitig Mißtrauen, um Einfluß in dieser entlegenen Gegend wetteiferten. Europäische Forscher brachten Geschichten von mysteriösen religiösen Systemen, heiligen Lamas und riesigen Klöstern mit nach Hause. Englische Soldaten wußten weit weniger Wunderbares zu berichten. Colonel Younghusband, der 1904 eine Expedition anführte um Lhasa zu erobern, löschte mit einer Handvoll seiner Männer fast die ganze tibetische Regierungsarmee aus. Die militärische Macht der Tibeter blieb eindeutig hinter ihrer spirituellen Kraft zurück.
Nach dieser ersten Kontaktaufnahme nahm sich sofort ein Durcheinander von Spiritualisten, Theosophen und dergleichen des Königreiches an. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die europäische Öffentlichkeit mit exotischen Berichten von fliegenden Yogis überschüttet und mußte Abhandlungen über undurchsichtige spirituelle Lehrer