Kreuzweg zu anderen Ufern. Wolfgang Bendick

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Kreuzweg zu anderen Ufern - Wolfgang Bendick


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war und mir des Öfteren vorschlug, mit in die Sonntagsmesse zu gehen. Er war ein guter Kumpel, etwas über ein Jahr älter als ich. Eigentlich hatte ich seine Schwester vor ihm kennengelernt, die Christa, die öfters das Mädchen unserer Nachbarn besuchte, und mit ihr spielte. Dadurch kamen wir zusammen und ich spielte mit. Mich wunderte, dass meine Eltern nichts dagegen hatten, wie es sonst üblich war. Wahrscheinlich hatten sie von unserer Freundschaft gar nichts mitbekommen, da sie die ersten Jahre nach unserem Umzug sehr mit ihrem Lebensmittelladen und Geldverdienen beschäftig waren. Christa hatte ein kleines Schönheitsmal auf ihrer linken Wange, was meinen Blick automatisch auf sich zog. Wir waren noch Kinder, und sie war vorne noch so flach wie ich unterm Bauch und unsere Zärtlichkeiten und Spiele waren die von Kindern.

      Ihre große Schwester hingegen, die ich bald kennenlernen sollte, die Lindis, etwa 5 Jahre älter, hatte einen enormen Vorbau, war ziemlich groß und sehr schlank. Man hätte meinen können, dass sie als Modell für die Barbie-Puppen gedient hatte, die langsam in Umlauf kamen. Diese Schwester hatte einen Freund mit einem dicken BMW-Motorrad, der sehr dem Ken, dem Freund Barbies, ähnelte. Wenn die zwei auf ihrer Maschine durchs Dorf tuckerten – ganz in schwarzes Leder gezwängt, sie ihn an der Hüfte umklammernd – war es sicher, dass jeder sich nach ihnen umdrehte. Auch war da noch eine kleine Schwester in der Familie, blond, ein liebes Ding und eben der Manfred, damals ein Freund meines Bruders, da sie das gleiche Alter hatten und in dieselbe Schule gingen.

      Als ich das erste Mal mit in ihre Familie kam, war ich überrascht von dem herzlichen Umgangston. Sie wohnten schräg gegenüber in einer der Sozial-Wohnungen auf engstem Raum. Das Gemeinschaftsbad für alle Hausbewohner befand sich im Keller. In dem Maß, wie Christa an Rundungen zunahm, fand sie mich zu kindisch, was ja auch stimmte, denn mit ihren Hormonen war sie mir mindestens um zwei Jahre voraus. Vor allem wusste ich bald nichts mehr mit den zwei Freundinnen anzufangen, unsere früheren Spiele begeisterten sie nicht mehr. In Bezug auf Schwofen war ich eine Niete und es fehlte mir, ehrlich gesagt, auch an Mut, denn einmal, als ich ihr zu nahegekommen war, hatte sie mir eine geknallt. Bald hatte sie einen neuen Freund und ich auch, ihren Bruder.

      Wir zwei unternahmen Radtouren miteinander, er spielte außerdem sehr gut Mundharmonika. Später überließ ich ihm meinen Gitarren-Fernkurs, mit dem er in ein paar Woche so gut spielen lernte, dass er eine Band gründete, während ich es gerade mal schaffte, eine Melodie mit Akkorden zu begleiten. Er hatte nur einen Fehler, er war ein ziemlicher Angeber. Er musste bei den Radtouren immer der erste sein, was mich nicht störte, da ich so seinen Windschatten ausnutzen konnte. Er war halt ein schlechter Verlierer, und versuchte eher zu bescheißen, als auch mal zweiter zu sein. Aber sonst war er korrekt und wir machten nie Schweinereien miteinander, wie es mit den evangelischen Freunden vorkam, die da viel toleranter waren, wahrscheinlich, weil sie nur eine Gemeinschaftsbeichte ablegten und nicht direkt ihre Schandtaten dem Pastor sagen mussten.

      Kurz und gut, mit Manfred herumzuhängen, duldeten meine Eltern und auch, dass ich bei ihnen Fernsehen schaute, obwohl in ihren Augen sonst kaum ein Umgang gut genug für mich war. Sie hielten sich nun mal für etwas Besseres und wollten vor allem, dass aus uns zwei Kindern nochmal was Besseres würde. Nur einmal fiel er bei meiner Mutter in Ungnade und mir wurde verboten, ihn zu treffen, woran ich mich aber nicht hielt, da ich es schnell genug gelernt hatte, elterliche Gebote (wie auch die Gebote Gottes) unauffällig zu umgehen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter den Vater davon unterrichtet hatte (oder vielleicht doch?). Und das kam so: Als ich abends zum Essen heimkam - Vater rackerte sich auswärts bis spät in die Nacht für uns ab, damit wir es später einmal besser haben sollten, er machte Versicherungen - fragte die Mutter: „Na, wo warst du denn heute?“ Ich: „Beim Manfred!“ „Und, was habt ihr da gemacht?“ Sollte ich ihr wirklich erzählen, was wir alles getrieben hatten, und dass auch der Jürgen, ein Evangelischer, ziemlich älter als ich, ein Freund meines Bruders dabei waren und auch mein Bruder? Lieber nicht, sie würde bestimmt irgendetwas Verbotenes daran finden, alleine schon, dass die anderen älter waren. Und vor allem würde mein Bruder das als ‚Petzen‘, also Verrat, auffassen.

      „Witze erzählt!“, antwortete ich ihr und hoffte, dass es damit abgetan sei. Aber nein, sie hakte nach. War das Geschäft in ihrem Laden so mies gewesen, dass sie Aufheiterung brauchte? Denn meistens kamen die Kunden erst gegen Monatsende zu uns einkaufen, wenn sie bei den anderen Krämern im Dorf keinen Kredit mehr bekamen. „Erzähl mir doch einen, ich möchte auch mal was zum Lachen haben!“, forderte sie mich auf. Ich fing an zu schlucken. Die Witze, die die Großen erzählt hatten, waren nicht für Kinderohren gewesen und sicherlich auch nichts für die Ohren Erwachsener, zumindest der eigenen Eltern. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass sie sich auch solche erzählten. Einer war gewesen: „Was ist der Unterschied zwischen einer Autobahn und einem Nylonstrumpf?“ Wir rieten herum und fanden keine Lösung, bis dann der Jürgen sagte, „die Autobahn führt durch den Urwald, der Nylonstrumpf geht bis zum Urwald“. Wir brachen alle in Lachen aus, als hätten wir uns das denken können. „Was denn für einen Urwald?“, fragte ich leise den Manfred. „Na, die Muschi der Mädchen, die Schamhaare, du Säugling du!“ Jetzt kapierte auch ich.

      Doch einen solchen Witz würde meine Mutter wohl noch weniger als ich kapieren. Oder zumindest falsch auffassen. Ich zog es vor, ihn ihr nicht zu erzählen. „Na, dann sind das wohl keine echten Witze gewesen?“, drang meine Mutter weiter, „geniere dich nicht, ich verstehe schon auch Spaß!“ Nun gut, wenn sie Spaß verstand, dann würde sie wohl den anderen Witz kapieren und mit mir darüber lachen. Ich begann: „Das ist eigentlich kein richtiger Witz, sondern eher ein Rätsel, aber zum Lachen“. „Da bin ich ja gespannt!“ „Was ist der Unterschied zwischen einer Telegraphenleitung und einem Sofa?“, fragte ich sie und schaute sie gespannt an. Sie überlegte eine Weile, murmelte vor sich hin, um dann einzugestehen: „Ich find’s nicht, also sag du’s mir!“ „Auf der Telegrafenleitung paaren die Vögel, auf dem Sofa vögeln die Paare!“ Und ich fing an zu lachen. Nur, meine Mutter lachte nicht. Ihr Gesicht wurde rot. „Das ist kein Witz, das ist eine Schweinerei! Von wem hast du das, vom Manfred?“ Ich nickte, konnte doch nicht sagen, dass der vom Jürgen war, denn sonst hätte mein Bruder mich als Petze bezeichnet. So kam es, dass mir der Umgang mit dem ‚Früchtchen‘ Manfred verboten wurde, obwohl der eigentlich der kleinste ‚Dreckbär‘ der Bande war.

      Da wir uns offiziell nicht mehr sehen durften, tüftelten wir sogleich aus, wie wir uns trotzdem verabreden könnten. Wir kamen auf die Idee, es mit bunten Papierfähnchen anzuzeigen. War mein Vater zu Hause oder sonst wie dicke Luft, klebte ich mit Tesafilm einen roten Zettel außen an mein Zimmerfenster (Manfred wohnte ungefähr 8O Meter schräg hinter uns. War die Luft rein, pappte ich einen grünen Zettel auf die Scheibe. Ebenso tat er, wenn er mich treffen wollte.

      Doch war das alles irgendwie zu umständlich. Denn wir hingen ja nicht immer nur im Fenster. Die Nachmittage strolchten wir durch die Gegend und ‚kundschafteten aus‘. Im Micky-Maus-Heft hatten wir gesehen, wie die drei kleinen Schweinchen mit dem kleinen bösen Wolf mittels zweier Dosen und einer dazwischen gespannten Schnur telefoniert hatten. Wir besorgten uns einen langen Bindfaden, durchlöcherten die Böden zweier Konservendosen (das alles in einem Moment, wo meine Mutter voll in ihrem Laden beschäftigt war), verknoteten die Fäden und versuchten unsere Nachrichten zu übermitteln. Doch klappte es nicht richtig. Nur wenn wir hineinschrien, hörten wir uns. Aber Schreien mussten wir ja vermeiden, damit uns niemand auf die Schliche kam. Wahrscheinlich funktionierte unser System nicht, da die Schnur den Boden berührte. Die Entfernung war einfach zu groß und die Kordel zu schwer.

      Irgendwie hatte ich mal einen Telefonhörer eingehandelt, den wohl mal jemand in einer Telefonzelle hatte mitgehen lassen. Manfred besaß einen Kopfhörer, der sicherlich im Krieg in einem Panzer gedient hatte. In der Mittelschule hatte er im Physikunterricht gelernt, dass man mittels zweier Drähte zwischen zwei Kopfhörern kommunizieren kann, ganz ohne Strom und Verstärker. Wir probierten es aus. Und wirklich, es klappte auf kurze Entfernung! Also schmissen wir alle unsere Ersparnisse zusammen, verzichteten einen Monat auf Tabak und Kaugummi und holten beim Elektro-Maier 90 Meter isoliertes Kabel. Dieses band ich abends am Fensterladen-Halter an und entrollte es bis zu Manfreds Schlafzimmerfenster. Der bohrte ein Loch in den Fensterrahmen, zog die Litze hindurch und schloss seinen Kopfhörer an. Ich eilte zurück, schlich durch den Keller ins Haus, dann leise die Treppe hinauf. Mein Bruder hörte wie immer lautstark sein Transistorradio,


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