Raus aus der Krise. Geri Schnell
Читать онлайн книгу.der eine Runde zahlen muss, oder der im Kartenspiel ausgenommen wird, denkt Max.
Ein bisschen Gesellschaft würde ihm guttun, doch Max kann sich noch nicht damit abfinden, dass das sein neues Zuhause ist.
Als Arbeitsloser hat man am frühen Morgen eigentlich viel zu tun. Man muss die Inserate studieren, auch wenn man genau weiss, dass wieder nichts Passendes zu finden ist. Das Stempeln im Arbeitsamt, wird seine erste Tätigkeit sein. Vorher muss er sich noch etwas zurechtmachen. Das letzte Mal, hatte der Beamte in seinem sauberen, mit Krawatte verzierten Hemd gedroht: «Herr Meier, wenn sie nochmals ungewaschen und unrasiert hier auftauchen, dann streichen wir unsere Unterstützung. Sie müssen vermittlungsfähig sein, damit Sie Arbeitslosengeld kassieren dürfen!»
Bevor sich Max in der Toilette zurechtmachen will, hat er noch genügend Zeit, die Zeitung zu lesen. Viel Erfreuliches steht nicht drin. Wenn er richtig zusammengezählt hat, so sind wieder 200 Stellen gestrichen worden. Also, zweihundert neue Berufskollegen. Die Aussichten werden immer schlechter. Was tun die Politiker dagegen? Reden, reden und nochmals reden. Statt über neue Stellen, reden alle vom Sparen, also müssen Stellen abgebaut werden.
Seit der Corona-Krise hat sich die Wirtschaft noch nicht erholt. Alle Staaten sind überschuldet und beginnen zu sparen. Wer hat damit gerechnet, dass als Folge des Corona-Virus die Steuereinnahmen so drastisch einbrechen. Nun muss man sparen.
Das Lesen der Zeitung hat ihn so geärgert, dass er sich einen Zweier Roten bestellt. Nur so ist die ganze Misere zu ertragen. Den ersten Schluck hätte er am liebsten wieder ausgespuckt, doch dann fühlt er sich stark. In Gedanken fällt er über seine Exfrau her. Sie ist an allem Schuld. Sie wollte ihn nicht verstehen. Zuerst arbeitete er sich für das neue Einfamilienhaus fast zu Tode und dann, als er einmal ein Problem hatte, liess sie ihn fallen, wie eine heisse Kartoffel. Zehn Jahre lang, domminierten seine Arbeit und die beiden Buben, den Lebensinhalt. Es ist verdammt hart, wenn man beides innert ein paar Monaten verliert. Max versinkt im endlosen Selbstmitleid.
«Noch einen», ruft Max dem Kellner zu.
Dann grübelt Max wieder über seine verpatzte Ehe nach. Was hat er nur falsch gemacht? Später bestellt er noch einen Zweier.
«Musst du nicht Stempeln gehen?», fragt ihn plötzlich einer vom Tisch der Dreitagebärtigen.
«Oh, verdammt, das habe ich glatt vergessen. Denen werde ich heute gehörig die Meinung sagen. - Zahlen!»
«Macht zwölf vierzig!»
Max legt fünfzehn Franken auf den Tisch.
Der Kellner sucht nach Kleingeld.
«Stimmt so.»
Er hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er es sich gar nicht mehr leisten kann, grosszügig zu sein. Schliesslich macht er sich ungewaschen und unrasiert auf den Weg zum Arbeitsamt.
Der Beamte will ihn zuerst gar nicht reinlassen, drückt dann aber beide Augen zu. Es hat heute eine längere Kolonne, vermutlich ist wieder eine Firma geschlossen worden, oder der Beamte kam zu spät. Jeder in der Schlange, schaut sich mitleidig nach Max um. Sie haben sofort bemerkt, dass er grosse Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Jedem fällt auf, dass sein Outfit dem Beamten garantiert missfallen wir. Nur gut, dass man schon vorher drankommt. Der Beamte wird sicher sauer werden. Das wird ein Theater absetzen.
«Was guckt ihr alle so blöd? Ihr Deppen!», grölt Max, «darf man sich nicht voll laufen lassen, wenn man mit 31 schon geschieden wird? Wenn die eigenen Kinder einem nicht mehr sehen wollen? Wenn man keine Wohnung hat und die Nacht auf einer Friedhofsbank schläft und man an diesem Scheissschalter anstehen muss?»
Beschämt schauen die Kolonnensteher nach vorne. Wie wird der Beamte reagieren? Jeder erwartet, dass er loslegt, doch der Beamte bleibt ruhig.
Max randaliert weiter, schimpft über die unfähigen Politiker, über seine Exfrau und über seinen Exchef, der nach Brasilien verduftet ist. Plötzlich wird die Kolonne schnell kürzer. Der Beamte beeilt sich, die letzten noch Anstehenden so schnell wie möglich abzufertigen. Es sind eh nur noch die hoffnungslosen Fälle. Die sind im Moment nicht zu vermitteln. Max Meier wäre mit seiner Ausbildung noch jemand, den man unterbringen könnte, aber der Beamte sieht ein, dass heute nichts zu machen ist. In dieser Verfassung schickt man ihn besser nicht auf Stellensuche, das wäre kontraproduktiv.
Endlich ist Max an der Reihe, er streckt seine Karte in den Schalter und erwartet, dass der Beamte loslegt. Der drückt aber nur seinen Stempel auf die Karte und gibt sie ihm zurück.
«Und, wo soll ich heute Nacht schlafen?», fragt Max den Beamten, «ich musste meine Wohnung räumen. Ich habe nur diese Plastiktasche.»
«Das ist Ihr Problem, versuchen Sie es bei der Heilsarmee, oder beim Pfarrer», schlägt der Beamte vor und bemüht sich, das Türchen zu schliessen.
Bald darauf steht Max wieder vor dem Arbeitsamt auf der Strasse und weiss nicht wie es weiter gehen soll. Die zwanzig Franken, welche ihm pro Tag zum Verbrauchen bleiben, hat er für heute schon fast ausgegeben. Er wird das Budget überziehen müssen.
«Hast du Probleme? - Ich bin Otto», stellt sich der verlauste Typ vor, «komm doch mit zum Gleisspitz, dort treffen sich viele Obdachlose. Gemeinsam ist es einfacher zu ertragen.»
Max ist diese Einladung nicht unangenehm. Er hat immer noch Probleme mit anderen Leuten zu sprechen. Doch, dank seinem alkoholisierten Zustand überwindet er seine Hemmungen.
«Ich kann ja mal vorbeischauen», antwortet Max.
Auf dem Weg zum Gleisspitz gibt ihm Otto einige nützliche Typs: «Kauf deine Weinflasche im Supermarkt und nicht in der Kneipe, sonst bist du zu schnell pleite. Wenn du das Geld richtig einteilst reicht es weiter, als du denkst.»
Je länger Max mit Otto zusammen ist, umso unheimlicher wird er ihm. Seine Ratschläge haben zwar etwas für sich. Max hatte jedoch zu lange etabliert gelebt, um diese Tagediebe zu verstehen. In seinem jetzigen Zustand ist ihm das egal, es tut ihm gut, wieder mit jemandem zu reden, denn seit der Gerichtsverhandlung hat er nur mit dem Kellner und dem Beamten im Arbeitsamt gesprochen.
Am Gleisspitz ist Max schockiert. So hat er sich immer den Letten in Zürich vorgestellt. Dass es so etwas auch im biederen Olten gibt, überrascht ihn. In kleinen Gruppen hängen die unmöglichsten Typen rum. Max ist sich noch nicht bewusst, dass er gute Aussichten hat, auch so ein Landstreicher zu werden. Normalerweise wäre er sofort umgekehrt und hätte sich aus dem Staub gemacht. Nun trottet er Otto hinterher, der geht auf eine Gruppe zu, die sich im hinteren Teil des Parks, auf zwei Parkbänken ausgebreitet hat. Die Gruppe nimmt von den Neuankömmlingen kaum Notiz.
Otto kramt in seinen Taschen. Nach und nach kommen verschiedene Gegenstände zum Vorschein. Otto legt sie vor sich auf den Parkboden und ist beschäftigt, bis ihm plötzlich einfällt, dass er ja jemand mitgebracht hat.
«Soll ich dir auch einen Schuss beschaffen», fragt er Max, «in deinem Zustand würde ich zwar darauf verzichten, zusammen mit Alkohol gibt es ein Horrortrip. Aber wenn du nur sehr wenig nimmst, dann ginge es schon.»
«Nein danke», erwidert Max, «ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus.»
Otto lässt sich nicht weiter stören und macht in seinen Vorbereitungen weiter. Max schaut sich in der Gruppe um, ob er wenigstens einen findet, dem er seine beschissene Lage erklären kann. Die meisten der Gruppe sind auf ihrem Trip und deshalb nicht ansprechbar. Ein etwa neunzehnjähriges Mädchen diskutiert mit einem Jungen über ihre Probleme mit den Freiern. Die Diskussion ist für Max kaum verständlich, fast für jedes Wort haben die einen Ausdruck, welcher er noch nie gehört hat. Der Streit dreht sich um den Unterschied, zwischen der Tätigkeit als Strichjunge und der einer Hure. Der Unterschied liegt vor allem in der Bezahlung, anscheinend verdient der Strichjunge bedeutend mehr, muss aber die verrückteren Dinge über sich ergehen lassen.
Otto ist inzwischen auf seinem Trip. Max kennt das bisher nur vom Fernsehen. Es wird ihm schlecht und er muss sich fast übergeben. Auf jeden Fall reicht es ihm für heute, das ist wirklich nicht sein Umgang. In Zukunft wird er einen grossen Bogen um den Gleisspitz machen.