Von Zwanzig bis Dreißig. Theodor Fontane

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Von Zwanzig bis Dreißig - Theodor Fontane


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die umliegenden Dörfer – ich hätte dabeisein mögen, wenn zum Beispiel St. Paul mit einer jungen Melkerin im Kuhstall verhandelte – und schlossen mit zahllosen Pächtern und Bauerngutsbesitzern Kontrakte über Milchzufuhr ab. Von einem bestimmten Tage an hatte jeder soundso viele Quart zu liefern. Das Bureau und die Kellerräume, alles ganz großartig, befanden sich in der Bernburger Straße. Die Milch kam denn auch, aber die Käufer blieben aus, und nachdem schließlich mehrere Tage lang ein gewisser saurer Milchton die ganze Bernburger-Straßen-Luft durchzogen hatte, sah man sich genötigt, eines Nachts den ganzen Vorrat in die damals noch in Blüte stehenden Berliner Rinnen ablaufen zu lassen.

      Das Vermögen der Frau Stirner war hin.

      Aber die »Sieben« waren nicht die Leute, sich solche Bagatellen zu Gemüte zu nehmen. Ihre gute Laune blieb dieselbe, vor allem ihr Übermut, der nur in Form und Gegenstand beständig wechselte. Sie trieben dergleichen sportsmäßig, und Schraubereien standen ihnen obenan. In Stehelys Konditorei hatten sich damals ein paar Korrespondenten eingenistet, die mehrere süddeutsche Blätter von Klang und Namen mit politischen Neuigkeiten aus der ministeriellen Obersphäre zu versorgen hatten. Über einen dieser Korrespondenten hatten sich die »Sieben« aus einem vielleicht stichhaltigen, aber noch wahrscheinlicher nicht stichhaltigen Grunde geärgert und beschlossen deshalb, ihn »hineinzulegen«. Jeden Tag, solange diese Verschwörung anhielt, erschienen Faucher, Saint Paul und Edgar Bauer an einem bestimmten Tische der Stehelyschen Konditorei, vorgeblich um zu lesen, in Wahrheit aber, um eine gefälschte politische Debatte zu führen und grotesk erfundene Nachrichten in Kurs zu setzen. »Heinrich Arnim ist seit kurzem fest entschlossen...«, und nun kam etwas so Stupendes, daß der am Nachbartisch sitzende Korrespondent notwendig die Ohren spitzen mußte. Drei Tage später hatten die Verschworenen den Hochgenuß, den ganzen Galimathias in der einen oder andern Zeitung wiederzufinden.

      Ein andres Opfer der »Sieben Hippelschen« war der Schriftsteller Saß, der sogenannte »lange Saß«. Er maß sechs Fuß und befleißigte sich einer dieser Größe fast gleichkommenden Feierlichkeit, woraufhin er sich natürlich als komische Figur behandelt sah. Immer neue Späße variierten das alte Thema vom Gulliver, das aber erst Anfang der fünfziger Jahre, wo die Hippelschen schon nicht mehr existierten oder doch nach allen Seiten hin zerstoben und verflogen waren, in einem illustrierten Witzblatte seinen glorreichen Abschluß fand. Der lange Saß war damals politischer Korrespondent in Paris, und das Blatt, ich glaube der Kladderadatsch, das sich mit ihm beschäftigte, zeigte zunächst, hochaufragend, die beiden Türme von Notre-Dame. Auf einem dieser Türme aber stand niemand Geringeres als Louis Napoleon selbst, unwirsch und halb verlegen, weil ihm die Zigarre ausgegangen war. Indessen Hülfe war nah. Der mit seinem Kopf gerade bis an die Balustrade reichende Saß kam rauchend vorüber und wurde denn auch von Louis Napoleon herangerufen und kameradschaftlich um Feuer angesprochen.

      In diesem Bilde, das bei Saß' Popularität sein Publikum fand, lebte – sozusagen von der »milderen Observanz« – ganz schon jene moderne Form des Witzes, wie sie im wesentlichen noch jetzt in Gültigkeit ist; der vormärzliche Witz aber war viel, viel boshafter, persönlich beleidigender, vor allem unendlich überheblicher. Er lief darauf hinaus, alle Welt außer der eigenen werten Person als dumm hinzustellen und Freund und Feind zu düpieren. Die Lust daran beherrschte die damalige höher potenzierte Menschheit oder doch die, die sich dafür hielten, mit einer geradezu diabolischen Gewalt. Es war eine Geisteskrankheit der höheren Stände, letzter Rest jener schrecklichen Ironie, die zur Tieck-Schlegel-Zeit den ganzen Ton bestimmt hatte. Mir persönlich fehlt jedes Organ dafür. Ich find' es einfach albern. Es ist nichts, als Personen in den April schicken, Leute, die meist klüger sind als die, die sich über sie erheben möchten.

      In diesem Düpierungsfanatismus waren die »Sieben« groß, wobei sie sich übrigens selber beständig beschummelten und ihre Niederlage, wenn sie sich ertappt sahen, mit Falstaff-Humor ertrugen. Einmal war Faucher sechs Wochen lang fortgewesen. Als er wiederkam, erzählte er von seinen Reiseabenteuern in Spanien und Südfrankreich und gab die glänzendsten Schilderungen. Das ging so eine ganze Weile. Dann aber unterbrach ihn Ludwig Buhl und sagte: »Du Vater der Lüge! Ich habe das Buch, draus du das alles genommen hast, zufällig auch gelesen. Du warst in Ahlbeck, aber nicht in Pau. Such dir ein dummres Publikum.«[Alle diese vorstehend erzählten Geschichten der »Sieben Hippelschen« aus der Mitte der vierziger Jahre Verdanke ich meinem seit nun fast zwanzig Jahren verstorbenen Freunde Heinrich Beta, auf den ich noch in Kürze zurückkomme. Wenn einzelnes nicht ganz stimmen sollte – ich persönlich glaube, daß im wesentlichen alles wahr ist –, so findet sich vielleicht wer, der die Fehler richtigstellt. Allerdings existiert wohl nur einer noch, der dazu fähig ist: Ludwig Pietsch. Und diesen einen möcht' ich bei der Gelegenheit nicht bloß zu Richtigstellungen, sondern vor allem auch zu Mitteilungen über die »Sieben« überhaupt dringendst aufgefordert haben. Denn Berlin hat kaum jemals – natürlich den einen Großen abgerechnet, der um jene Zeit noch die Elbe-Deiche revidierte – interessantere Leute gesehn als diese »Sieben«.]

      Bald nach den Märztagen oder vielleicht auch schon vorher verlor ich Faucher auf lange Zeit aus dem Gesicht und sah ihn erst ungefähr zehn Jahre später in London wieder. Aber auch da nicht gleich. Ich war schon Jahr und Tag da, als ich ihn eines Tages bei dem eben erwähnten Heinrich Beta – vergleiche die Anmerkung – traf, der im Norden der Stadt, in Pratt-Street wohnte. Betas Haus war ein Rendezvous für alles, was damals von deutschen Politikern und Schriftstellern in London lebte. Seine Mittel waren nicht groß, aber seine Herzensgüte desto größer; er wurde nicht müde zu geben, und was er mit seinen gichtischen Fingern sich schwer verdiente, das gab er leichter Hand wieder fort. Er war auch in diesem Punkt, wie in allem, kritiklos. Aber eine gute, treue Seele, was niemand besser wußte als Faucher. Daraus wolle man aber nicht schließen, daß Faucher diese Güte mißbraucht hätte. Das konnte nicht gut sein. Faucher sah sich seine Leute sehr scharf an und modelte danach sein Benehmen; so gewiß er, aufs Ganze hin angesehn, ein Pumpgenie war, so war er doch voll Respekt vor dem Scherflein der Witwe. Dies Scherflein nahm er nicht. Vielleicht auch bloß deshalb nicht, weil es ihm zu wenig war. Er hatte, wie mancher andre, das Prinzip, sich nicht mit Kleinigkeiten abzugeben. Was ihn trotz dieses Prinzips immer wieder zu Beta führte, war einfach Anhänglichkeit aus gemeinschaftlich verlebten Berliner Tagen her und mehr noch ein Respekt vor dem eigenartigen Betaschen Talent. »O, diese Gartenlaube!« pflegte er auszurufen. »Wenn dieser Ernst Keil, dieser Barbarossa von Leipzig, nur einen Schimmer von Dankbarkeit hätte, so hätte er den Beta längst in Gold gefaßt. Alles, was er ist, ist er durch diesen. Das einzige, was man lesen kann, stammt aus Betas Feder. Und was tut er? Ich glaube er zahlt ihm ein Jahrgehalt. Aber was heißt das? Was ist das? Es ist ein Hungerpfennig.« So ging es weiter. Beta saß dabei und freute sich natürlich, denn welcher Schriftsteller freute sich nicht, wenn in diesem Stil auf Redakteur und Verleger gewettert wird – er hielt es aber doch jedesmal für angebracht, den »Barbarossa von Leipzig« zu verteidigen. Dies war auch nur in der Ordnung. Keil, was sonst immer ihm fehlen mochte, war alles in allem sehr splendid gegen Beta, und was Faucher zu des letztren Verherrlichung sagte, steckte stark in Übertreibung. Betas Verdienste um die Gartenlaube waren nicht gering, jegliches, was er schrieb, las sich gut und entbehrte nicht eines gewissen, ja mitunter großen Interesses. Aber es war doch meistens entlehnt, und seine Gabe bestand lediglich darin, alles, was er in den englischen Blättern fand, in eine Betasche Form umzugießen. Durch diese Form gewann es mitunter, aber doch nur sehr ausnahmsweise, und Fauchers Fehler war, daß er diese Ausnahmen zur Regel erhob.

      Eines Tages, als wir das Betasche Haus in Pratt-Street verließen, sagte Faucher zu mir: »Kennen Sie London?«

      »Ja, was heißt kennen! Ich könnte vielleicht sagen ›ja‹, denn ich flaniere viel umher. Aber es ist doch wohl richtiger, wenn ich sage ›nein‹.«

      »Nun, präzisieren wir die Frage. Kennen Sie die Matrosenkneipen in Old-Wapping?«

      »Nein.«

      »Oder die Werbekneipen in Westminster?«

      »Nein.«

      »Oder Punch und Judy?«

      »Nein.«

      »Nun, dann weiß ich, wie's steht und daß Sie sich noch im Stande der Unschuld befinden. Ich bin übrigens, wenn es Ihnen paßt, jeden Augenblick


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