Freie Republik Lich - 2023. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Pro Natur lebten davon gut und gerne drei Jahrzehnte. Jetzt aber, im Februar 2019, war Rudi erschüttert, als ich ihm am Telefon von den sich anbahnenden Entwicklungen berichtete.
Doch recht schnell streifte er seine Besorgnis ab und meinte: „Stefan, sei beruhigt! Damit kommen die nicht durch. Da wird kein Klotz mitten in eure schöne Natur gesetzt. Wie kommst du nur darauf! Und diese vielen LKW, vierhundert oder gar fünfhundert Lastwagen pro Tag …“ Er lachte hellauf. „So verrückt sind eure Politiker nicht. Ich kenne einige eurer Entscheidungsträger und Abgeordneten, ich habe mit denen zusammen gefeiert und gesoffen, nein, die Sache ist eine Luftnummer! Eine Totgeburt! Da geht nichts schief! Keine Sorge!“ Rudi lachte noch einmal laut auf, und ich lachte mit ihm.
Auch mein Bruder musste herzlich lachen, als ich ihm meine Bedenken beichtete. Er hatte mich in früheren Zeiten manchmal als überzogenen Bedenkenträger bezeichnet, was mir natürlich gar nicht gefiel, denn das wäre so, als würde man einen Polizisten dafür rügen, dass er wachsam die Bürger schützt. Das Wort »Bedenken« hängt doch irgendwie mit »Verantwortung« und insbesondere mit dem Wort »denken« zusammen, oder täusche ich mich? Und vorausgedacht haben damals viele der Licher Bedenkenträger.
„Nein, da wird ganz sicher nichts hingebaut, was dem Charakter eures lieblichen Heimatstädtchens widerspricht oder gar die Luft- und Lebensqualität ruiniert. Nein, das läuft nicht!“, meinte mein Bruderherz kurz und bündig.
Aber es lief und es ging schief und der Klotz kam und siegte. Doch dann kamen wir, die Entrüsteten, wir sahen – und auch wir siegten. Nur war es ein Sieg auf Messers Schneide, wie man so schön und lapidar zu sagen pflegt. Manche sprachen von einem Pyrrhussieg, was ich persönlich für unzutreffend halte.
Ist ein Glas halb voll oder halb leer? Es entscheidet der Blickwinkel und der Standpunkt. Und manchmal entscheidet keines von beidem, sondern ausschließlich das Schicksal.
Ich berichte wahrscheinlich eine Spur zu schnell, ich weiß. Ich zügele mich und werde ab jetzt langsamer berichten. Sie wollen schließlich alles nachvollziehen. Sie lieben die Gewissenhaftigkeit, jedenfalls seitdem Sie mitbekommen haben, wie gewissenlos und flüchtig bahnbrechende politische Entscheidungen getroffen werden können. Nun gut. Neuer Anlauf ...
Unsere friedliche Revolution hatte schließlich gesiegt. Aber ohne gewisse äußere Umstände und Zufälle hätte es auch anders ausgehen können. Wir hatten Glück. Wir hatten eine komplette Bahnstrecke von Ost nach West unter unsere Regie gebracht. Dazu jenen Flugplatz, wie schon erwähnt, ein Wasserwerk, den Busverkehr und alles andere, was man zum Leben braucht. Die Energieversorgung stellte uns vor besonders hohe Hürden. Aber wir sprangen darüber hinweg und hatten fabelhafte Ingenieure. Dazu später. Und natürlich gehörte uns das Rathaus, und Arnold Aurora war jetzt unser Mann.
Und jetzt endlich wollen Sie wahrscheinlich wissen, wie es dazu gekommen war. Die Geschichte der Freien Republik Lich ist, wie soll man sagen, ein Nicht-Ereignis geworden. Kein Buch dazu in unserer Stadtbibliothek, kein Vermerk im Stadtarchiv, kein Wort über sie wird laut im Schulunterricht. Ich muss es wiederholen: Einige wollen unseren damaligen Erfolg kleinreden oder sich an diesen fürchterlichen Nebel nicht mehr erinnern. Mag sein, dass es für die schwachen Nerven und feinen Gemüter mancher Beteiligten zu viel war und eine Art Trauma hinterließ. Hauptsächlich aber vermute ich dahinter eine Strategie der damals Entmachteten, die ihr hochheiliges Logistikzentrum und ihre Felle davonschwimmen sahen. Und das alles schwamm ja auch davon.
Es verschwamm in der Zeit, als uns wütende Monster aufsuchten. Es verschwamm in den Tagen zwischen dem 16. und 19. Dezember 2023 in jenem unheimlichen Nebel, der uns alle überraschte und unserer Revolution folgte oder mit ihr Schritt hielt – oder wie immer man die Sache einzuordnen gedenkt. Ich kann mich auch täuschen, wenn ich hinter der Verdrängung unseres selbstgeschriebenen Stücks Geschichte eine Absicht vermute. Natürlich, und dies liegt in der Natur der Sache, wäre es eine politische Absicht. Welche Personenkreise jedoch könnten dahinterstecken?
Müssten es, wenn die Logik logischerweise der Logik folgen würde, nicht diejenigen sein, die den Monsterbau befördert und bewilligt haben? Jener Ex-Bürgermeister, Arturo Groß, mit seinen großmundigen Versprechungen? Jener unseriöse Bauaufsichts-Beamte, Rüdiger Halbersach, der in einem außergewöhnlichen Hauruckverfahren seiner tatsächlichen Aufsicht unzureichend, man möchte sagen: bewusst unzureichend, nachkam, sich ungeachtet dessen aber als Held von Lich rühmen ließ? Jene willfährige Erste Stadträtin, Ingrid Steegher, die sich Groß und einem Immobilienhai verpflichtet fühlte und die es verstand, rechtlich klare Linien zu einer rasanten Schlangenlinie umzubiegen?
Müssten es nicht die vielen bedenkenlosen Mitläufer sein? Jene kleinkarierten Stadtverordneten mit ihrer grenzenlosen Naivität und offensichtlich angeborenen Unterwürfigkeit? Jene, die sich von den sogenannten Profis und Experten gnadenlos überrumpeln ließen? Jene gewählten Bürgervertreter, die es geschehen ließen, dass man ihnen gerade mal drei Tage Zeit ließ, um volle 650 Seiten zu einem komplizierten Bewilligungsverfahrens zu lesen, zu verstehen und letztlich kritisch zu überprüfen?
Müssten es nicht jene sein, die aus christ- und sozialdemokratischer Bequemlichkeit das Nachfragen unterließen und Gott einen guten Mann sein ließen? Jene, mit all dem Gottvertrauen in die angeblich soziale Macht des Geldes, welche ihnen »ungeahnte Steuereinnahmen« – und natürlich viele, viele Arbeitsplätze, was sonst! – vorflunkerte? Ich sage nur: Tanz um das Goldene Kalb! Politische Halluzinationen! Lassen wir das. Ich möchte der brisanten Geschichte nicht vorgreifen.
Wie also begann das alles?
Damals 2018
In jenem Jahr arbeitete ich in einem Licher Verlag und übernachtete gelegentlich bei meiner Freundin. Sie hatte eine Wohnung inmitten der historischen Altstadt. Stella und ich saßen beim Mittagessen auf ihrem Balkon. Wir schauten über die Dächer von Lich in östlicher Richtung des niedlichen Wiener Cafès, das sich unterhalb des Wohnhauses befand. Dort gab es die leckersten Torten, aber Stella und ich achteten auf unsere Linie. In diesem Sinne waren wir absolut linientreu. Ansonsten waren wir, wenn man so will, Freigeister.
Es war Donnerstag, der 5. Juli, die Sonne brannte vom Himmel, und ich freute mich wie ein Zaunkönig – wenn denn Zaunkönige sich wirklich und sichtbar freuen können. Ich freute mich, weil Stella heute nicht im Geschäft sein musste. Endlich mal Zeit für uns zwei.
Sie war Optikerin mit Herz und Seele und hörte sich täglich die Lebensgeschichten der Kundschaft geduldig an. Aber seit zwei Wochen war ihre Kraft erschöpft. Den letzten erholsamen Urlaub – es war ein Kurzurlaub von sieben Tagen – hatte sie um die Osterzeit herum genehmigt bekommen. Ab heute konnte sie reinen Gewissens für ganze zwei Wochen ihren anstrengenden Aufgaben fern bleiben. Ihre Vertretung war geregelt.
Ich hatte gerade in zwanzigminütiger Vorarbeit ein italienisches Menü mit Spaghetti Carbonara sowie einen Tomatensalat mit Mozzarella und Basilikum zubereitet, wozu wir einen Rotwein tranken. Urlaubszeit eben.
Auch ich hatte mir für ein paar Tage freigenommen, was man als Freiberufler mühelos hinkriegt, wenn man als freischaffender Künstler und Honorar-Mitarbeiter eines Verlages sowieso ein vogelfreies Leben führt. Vogelfrei. Haben Sie darüber einmal nachgedacht? Man sagt: „Frei wie ein Vogel.“ Aber kann man einen Vogel frei nennen?
Es ist richtig, er hat Flügel, die ihn über Wälder, Seen und Berge tragen. Wenn im Herbst die Zugvögel, Störche, Kraniche und andere gen Süden fliegen, beneidet sie mancher von uns und denkt: „Glückliche Vögel – fliegen, wohin sie wollen!“
Aber ist es so? Machen die Vögel diese weiten Flüge, weil sie, wie wir, das Reisen lieben? Weil sie „Reisefreiheit“ genießen? Mein Gott, ich schweife ab. Aber genau darüber habe ich mich fünf Jahre später, in der Zeit unserer Freien Republik, mit dem damals fast 86-jährigen Ludwig Henrich, einem alteingesessenen Licher Bürger, unterhalten. Ich lernte ihn bei einer Bürgerinitiative kennen, ein sehr engagierter Mann, trotz – oder wegen? – seines hohen Alters. Vielleicht komme ich auf das Thema mit der Freiheit und den Vögeln zurück.
Aber was heißt vielleicht? Ich muss darauf