Die erfundene Armut. Alex Bergstedt

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Die erfundene Armut - Alex Bergstedt


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zum Beispiel ein Dorf mit hundert Einwohnern. Einige Menschen wissen vielleicht nicht, dass es so kleine und doch selbständige Dörfer gibt, da sie in Gegenden wohnen, wo kleinere Dörfer ihre Selbständigkeit verloren haben und von einem Bürgermeister aus einem größeren Dorf im Rahmen einer Gesamtgemeinde regiert werden. In vielen Staaten und auch in einigen deutschen Bundesländern ist das die Regel. In Brasilien werden sogar mitunter zwei oder drei kleine Städte unter einem Bürgermeister (oder sollte man besser „Landrat“ sübersetzen?) zusammengefasst.

      Das kleinste deutsche Dorf liegt auf einer Hallig und hat sieben Einwohner. Die Menschen regieren sich selbst und können selbst darüber abstimmen, wenn sie irgendetwas verändern wollen, zum Beispiel, ob sie in der Weihnachtszeit einen Weihnachtsbaum auf der Hallig aufstellen wollen, wo er stehen soll, wie lange er stehen soll, von wann bis wann er stehen soll, wieviel er kosten soll usw. Wäre es nicht im Grunde absurd, wenn so etwas andere Menschen in einer Stadt auf dem Festland für die Halligbewohner entscheiden würden?

      Nehmen wir an, alle Bewohner wären Buddhisten oder Moslems, aber der Bürgermeister in der Stadt schreibt ihnen vor, dass sie im Zentrum der Insel einen Weihnachtsbaum aufstellen müssen.

      Oder umgekehrt, alle sind Christen, aber der Bürgermeister in der Stadt ist der Meinung, dass man keine Kreuze und Weihnachtsbäume öffentlich aufstellen solle, da islamische und atheistische Mitbürger sich in ihrer Gemütsruhe gestört fühlen könnten.

      In Schleswig-Holstein ist es übrigens zum Beispiel so, dass Dörfer unter 100 Einwohnern zwar einen Bürgermeister, aber keine Gemeindevertreter haben, sondern alle Belange in Vollversammlung entscheiden. Also eigentlich eine perfekte Demokratie.

      Also, da wir nun wissen, dass es Dörfer mit hundert Einwohnern gibt, stellen wir uns einmal eines vor. Es liegt abgelegen, vielleicht sogar auf einer Insel vor Schleswig-Holstein.

      Einige Einwohner sind Landwirte, andere arbeiten auswärts, andere sind bei Staat oder Kirche angestellt oder arbeiten als Fischer, manche sind Rentner. Manche haben kein eigenes Land oder kein eigenes Fischerboot, und erhalten als Helfer in der Landwirtschaft oder auf einem Fischerboot nur einen geringen Lohn.

      Insgesamt sieht die gerundete Einkommensverteilung so aus: 10 Einwohner verdienen rund 1000 Euro, 10 rund 1500, 20 rund 2000, 30 rund 3000, 20 rund 4000, 10 rund 5000.

      Das durchschnittliche Monatseinkommen beträgt also 2850 Euro. 60% davon sind 1710 Euro. Also verdienen 20 Einwohner weniger als 1710 und müssen als arm gelten.

      Als das bekannt wird, macht der örtliche Pastor eine Kampagne in der Presse zur Bekämpfung der Armut und das Problem erscheint in den Medien. Die Menschen, die plötzlich als arm bezeichnet werden, hatten zuvor vielleicht nicht einmal den Eindruck, dass sie arm seien, nun aber wird ihnen erklärt, dass sie arm sind, und wenn sie darüber nachdenken, fällt ihnen auf, dass sie tatsächlich manche Dinge nicht besitzen, die andere haben. Manche von ihnen sind auch Rentner und besitzen bereits alles, was man sich vorstellen kann, was sie sich im Laufe des Lebens angeschafft haben, oder haben sogar beachtliche Ersparnisse, aber der Besitz geht ja nicht mit in die Rechnung ein und daher gelten sie weiterhin als arm.

      Immer mehr Zeitungen schreiben über die Armut in dem Dorf und veröffentlichen Apelle des Pastors und nun auch des Bürgermeisters an die Bundes- und Landesregierung, aber die Regierungen verweisen auf die allgemeinen Maßnahmen, die es bereits gibt und sagen, für die Menschen in diesem Dorf könnten keine anderen Regeln gelten als für den Rest des Landes.

      Da hört der reichste Mann Deutschlands von dem Dorf und seinen Problemen, und er beschließt, zu helfen. Er ruft den Pastor an und verspricht, dass er allen denjenigen, die arm seien, das Einkommen verdoppeln wolle. Die unteren zehn Prozent erhielten damit statt 1000 nunmehr 2000 Euro, die nächsten statt 1500 nunmehr 3000 Euro.

      Euphorisch ruft der Pastor sogleich den Bürgermeister an und teilt ihm mit, dass das Problem Armut besiegt sei. Der Bürgermeister veröffentlicht das sogleich, aber der Oppositionsführer im Dorf verdirbt die Freude und attackiert den Bürgermeister. Der Oppositionsführer gehört nämlich zu denjenigen, die 2000 Euro verdienen, und er wird in Zukunft zu den Ärmsten gehören. Andere, die vorher weniger hatten, würden durch die Spenden mehr als er und andere seiner Einkommensklasse haben. Die 20 Bürger, die bereits zuvor 2000 Euro verdient hatten, machen zusammen mit einigen Sympathisanten so viel Druck, dass der Bürgermeister um ein Gespräch mit dem Spender bittet.

      Als der spendable Milliardär von den Schwierigkeiten in dem Dorf hört, ärgert er sich zwar, aber er will seine Spenden nicht widerrufen, zumal er in allen Zeitungen gelobt und bereits fürs Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen wurde. Daher entschließt er sich spontan: „Damit niemand unzufrieden sein muss, werde ich die Einkommen derjenigen, die 2000 Euro verdienen, auch verdoppeln.“

      Der Bürgermeister bedankt sich, gibt aber zu bedenken: „Ich fürchte, dass dann diejenigen, die jetzt 3000 Euro verdienen, protestieren werden, denn sie wären dann in Zukunft schlechter gestellt, als diejenigen, die jetzt 2000 Euro verdienen, denn diese werden ja in Zukunft 4000 Euro haben.“

      Daraufhin seufzt der Milliardär: „Ich sehe schon, wenn ich Ihnen etwas Gutes tun will, muss ich die Einkommen aller Ihrer Einwohner verdoppeln. Was soll´s, ich habe genug Geld, ich werde es so machen, alle werden das Doppelte erhalten.“

      Die Freude im Dorf ist riesig. Der einzige Anhänger der Linken im Dorf versucht jedoch, die Augen der Mitbürger zu öffnen, dass es sich ja nur um eine Augenwischerei eines Kapitalisten handelt, mit der er die Menschen betrügen wolle. Er rechnet vor: „Das durchschnittliche Monatseinkommen werde nunmehr 5700 Euro betragen, und somit würde die Armutsgrenze (also 60 Prozent davon) bei 3420 Euro liegen. Somit seien unverändert 20% der Einwohner arm.“

      Der Pastor weigert sich jedoch, den Mann seine Sicht der Dinge im Kirchenblatt veröffentlichen zu lassen, und so tut er sich in dieser Not mit den drei AfD-Anhängern des Dorfes zusammen, und sie bezahlen eine Anzeige in der Lokalzeitung, in der sie die Rechnung veröffentlichen, mit der sie zweifelsfrei nachweisen, dass die Armut keineswegs abgenommen habe, wobei sie noch darauf hinweisen, dass die „Mainstreammedien“ (damit meinen sie das Kirchenblatt) diese Tatsache verschweigen.

      Aber die Euphorie über das geschenkte Geld ist so groß, dass die Menschen nichts davon wissen wollen; stattdessen bestellen sie bereits Waren auf Kredit. Da sie Angst haben, der Milliardär könnte über die Anzeige der vier Nörgler verärgert sein und seine Spenden einstellen, veröffentlichen sie ihrerseits eine Anzeige, in der sie ihre tiefe Dankbarkeit ausdrücken, den Milliardär zu Besuch einladen und ihm die Ehrenbürgerschaft antragen. Einige Bürger taten sich sogar zusammen, besuchten die vier Nörgler und beschworen sie, still zu halten, damit der Milliardär auch weiterhin seine Spenden beibehalte.

      Der Besuch des Milliardärs in dem Dorf ist ein voller Erfolg, und durch die Sympathie der Menschen, die Ehrenbürgerverleihung, die Blumenüberreichung und die damit verbundenen Umarmungen durch drei Kinder sowie ein Konzert in der Kirche zu seinen Ehren ist der Milliardär tief berührt, und einige Wochen später kündigt er an, das riesige historische Pfarrhaus, in dem zur Zeit kein Pfarrer mehr wohnt und welchem der Verfall droht, aufzukaufen und zu restaurieren. Er werde in einem Teil ein kostenloses Bücher- und Medienzentrum für das Dorf einrichten, und Bürgermeister und Kirche könnten die Räume im Erdgeschoss kostenlos für die Belange der Gemeinde nutzen.

      Der Milliardär selbst würde das Obergeschoss bewohnen. Er ist alleinstehend, lebt relativ bescheiden, verpflichtet aber eine Frau aus dem Dorf, die ihm der Bürgermeister auf seine Bitte hin als zuverlässig empfiehlt, für ein großzügiges Gehalt als Haushälterin.

      Als jedoch die nächsten Kommunalwahlen herannahen, gründen die vier Nörgler eine eigene Partei, die BfuD (Bürger für unser Dorf). Sie prangern die große Armut in ihrem Dorf an.

      Die 100 Alt-Einwohner des Dorfes haben im Schnitt wie bereits früher berechnet 5700 Euro verdient, nur die Haushälterin erhält mit satten 10.000 Euro deutlich mehr als zuvor und ein Bauer, der dem Milliardär frische Produkte liefert, hat daran einige Hundert Euro verdient. Der Milliardär verdient hingegen mit seinem Großunternehmen 100 Millionen im Monat. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt, wie rechnerisch


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