Die Mensch-App. Michael Brendel

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Die Mensch-App - Michael Brendel


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sich allein gestellt sind, selten. Das Erlernen von Selbstständigkeit, Verantwortung und Problemlösungskompetenz, also das, was wir gemeinhin Großwerden nennen und wofür die elterliche Abstinenz elementar ist, ist durch die ständige gefühlte Nähe in Gefahr. Wollen Jugendliche sie retten, müssen sie den Impuls, die Eltern zu kontaktieren, absichtlich unterdrücken. Auf der anderen Seite stehen auch Mütter und Väter in der Verantwortung nicht unbeabsichtigt zu Helikoptereltern zu werden. Denn die durch digitale Medien mögliche elterliche Kontrolle – „Wann kommst du?“, „Wo bist du?“ – ist zwar ein Ausdruck von Sorge, aber nicht von Vertrauen in die Selbständigkeit ihrer Kinder.

      e) Kontrolle haben – Fragen zum Reflektieren

      1 Wenn die Fitness-App während des Workouts ausfällt und die Einheit nicht protokolliert – hat sie dann überhaupt stattgefunden? Oder müssen wir sie erst noch manuell nachtragen, damit der langfristige Fitnesstrend auch aussagekräftig ist?

      2 Sind Aufgaben, die wir erledigt haben, obwohl sie nicht in der Aufgaben-App eingetragen waren, wirklich erledigt? Ist nur das gültig, was eingetragen und abgehakt ist?

      3 „Wie geht es dir?“ – Können wir diese Frage beantworten, ohne auf unsere Smartwatch oder in unsere Fitness-App zu schauen?

      4 Wie lernen Kinder Eigenverantwortung, wenn die Eltern immer erreichbar sind?

      2. Kontrolle verlieren

      a) … über meinen Speicher

      Über Jahrhunderte hinweg waren Bücher das Symbol für das Wissen der Welt. Wer etwas recherchieren wollte, ging in die Bibliothek und suchte sich durch Register und Mikrofiche-Platten. Wer etwas nicht vergessen wollte, schrieb es in ein Notizbuch. Wer etwas nachschlagen wollte, nahm ein Lexikon zur Hand, ein Wörterbuch oder ein Telefonbuch.

      Diese Zeiten sind vorbei. Der gesamte Buchbestand der größten Bibliothek der Welt, der Library of Congress in Washington, wäre einer Schätzung aus dem Jahr 2000 zufolge im digitalisierten (sprich: gescannten) Zustand 208 Terabytes groß.7 Diese Informationsmenge wurde 2014 im Facebook-Netzwerk in anderthalb Stunden erzeugt.8 Doch nicht nur die Datenmenge, die das Internet bereithält, auch die schnelle Verfügbarkeit der Informationen sprechen für die digitalen Dienste. Die Wikipedia als größte Online-Enzyklopädie der Welt, Onlinewörterbücher, Übersetzungsdienste und Fachdatenbanken im Netz – und nicht zuletzt die Kontakt-Apps unserer Smartphones – haben in vielen Bereichen längst Bücher ersetzt.

      Doch die sind nicht das einzige Opfer der digitalen Revolution. Die dauernde Verfügbarkeit von Informationen hat auch Teile unseres Gedächtnisses ersetzt.

      Die US-Psychologin Betsy Sparrow hat in mehreren Tests belegen können, dass wir uns Informationen nicht mehr merken, wenn wir wissen, wo sie liegen. Das Internet sei zu einem externen Gedächtnis geworden, so Sparrow.9 Wenn wir Aufgaben-Apps nutzen und uns auf die digitale Verfügbarkeit von Terminen, Kontakten oder Vokabeln verlassen, um dann für andere Dinge den Kopf frei zu haben, sollte uns bewusst sein, dass unser Kopf dann tatsächlich frei ist – frei von Inhalten, die wir noch Jahrtausendwende gewusst haben.

      Wer Sparrows These in Zweifel zieht, dem sei empfohlen, sich gedanklich in die Vorzeit des Internets zu begeben: Wie viele Telefonnummern konnten wir uns vor 15 oder 20 Jahren merken? Wie viele sind es heute? Aber wir wissen ganz sicher, in welchem Gerät und bei welchem Dienst wir nachschauen müssen, nicht wahr?

      Ein anderes Beispiel für den Einfluss der digitalen Welt auf unseren Speicher ist der Gebrauch der Smartphonekamera. Der Branchenverband Bitkom geht für 2017 von weltweit 1,2 Billionen aufgenommenen Digitalfotos aus, von denen 85 Prozent aus Smartphones stammen.10 Jeden Tag werden also 2,8 Mrd. Handyfotos gemacht. Natürlich ist es praktisch, jede schöne oder auch erschreckende Situation jederzeit festhalten zu können.

      Doch wie viele – vor allem schöne – Situationen nehmen wir aufmerksam wahr und genießen wir so sehr, dass sie sich in unser Gedächtnis einbrennen, wenn die Kamerataste quasi jederzeit am Anschlag ist?

      b) … über den Raum

      Zu den Diensten, auf die Smartphonenutzer am wenigsten verzichten möchten, gehört die Navigation. Einer Umfrage des Mobilfunkbetreibers Telefonica zufolge ist für jeden zweiten die Möglichkeit „zu jeder Zeit im Alltag“ navigieren zu können wichtiger als z. B. die Nutzung Sozialer Netzwerke oder Onlineshopping.11

      Auch der massive Preisverfall bei Navigationsgeräten hat seinen Anteil daran, dass das Lesen von Straßenkarten oder das umständliche Herumhantieren mit Faltplänen heute wie ein Relikt aus der Steinzeit wirkt.

      Der Vergleich hinkt zwar, denn der Orientierungssinn von Menschen in der Steinzeit war außerordentlich gut ausgeprägt – angesichts langer Märsche zur Essensbeschaffung sogar eine lebensnotwendige Eigenschaft. In Zeiten von Lieferdiensten und Navis wird der Orientierungssinn aber weniger benötigt, und auch hier entscheidet unser Hirn knallhart: Dann schalte ich das Ding eben aus. Der britische Navigationsexperte Roger McKinlay, ehemals Chef der Königlichen Akademie für Navigation, warnt: „Wenn wir sie nicht pflegen, werden unsere natürlichen Fähigkeiten zum Navigieren verkümmern, während wir uns immer mehr auf smarte Geräte verlassen.“12

      c) … über meinen Willen

       Gibt’s etwas Neues auf Instagram?

       Hat jemand meinen Facebookpost kommeniert?

       Wie viele Likes hat mein Foto von gestern Abend?

      Viele Apps geben uns das Gefühl, ständig etwas zu verpassen. Laut einer Studie checken wir alle 18 Minuten unser Smartphone. Mithilfe einer App, die sich 60.000 Nutzer zur Kontrolle ihres eigenen Smartphoneverhaltens installiert hatten, konnten der Molekularpsychologe Christian Montag und der Informatiker Alexander Markowetz genau ablesen, wofür das Gerät wann aus der Hosentasche genommen wurde.13 Andere Untersuchungen wie die des IT-Dienstleisters Tecmark aus England gehen von einer noch häufigeren Nutzung aus. Die Zahl der geschätzten täglichen Handykontakte, nach der die Forscher 2.000 Erwachsenen befragten, lag im Durchschnitt bei 221.14

      „Smartphone-Apps funktionieren wie Glücksspielautomaten“, resümiert Markowetz. „Wir betätigen sie immer wieder, um uns einen kleinen Kick zu holen.“ Und wenn der Kick einsetzt – eine neue Whatsapp-Nachricht, eine Reaktion auf ein Posting, eine interessante Nachricht im Newsticker – werden wir vom Gehirn belohnt. Christian Montag hält für möglich, dass bei einem erfolgreichen Smartphonecheck das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird.15 Was wir suchen, wenn wir anlasslos das Handy zücken, wird als Serendipity-Moment beschrieben. Das ist ein Begriff, der nur schwer aus dem Englischen zu übersetzen ist. Freude über ein überraschendes Ereignis beschreibt Serendipity vielleicht am besten. Und die heute verfügbaren Apps verstehen ganz hervorragend, uns mit der Aussicht auf einen Serindipity-Moment zu locken.

      d) … über mein Sozialverhalten

      Messenger-Apps und Soziale Netzwerke beeinflussen, wie wir mit Menschen umgehen. Wenn wir eine Freundschaftsanfrage auf Facebook erhalten, fühlen wir uns geschmeichelt: Da hat ein anderer Mensch aufrichtiges Interesse an mir! Vielleicht kenne ich ihn ja tatsächlich, aus der Schule oder dem Verein. Dann ist es schön, jetzt auch digital vernetzt zu sein!

      Wem kommt bei solch einer virtuellen Bauchpinselung in den Sinn, dass eingehende Freundschaftsanfragen nur selten eine selbst initiierte Handlung des Anfragenden sind? Facebook empfiehlt seinen Nutzern immer wieder Personen, die sie kennen könnten – Freunde von Freunden, ehemalige Klassenkameraden oder Menschen, die zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt gelebt haben. Die Trefferwahrscheinlichkeit ist erstaunlich hoch, so ausgereift sind die Algorithmen des größten Sozialen Netzwerks der Welt. Das heißt aber auch, dass dieser Algorithmus


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