Der Weg des Ritters. Helmut H. Schulz
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Helmut H. Schulz
Der Weg des Ritters
Vier Erzählungen aus der Nachkriegszeit
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Inhaltsverzeichnis
DER WEG DES RITTERS
I.
Den Gedanken brachte Pauli auf, aber die gedankliche Verknüpfung des Bushido (Weg des Kriegers – aus dem japanischen, Anm.d. R.) mit dem Ende der Stadt Hiroshima lag nahe, zumal für Pauli, den Sinologen, Japanisten, Schriftsteller und Gleichnisjäger. Pauli kehrte als einer der Ersten aus Amerika zurück, mit einem Truppentransporter, der eine Masse Intellektueller beförderte, halb Missionstouristen, halb Luxuskreuzfahrer, alle brennend vor Ungeduld, die Stadt zu erobern, aus der sie vor Jahren vertrieben worden waren. Es stand in den Sternen, dass sich unsere Bahnen am Soundsovielten unter diesen und jenen Koordinaten kreuzen mussten - mit einigen Folgen für Pauli, für mich und für Eva, Paulis Geliebte, die ihn verließ und in meine Bahn überwechselte. Pauli hatte sie am Rande seines Fluchtweges aufgelesen, in Frankreich, er schleppte sie mit durch Europa bis nach Amerika. Pauli war Jude, ich Arier; er zählte vierzig, ich fünfundzwanzig, als wir aufeinanderprallten, er mich hassend, ich von ihm gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Wir waren uns von Anfang an darin einig, einander nicht zu schonen, bis aufs Messer zu kämpfen. Ich sollte Pauli helfen; er wollte ein Blatt herausgeben über alle Zonen, Grenzen, Meere und Galaxien hinweg - eine Tribüne des allbeherrschenden Geistes.
Wenn ich sage, wir kämpften miteinander, so meine ich natürlich den Zweikampf der Gehirne. Pauli behauptete zwar, dass mich nur die Umstände daran hinderten, ihn mit den Händen zu würgen statt mit Argumenten, aber das stimmte nicht. Zum Beispiel sagte ich bei unserer ersten Begegnung zu Pauli: » Sie entsprechen genau dem Bild, das ich vom Juden habe. Sie sind ein typischer Jude in Statur und Haltung, Nase, Lippen, in Ihrer gequetschten gestenreichen Sprechweise und in Ihrem Zynismus; unbarmherzige Logik, ätzend, nichts heilig, das soll ja Ihr rassisches Signalement sein.« In jenen Tagen kam der erste Film über Auschwitz; ich ging, ihn anzusehen. Mir schien damals, die Sieger hätten sich bei der Inszenierung dieses Filmes in der Dimension vergriffen. Es ging aber doch eine Reinigung durch das deutsche Volk und ein Entsetzen. Es musste zu jener Zeit als gewagt erscheinen, sich so zu äußern, wie ich es Pauli gegenüber tat, dem ich im Übrigen über meine Vergangenheit - wenn fünfundzwanzig Lebensjahre schon eine sind - reinen Wein eingeschenkt hatte.
Ich war aus einem Lazarett entlassen worden, und zwar schon im Januar. Mein linker Arm hing dürr und leblos an mir herum mit durchschossenem Hauptnervenstrang. Der berühmte Professor Sauerbruch hatte ihn operieren wollen, dann war alles so schnell zu Ende gegangen, dass nichts mehr aus der Operation wurde. Eine Tante nahm mich auf; lebende nähere Angehörige besaß ich nicht mehr. Auf meinem toten Arm wuchs jetzt Haar dicht wie Moos; die Muskeln zehrten sich selber auf. » Sie haben Massel gehabt mit Ihrer Verletzung«, sagte Pauli bei unserer ersten Auseinandersetzung. »Der Arm hat Sie vor dem Galgen bewahrt, an den Sie eigentlich gehören. Was nicht ist, kann aber noch werden. Vielleicht finde ich heraus, wer Sie sind; dann gibt es keine Gnade.« Er verhielt sich konsequent. »Jetzt sind Sie oben. Das kann sich wieder ändern«, sagte ich noch. Pauli erwiderte: »Darum eben geht es, zu verhindern, dass sich wieder was ändert. All die Jahre im Exil habe ich mir gewünscht, einen von euch zu kriegen. Machen Sie mir die Freude, denn Sie entsprechen ganz genau meinem Bild von einem sogenannten Arier, einsfünfundachtzig, zusammen gedrückter flacher Kopf mit wenig Inhalt, langsam im Denken, aber eine Tötungsmaschine, schön anzusehen wie Wolf, Tiger oder Schlange: die blonde Bestie. Oder ein anderes Bild gefällig? Klein, dick, mit Stiernacken und Säuferphysiognomie. Ich hatte wirklich schon Angst, keinen Nazis mehr zu treffen.«
An einem grauen Tag im September lernten wir uns kennen, Pauli und ich. Ich hatte im Lazarett eine Geschichte geschrieben. Während meiner Genesung war irgendwas mit mir geschehen. Vor meiner Verwundung, im Feld hielt ich mich wie alle oder wie die Mehrzahl, durchdrungen vom Stolz auf meine Siege wie auf sportliche Erfolge, stolz auf meine Zähigkeit und sogar auf die Erschöpfung nach einer großen Anstrengung. Auf der Straße zum Helden befand ich mich in zahlreicher Gesellschaft, meine Ehre hieß Treue. Meiner Meinung nach lebte ich in einer guten Tradition von Gehorsam, Unterordnung, Hingabe, Selbstlosigkeit, Mut. Im Lazarett dann brach etwas auf, ein Wandel kündigte sich an; merkwürdigerweise von stiller, innerlicher Art. Von meiner Erziehung, meinen Idealen brauchte ich nichts abzustreichen. Beim Lesen der Zeitungen und auch mancher Bücher empfand ich diese und jene Wendung plötzlich als leer. Begriffe, die ich täglich gedankenlos gebraucht hatte, missfielen mir plötzlich wegen ihres Mangels an Klarheit. Ich schrieb darüber an meine Tante. Sie antwortete: Du hast eine eigentümliche Art angenommen, die Dinge zu sehen. Ich finde Deinen Stil besser als früher. Was mich überrascht ist, dass Du zu schildern verstehst, nicht bloß über Dich selbst reflektierst; eine unter deutschen Schriftstellern seltene Gabe. Daran solltest Du arbeiten. Mich erstaunte dieser Brief sehr. Sie, die Lehrerin für deutsche Sprache, die Germanistin, fand etwas Besonderes an meinem Ausdruck? Was ich unbewusst handhabte, nannte sie meinen »Stil«? Übrigens musste ich ja auch nach einem zivilen Beruf suchen, ein mir widerwärtiger Gedanke. Einmal, schrieb meine Tante, muss geschildert werden, was mit der deutschen Jugend geschehen ist, weshalb sie wurde, wie sie ist, nüchtern - sine ira et studio. Aber was war denn mit uns? Verhielten wir uns anders als andere?
Zuerst legte ich in einem Tagebuch meine Auffassungen zu Ereignissen dar, die mich betrafen, und auch zu denen, die mich weniger betrafen; reine Übungen; es kam mir auf Genauigkeit bei der Wiedergabe meiner Empfindungen