Doktor Gräsler, Badearzt. Arthur Schnitzler
Читать онлайн книгу.sagte der Doktor beinahe vorwurfsvoll, »sind Sie mir zu Fuß so weit entgegengekommen! Das war wirklich nicht notwendig.«
»Herr Doktor,« entgegnete Sabine ein wenig verlegen, »ich möchte doch vor allem, zur Vermeidung jedes Mißverständnisses, ausdrücklich betonen, daß auch dieser nicht geglückte Besuch selbstverständlich geradeso wie jede ärztliche Visite –
Der Doktor unterbrach eilig. »Da muß ich doch bitten, mein Fräulein. Auch wenn unser Anschlag heute gelungen wäre, von einer ärztlichen Visite könnte keineswegs die Rede sein. Vielmehr bitte ich, mich bis auf weiteres nur als Mitverschworenen zu betrachten.«
»Wenn Sie die Sache so nehmen, Herr Doktor,« erwiderte Sabine, »so machen Sie es mir einfach unmöglich –«
Doktor Gräsler unterbrach nochmals. »Es war heute ohnedies meine Absicht gewesen, eine Spazierfahrt zu unternehmen. Und vielleicht gestatten Sie mir, Ihnen, da es sich schon so fügt, den Wagen zur Nachhausefahrt zur Verfügung zu stellen, ja? Und wenn Sie mich mitnehmen wollen, so darf ich mich vielleicht bei dieser Gelegenheit nach dem Befinden Ihrer Frau Mama erkundigen.« Er fühlte sich als Mann von Welt und nahm sich flüchtig vor, im nächsten Sommer doch wieder in einem größeren Badeort seine Praxis auszuüben, obwohl er in solchen bisher niemals Glück gehabt hatte.
»Der Mutter geht's ausgezeichnet,« sagte Sabine. »Aber wenn Sie den Abend schon verloren geben, Herr Doktor, wie wär's« – und sie wandte sich an ihren Bruder –, »wenn wir dem Herrn Doktor unsern Wald zeigten, Karl?«
»Ihren Wald?«
»Wir heißen ihn so,« sagte Karl. »Er gehört wirklich uns allein. Von den Kurgästen kommt keiner so weit. Da gibt es wunderschöne Partien. Manche wie im Urwald.«
»So was muß man sich natürlich ansehen,« sagte der Doktor. »Ich nehme dankbar an.«
Der Wagen wurde für alle Fälle in die Nähe des Forsthauses dirigiert, und Doktor Gräsler, von den Geschwistern geleitet, schlug einen Feldweg ein, der ganz schmal, so daß eines sich hinter dem andern halten mußte, zuerst zwischen mannshohen Ähren, dann über Wiesengrund in den Wald hineinführte.
Der Doktor sprach davon, daß er schon sechs Jahre allsommerlich hierherkäme und die Gegend eigentlich doch nicht recht kenne. Dies aber sei nun einmal sein Los. Schon als Lloydarzt habe er meistens nur die Ufer gesehen, bestenfalls die Hafenstädte und deren nächste Umgebung; tiefer ins Land zu streifen, habe der Dienst beinahe immer verwehrt. Da Karl durch wiederholte Fragen sein Interesse für ferne Gegenden und Seereisen kundgab, nannte der Doktor aufs Geratewohl die Namen mancher Küstenorte, in die oder an denen vorüber sein Beruf ihn vor Jahren geführt hatte; und daß er so als eine Art von Weltfahrer gelten durfte, gab seiner Rede eine Lebhaftigkeit und Laune, die ihm sonst nicht immer zu Gebote standen. Von einer Lichtung aus eröffnete sich ein anmutiger Ausblick nach dem Städtchen, von wo das gläserne Dach der Trinkhalle in der Abendsonne heraufglitzerte. Man beschloß, eine Weile zu rasten. Karl streckte sich der Länge nach ins Gras hin, Sabine setzte sich auf einen abgehauenen, entrindeten Baumstamm; Doktor Gräsler aber, der seinen hellgrauen Anzug keinerlei Fährlichkeiten aussetzen wollte, blieb stehen, erzählte von seinen Reisen weiter; seine Stimme, sonst trotz häufigen Räusperns etwas belegt, erklang ihm selbst mit einer neuen oder ihm wenigstens fremd gewordenen Weichheit, und er fand sich mit einer Teilnahme angehört, deren er schon lange nicht genossen hatte. Am Ende erbot er sich, die Geschwister heimzubegleiten, so daß der Vater, wenn er schon zu Hause wäre, ohne weiteres an eine zufällige Begegnung glauben könnte, wodurch dann die Bekanntschaft in der harmlosesten Weise eingeleitet sei. Sabine nickte in einer kurzen, ihr ganz eigenen Art, was dem Doktor eine entschiedenere Zustimmung erschien, als Worte bedeutet hätten. Auf dem sich leicht bergab senkenden, immer breiter werdenden Waldwege war es nun hauptsächlich Karl, der die Unterhaltung führte und Reise-, ja Entdeckungspläne entwickelte, in deren kindlicher Abenteuerhaftigkeit Nachklänge kürzlich gelesener Jugendschriften nicht zu verkennen waren. Früher als der Doktor erwartet hatte, stand man vor dem Gartenzaun, und zwischen den hohen Tannen, in verdämmerndem Weiß schimmerte die Rückseite des Forsthauses mit ihren sechs schmalen, gleichförmigen Fenstern. Auf dem zertretenen Rasen zwischen Haus und Zaun, roh gezimmert, stand ein länglicher Tisch mit Bank und Sesseln.
Da Karl vorausgelaufen war, um Nachschau zu halten, blieb der Doktor eine Weile mit Sabinen allein unter den Tannen stehen. Sie sahen einander an, der Doktor lächelte etwas verlegen; da Sabine ernst blieb, bemerkte er, die Blicke langsam nach verschiedenen Seiten wendend: »Welch ein Friede hier,« und räusperte leise. Karl erschien an einem offenen Fenster und winkte lebhaft. Der Doktor verlieh seinem Antlitz beruflichen Ernst und folgte Sabinen durch den Garten auf die Veranda, wo der Förster und seine Frau sich eben von dem Sohn die Geschichte der nachmittägigen Begegnung berichten ließen. Gräsler, durch die falsche Bezeichnung Förster noch immer irre gemacht, hatte erwartet, sich einem langbärtigen, derben Mann im Jägeranzug mit der Tabakspfeife im Mund gegenüberzusehen und war nun verwundert, als ihn ein schlanker, glattrasierter Herr mit schwarzem, eben erst ergrauendem, sorgfältig gescheiteltem Haar freundlich, aber mit einer irgendwie theatralisch wirkenden Vornehmheit begrüßte. Doktor Gräsler begann damit, den schönen Wald zu preisen, mit dessen ganzer Herrlichkeit ihn erst Karl und Sabine bekanntgemacht hätten; und während sich ein Gespräch über das trotz der reizvollsten Umgebung doch so langsame Aufblühen des Badestädtchens entspann, unterließ Doktor Gräsler keineswegs, an dem Herrn des Hauses seine ärztlichen Beobachtungen anzustellen, vermochte aber vorerst nichts Auffallendes an ihm zu entdecken als eine gewisse Unruhe des Blicks sowie ein oft wiederkehrendes wie verächtliches Zucken der Mundwinkel. Als Sabine das Abendessen meldete, wollte Doktor Gräsler sich verabschieden, doch der Förster, in übertriebener Liebenswürdigkeit, ließ es nicht zu, und so saß der Doktor bald mit Eltern und Kindern am Familientische, über dem von der holzgetäfelten Decke eine grünbeschirmte Lampe herabhing. Er sprach von dem bevorstehenden Samstagkränzchen im Kursaal und wandte sich mit der Frage an Sabine, ob sie an derlei Veranstaltungen manchmal teilnehme.
»In den letzten Jahren nicht mehr,« erwiderte Sabine. »Früher, als ich noch jünger war –.« Und dem abwehrenden Lächeln des Doktors zur Erwiderung fügte sie gleich und, wie ihm schien, nicht ohne Bedeutung bei: »Ich bin nämlich schon siebenundzwanzig.«
Der Vater warf eine spöttische Bemerkung über die kleinlichen Verhältnisse des Badestädtchens ein, fing an, mit Lebhaftigkeit vom Zauber der großen Städte und des bewegten Weltlebens zu reden, und aus seinen weiteren Äußerungen war zu entnehmen, daß er früher Opernsänger gewesen war und diese Laufbahn erst lange nach seiner Verheiratung aufgegeben hatte. Während er nun allerlei Namen nannte von Künstlern, an deren Seite er gewirkt, von Gönnern, die ihn hochgeschätzt, und endlich von Ärzten, deren falschen Behandlungsmethoden er den vorzeitigen Verlust seiner Baritonstimme verdankte, leerte er ein Glas nach dem anderen, bis er ganz plötzlich ermüdet schien und mit einem Male einem verbrauchten und alten Manne gleichsah. Nun hielt es der Doktor an der Zeit, sich zu empfehlen. Die Geschwister begleiteten ihn zum Wagen und erkundigten sich ängstlich nach dem Eindruck, den er von ihrem Vater gewonnen hätte. Doktor Gräsler, wenn er sich auch heute schon getrauen wollte, eine ernstere Erkrankung auszuschließen, sprach die Erwartung aus, bald zu weiterer Beobachtung und lieber noch zu einer ordentlichen Untersuchung Gelegenheit zu finden, ohne die er als gewissenhafter Arzt doch nichts Bestimmtes aussagen könnte.
»Findest du nicht,« wandte sich nun Karl an seine Schwester, »daß der Vater schon lange nicht so gesprächig war wie heute abend?«
»Das ist wohl wahr,« bestätigte Sabine, – und zu Doktor Gräsler gewendet mit einem dankbaren Blick, »Sie sind ihm gleich sympathisch gewesen – man hat es deutlich merken können.«
Mit einer bescheidenen Handbewegung wehrte der Doktor ab, versprach auf der Geschwister Bitte, in den nächsten Tagen seinen Besuch zu wiederholen, und stieg ein. Die Geschwister blieben beide noch eine Weile am Straßenrande stehen und schauten dem Wagen nach. Unter einem kühlen Sternenhimmel fuhr der Doktor nach Hause. Sabinens Vertrauen erfüllte ihn mit Befriedigung, und mit einer um so süßeren, als er vermuten durfte, es nicht allein seinen ärztlichen Fähigkeiten zu verdanken. Es war ihm wohl bewußt, daß er, insbesondere in den letzten Jahren, müder und gleichgültiger