Die Kostenvermeidungsdirektive. Jens Wahl

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Die Kostenvermeidungsdirektive - Jens Wahl


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jetzt etwas übersehen haben.“ Landschaften, Wildtiere und Naturbilder faszinierten beide deutlich mehr als Städte oder einzelne architektonische Leistungen. „Dann konnte unsere Reise ja gar nicht besser beginnen“, meinte sie glücklich. „Vormittags den Teide komplett vom Flieger aus sehen und jetzt über die Wolken aufragend vom Schiff. Ich nehme dir nur übel, dass du nicht nach unserem Toilettenbesuch während des Fluges die Kamera aus dem Handgepäck geholt hast. Aber jetzt bekommst du die Möglichkeit, deinen Fehler wenigstens etwas auszubügeln. Und ich hoffe, dass du diese Möglichkeit nutzen wirst!“ Das ließ sich der begeisterte Hobby-Fotograf nicht zweimal sagen, und schoss Fotos mit unterschiedlichen Zoomstärken und Belichtungseinstellungen. Danach wurde die ganze Szene auch noch als Videoclip aufgenommen. Währenddessen hatte Gudrun den Teide ausgiebig mit dem Fernglas betrachtet. Nun setzte sie sich auf die Liege und wollte ihrem Mann das Fernglas überlassen. Doch dieser winkte ab: „Ich muss mich erst mal entspannen, das längere Halten der Kamera strengt mich doch etwas an.“ Diese Aussage bezog sich auf sein Problem mit der Wirbelsäule. Ein paar Minuten später holte er die Teide-Betrachtung per Fernglas nach.

      Ab achtzehn Uhr gab es Abendessen. Was viele störte: Oft standen schon Passagiere fünfzehn Minuten vor der Öffnungszeit der beiden Restaurants Schlange, um einen Platz zu ergattern. Wer ein paar Minuten später kam, würde Mühe haben, einen Platz zu finden und müsste dann eventuell auf die zweite Abendbrotzeit ausweichen. Deshalb hatten sich Klarmanns angewöhnt, etwa zwei Minuten vor dem „Sturm auf das Büfett“ am Restaurant zu sein. Das Schöne war, dass es für die Kleiderordnung nur zwei Bedingungen gab: keine Badebekleidung und die Herren in langen Hosen. Das war alles. Trotz der manchmal etwas nervenden Platzsuche bevorzugten sie Büfettessen gegenüber den herkömmlichen Kreuzfahrt-Restaurants mit festen Essenszeiten, festen Tischnummern und Tischpartnern. Dazu musste man essen, was der Kellner auf den Tisch stellte und konnte sich das nicht aussuchen. So wie bei AHOS fanden sie es für sich am besten. Auf der „Atlantico“ gab es Mottoessen, welches sich im zweiwöchigen Turnus wiederholte. Im Hauptrestaurant war heute „Französische Küche“ angesagt, im zweiten Büfettrestaurant, der „Palmeninsel“, Italien. Bei Pizza und Pasta würden beide garantiert etwas für sich finden.

      21 Uhr begann die während der Seereise einzige Pflichtveranstaltung für alle Passagiere - die Seenotrettungsübung. Nachdem endlich alle Passagiere mit ihren Schwimmwesten auf den ihnen zugewiesenen Plätzen erschienen waren - so richtig Lust dazu hatte ja keiner, wurde das Verhalten im Notfall auf Englisch und Deutsch vorgelesen - wohl vom Band. Danach konnte auch offiziell der Urlaub beginnen.

      Um 23 Uhr sollte die “Atlantico“ in Richtung La Gomera auslaufen. Eine Stunde vorher startete schon die „Auslauf-Party“, wobei diese Bezeichnung wohl nicht mit den, um diese Jahreszeit reichlich an Bord vertretenen, Senioren in Verbindung gebracht werden sollte. Klarmanns fühlten sich trotz ihrer Mitte 50 noch gar nicht so alt, um sich selbst als Senior zu bezeichnen. Das wurde ihnen aber immer wieder deutlich, wenn sie an ihren schon zweiunddreißigjährigen Sohn dachten. Die „Auslauf-Party“ gehörte zu den wenigen Ereignissen, die Klarmanns wegen der meist überlauten Musik nicht an AHOS mochten. Hinzu kamen die fast ständige Animation während der Seetage sowie die überzogene Lautstärke der Beschallung. Sie waren der Meinung, dass alles auch etwas gedämpfter ginge und damit angenehmer wäre. Auf dem Pooldeck hatte keiner eine Chance, dieser Dauerbeschallung während aller Seetage zu entgehen; auf dem ruhigen Deck 6 konnte man aber keine Sonnenliegen, sondern nur Stühle aufstellen. So hatten sie sich angewöhnt, ihre Liegen auf Deck 11 immer vor der „Lichtblick“-Bar aufzustellen, die die Pooldeck-Beschallung etwas dämpfte. Klarmanns waren garantiert nicht die Einzigen, die sich immer wieder fragten, weshalb die Hafenstädte solch einen, meist nachts stattfindenden, Krach beim Auslaufen einfach ohne Protest hinnahmen. Wahrscheinlich nahmen diese lieber die Beschallung in Kauf, als eventuell auf die Liegegebühren ganz zu verzichten.

      Sie waren auch nicht die Einzigen, die sich etwas lärmgeschützt vor der Bar auf Deck 11 aufhielten. Da das Typhon an einem Mast oberhalb der „Lichtblick“-Bar befestigt war, stellten alle vor der Bar Stehenden pünktlich 23 Uhr ihr Sektglas ab und hielten sich die Ohren zu. Ein Mitreisender hatte während ihrer Norwegentour bei der Ausfahrt aus Bergen das einmal so formuliert: „Erst wird dreimal getrötet und dann beginnt die Mucke.“ Die „Mucke“ war seine Bezeichnung für den teilweise sehr sentimentalen Auslaufsong von AHOS.

      Nach dem Passieren der Mole begaben sich Klarmanns wie die meisten in Richtung Kabine, während die „Atlantico“ ihre Reise in das Dunkel der lauen Kanarennacht antrat. Nur der „harte Kern“ feierte den Start in den Urlaub noch weiter bis in die frühen Morgenstunden hinein. Doch davon war in den Kabinen glücklicherweise nichts zu hören. Nach diesem, für sie langen, Tag wurden sie vom leichten Seegang schnell in den Schlaf gewiegt.

      Halb sieben klingelte am nächsten Tag der Wecker und wurde so lange immer penetranter, bis ihn endlich einer der beiden ausschaltete. Während Gudrun duschte, prüfte Torsten über die Webcams der „Atlantico“, auf die man mit dem Fernsehgerät zugreifen konnte, wie das Wetter war. Prächtig - die Sonne kam auf der Steuerbordseite langsam über den Horizont, ohne dass größere Wolkenansammlungen zu sehen wären. Und der Teide war sehr deutlich zu erkennen. Die über den Bug „zielende“ Webcam zeigte schon die Felsen bei San Sebastian, ihrem heutigen Zielhafen.

      Die mittschiffs gelegene Kabine empfanden beide als sehr ruhig: Kein Klatschen der Wellen an die Außenhaut, kein Antriebswellen- oder Propellergeräusch waren zu hören. In den Gängen war es nachts meist ruhig. Hier wirkte wohl die Drohung in den AGB, dass Ruhestörer im nächsten Hafen ohne Kostenerstattung an Land „ausgesetzt“ werden können. Durch die niedrige Lage der Kabine über dem Meeresspiegel waren hier auch kaum Rollbewegungen zu spüren.

      Schnell duschte und rasierte sich auch Torsten Klarmann, um pünktlich sieben Uhr frühstücken zu können. Der Landausflug sollte neun Uhr beginnen. Die Zeit zwischen Frühstück und Ausflug wollten sie nutzen, um vom obersten Deck aus Fotos zu schießen und sich schon mal ein Bild von der Landschaft zu machen.

      Beide waren begeistert: Ein paar kleine Wölkchen behinderten die Sicht nicht, da sie sehr hoch am Himmel schwebten. Rechts vom Teide vergoldete die Sonne das ganz ruhige Meer. Und drehten sie sich um, erblickten sie die bunten, am Berghang klebenden Häuser von San Sebastian. „Das sieht aus wie eine gomeranische Favela - aber deutlich schöner als in Brasilien“, meinte Torsten Klarmann zu seiner Frau. „Ja, hier sieht das alles viel freundlicher aus“, konnte diese seine Meinung bestätigen. Mit dem Fernglas konnte sie eine eingerüstete Christusstatue auf dem Berg oberhalb des kleinen Hafens erkennen. „Ist die aber mickrig“, fiel ihr Vergleich zu der bekannten Statue in Rio aus.

      Da sich alle Teilnehmer „ihres“ Landausfluges um 8:45 Uhr an der Tanzfläche auf Deck 8 treffen sollten, mussten Klarmanns erst von Deck 4 die Treppen bis auf Deck 8 hinaufsteigen - an den Hafentagen konnte man zur Zeit des Beginns der Landausflüge nicht hoffen, einen der Lifte benutzen zu können. Als alle Teilnehmer zusammen waren, walzte sich die Menge durch das Treppenhaus wieder abwärts bis auf Deck 3 zur Schleuse. So ganz begriffen Klarmanns wohl nie, weshalb alle Ausflüge gleichzeitig beginnen mussten. Bei einer zeitlichen Versetzung von zehn oder fünfzehn Minuten wäre dann der Stau vor der Schleuse oder schon im Treppenhaus deutlich geringer. Und würden sich die Teilnehmer außerhalb des Schiffes treffen, könnte man einen Großteil dieser Menschenwalzen durch die Treppenhäuser vermeiden - AHOS wollte es aber nicht anders.

      Am Bus wurden sie von der gomeranischen Reiseleiterin Elena und dem Busfahrer Rico begrüßt. Da Elena deutsch sprach, fuhr diesmal kein Guide von AHOS mit. Torsten und Gudrun fanden auf der rechten Seite eine Sitzreihe für sich. Doch mit der Abfahrt musste noch gewartet werden, da die Ehefrau eines Ausflugsteilnehmers immer noch nicht „eingetrudelt“ war. Als sie dann endlich den Bus bestieg, stupste Torsten Klarmann seine Angetraute leicht in die Seite: „Das ist doch eines der beiden Pärchen, das schon gestern Abend zur Seenotrettungsübung zu spät gekommen war. Kennen denn diese Deppen keine Uhr?“ Der Bus fuhr erst kurz durch San Sebastian und dann ging es auf Kehren schnell aufwärts in die Berge. La Gomera war, wie alle Kanareninseln, vulkanischen Ursprungs und dies war sehr schnell an den Bergformen und dem seit Millionen von Jahren erstarrten Ergussgestein zu sehen. Rico


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