Die Regeln der Gewalt. Peter Schmidt

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Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt


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ging zum Fenster, er verschränkte seine Arme auf dem Rücken und sah mit übertriebener Neugier hinaus – als gebe es dort auf dem Trümmergrundstück, zwischen den aus der Erde ragenden Steinen und dem wuchernden Unkraut, etwas Besonderes zu entdecken.

      «Sehen Sie, ich bin so was wie ein Überzeugungstäter», sagte er angestrengt lächelnd, als er sich wieder umwandte. «Ich mache hier nicht aus Abenteuerlust mit. Nicht weil ich eine verklemmte Kindheit hätte oder weil ich sadistisch oder psychotisch veranlagt wäre.

      Ich habe feste Vorstellungen, wie man dieser Gesellschaft ihre Faxen austreibt … den Reaktionär – ich meine, den fetten Bürger aus seiner Sonntagsruhe aufschreckt und so weiter. Also will ich sie natürlich in die Tat umgesetzt sehen. Das ist wohl legitim, oder?»

      «Haben Sie mal was mit den Marxisten im Sinn gehabt?», fragte Fall.

      «Nein … wie kommen Sie darauf?»

      «War nur so eine Idee. Sie reden wie ein Marxist.»

      «Ich glaube, jeder hat mal mit diesen Gedanken gespielt. Natürlich kommt man sehr schnell über das Stadium hinaus, wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist.» Er wandte sich wieder zum Fenster.

      Werders breitete den Plan der Bankfiliale auf dem Küchentisch aus. Ihr Fluchtweg war mit roten Linien markiert. Sie würden zwei gestohlene Fahrzeuge einsetzen und dann beim Park am Stadtrand in den roten Audi umsteigen.

      Am Monatsende, wenn die Gehälter der Angestellten abgehoben wurden, bestellte die Bank jetzt regelmäßig einen Wachmann, weil sie in den vergangenen zwei Jahren dreimal überfallen worden war.

      «Es gibt keine Verteilung», sagte Angelika zu Paul Walter, der sich zu ihnen an den Tisch gestellt hatte. «Das Geld wird für unsere Aktionen benötigt. Fünfhunderttausend davon. Was übrigbleibt, geht an Freunde, die uns unterstützen.»

      «Ich bin nicht auf Gewinn aus», sagte Walter. «Meine Absicht ist es, unsere Verwaltungs- und Polizeiorgane so weit zu provozieren, dass die angebliche Rechtsstaatlichkeit dieser Republik vor aller Welt als Farce entlarvt wird.»

      «Na, dann liegen wir ja auf einer Linie», sagte Richard Fall lächelnd.

      5

      Er folgte der Gasse bis ans Ende und blieb im Schein einer Straßenlaterne stehen, die blubbernd ihr Gaslicht auf das bucklige Pflaster warf.

      Dabei sah er zum Fenster in der weißen Fachwerkwand über einer kleinen Fleischerei hinauf. Weiter oben lag das Schloss, von Scheinwerfern angestrahlt …

      Eine Stadt wie diese, mit vielen Studenten und Touristen aus aller Welt, die ständig die historische Altstadt durchstreiften oder über das Neckarufer bummelten, war für ihre Zwecke besonders geeignet. Man blieb unauffällig in der wechselnden Menge. Und die Studenten waren ein Potential, aus dem sich viele Mitkämpfer rekrutieren ließen. Anders als Angelika war Richard Fall der Ansicht, dass man frühzeitig vorarbeiten musste.

      Man durfte nicht allein auf die Sympathiewelle solcher Aktionen wie nach der Zerstörung des Wiesbadener Zentralcomputers setzen; gewiss würde es sie geben, und sie versprachen sich einiges davon.

      Zahllose kleine Gauner konnten aufatmen. Erst recht die großen. Ihnen selbst nutzte es, weil es die Arbeit von Arm und den übrigen Dienststellen erschwerte.

      Und in einem Bespitzelungsstaat wie diesem war die Vernichtung von Daten sicher ein Anlass, der ihrer Bewegung nach den vielen Fehlschlägen der Vergangenheit neuen Aufschwung gab. Falls Vodreux überhaupt in der Lage war, sein Versprechen einzuhalten.

      Der Datenspeicher des Wiesbadener Computers ließ sich nämlich nicht einfach sprengen, sondern nur durch komplizierte magnetische Manipulationen und Codeeingaben löschen.

      Er steckte 80 Meter tief in der Erde, betonummantelt: ganz ähnlich manchen Schweizer Bankcomputern, deren Nummernkonten angeblich atomkriegssicher eingelagert waren (als wenn jemand unter dem Fallout in den verwüsteten Städten noch Gelegenheit hätte, mit seinen schwarz verdienten Millionen etwas anzufangen). Lediglich die Apparate im Gebäude darüber konnte man in die Luft jagen. Sie waren jedoch leicht zu ersetzen.

      Aber sie durften nicht auf solche Aktionen allein bauen. Man musste durch persönliche Kontakte neue Impulse setzen!

      Das Mädchen über der kleinen Fleischerei im Fachwerkhaus war allerdings keine Studentin – und sie hatte sich auch nicht durch Aktionen innerhalb anarchistischer Gruppen hervorgetan. Doch ihr Hass gegen diesen Staat und seine Behörden war echt, wenn man ihr glauben durfte – und Fall neigte dazu, es zu tun.

      Er war bereit, sie sofort in den engeren Kreis aufzunehmen. Das mochte leichtsinnig erscheinen. Und Angelika war wie üblich dagegen. Es genügte ihr bereits, wenn die Offerte – wie bei Paul Walter – nicht von ihrer Gruppe, sondern von den jeweiligen Interessenten selbst kam. Sie witterte überall Spitzel, Verräter.

      Richard Fall hatte das Mädchen bei einem Gang über die kleine Kirmes am Ortsausgang kennengelernt. Sie stand an einem Autoskooter und sah gedankenverloren den ratternden Wagen mit ihren dicken Gummipuffern zu. Beim Aufprall gab es regelmäßig Lacher. Sie lauschte ihnen seltsam ungerührt.

      Er musterte ihre zusammengesunkene Gestalt, die leicht hängenden Schultern, ihre hübsche bestickte Bluse unter dem langen Mantel. Die Art, wie sie auf die Fahrbahn aus Metall sah, war seltsam fern und doch ganz nah, weder distanziert noch beteiligt.

      Dann blickte sie plötzlich auf, ihre eng stehenden Augen (die ihn an Werders erinnerten) glitten mehrmals ungläubig über sein Gesicht – und Fall wandte sich schnell ab, weil er sich erkannt glaubte, und ging zwischen den Buden und Wagen der Kirmesleute hindurch in Richtung auf die nur schwach beleuchtete Straße.

      Hinter sich hörte er Schritte. Sie wurden schneller.

      Er ging ebenfalls schneller.

      «Hallo», sagte sie, und dann, nach einer Pause: «Bitte …»

      Fall blieb stehen; er wandte sich langsam um.

      «Von mir haben Sie nichts zu befürchten – nicht das Geringste. Bitte glauben Sie mir.»

      «Was sollte ich denn zu befürchten haben?», fragte er.

      «Ich habe lange auf so eine Gelegenheit gewartet.»

      «Welche Gelegenheit?»

      «Ich möchte Ihnen helfen ... Ihnen und Ihrer Gruppe … mitarbeiten. Sind Sie hier in Heidelberg?»

      «Unsinn», sagte Fall. «Was reden Sie denn da?» Er wandte sich ab und ging die Straße entlang.

      Sie folgte ihm und blieb an seiner Seite. «Sehen Sie dort das Polizeiauto? Es ist ganz nah. Ich könnte ihm einen Wink geben. Dass ich es nicht tue, beweist meine Aufrichtigkeit.»

      So war er in ihre Wohnung über der kleinen Metzgerei gelangt. Auf den Nachttisch neben ihrem Bett lag eine Zeitung mit Sommers Foto. Fast alle Agenturen hatten die zugesandten Polaroidfotos verwendet.

      Eine solche Gelegenheit ließ man sich nicht entgehen. Das Einschussloch in seiner Stirn bedeutete für die Presse einen publizistischen Schlager ersten Ranges, der um die Welt ging.

      Ein ganz anderes Problem war es, dass Lummer seinen Posten übernommen hatte. Ausgerechnet Lummer.

      Natürlich hätte man das voraussehen können.

      Fall ließ die Zeitung auf den Fußboden gleiten und warf sich müde aufs Bett.

      Das Mädchen zog sich bereitwillig aus. Sie schien alles tun zu wollen, um ihm ihre Loyalität zu beweisen.

      «Nachher», sagte er. «Ich bin jetzt nicht in Stimmung dazu.»

      Fall läutete.

      Sie besaß einen alten Ford, dessen Maschine ebenso stark war wie die ihres Audis. Ein verblichener, hellblauer Wagen, neu bereift (und das einzige, was ihr Vater ihr hinterlassen hatte, als er sich im nahen Wäldchen erhängte). Richard Fall verstand


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