Wandlungen. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.hätte man alles besser machen können", gestand der Lehrer. "Wir müssen weit zurückgehen in die Geschichte, um die heutigen Verhältnisse als die beste aller nur möglichen Varianten zu verstehen. - Ich sagte schon, dass Sie nur die rohe nationale Vorform kennen, nicht die sich langsam ausbildende demokratische Gesellschaft auf deutschem Boden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der langen Spaltungszeit unter den Besatzungsmächten, nicht zu vergessen der Wiedervereinigung als einem Meilenstein des demokratischen Fortschrittes und den seit der Jahrtausendwende stürmisch verlaufenden Übergang, der Deutschland in einen modernen europäischen Bundesstaat verwandelt hat. Das Deutschland, von dem Sie im Hörsaal erfahren haben, existiert nicht mehr, keine Katastrophe, wie ich schon sagte, sondern für uns, für die ganze Welt ein Segen. Nun denn, die Geschichte dieses neuen Universalismus der Kulturen lässt sich mit einem Datum belegen, anno 1990, mit der sogenannten Wiedervereinigung beginnt das Jahr Null neuerer Zeitrechnung. Unter den Bedingungen des nicht erklärten Krieges hatten sich zwei verwaltungstechnische Gebilde entwickelt; wir sprechen heute nicht mehr von Staaten, als irreführend und die Wahrheit verschleiernd. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers entstand kurzfristig ein Vakuum, das von der Parteiendemokratie angloamerikanischen Ursprungs, und wie wir nun wissen, zur Weltherrschaft berufen, aufgefüllt wurde; notwendigerweise, da sich unter den Besatzungsmächten keine andere politische Kraft hatte entwickeln können. Diese Stunde Null neuerer Zeitrechnung, wie ich sie nenne, müssen Sie immer im Blick behalten, mein Freund, wenn Sie begreifen wollen, was Sie beobachten. - Ich könnte in dieser Weise fortfahren, müsste ich nicht befürchten, Sie durch zu viele Einzelheiten nur zu verwirren."
Nachdenklich sah der Eleve auf den schnell dahinziehenden Strom, der Wirbel und Schnellen ausbildete, ohne dass eine Ursache für diese Bewegung zu erkennen war. "Alles fließt", äußerte er, "es fragt sich nur wohin. Mir sind vorhin in Ihrem Museum, ich glaube im Saal 1 einige allegorische Figuren aufgefallen ... "
"Es handelt sich um die abgebrochenen Standbilder vergangener Epochen", erklärte der Mentor. "Nicht alle haben wir unter unsere Sammlungen aufnehmen wollen. Sie müssen wissen, dass in den Zeiten der Auflösung des Nationalstaates, den wir, wie ich schon dargelegt habe, beseitigen mussten, einige Figuren der Zeitgeschichte, wenn nicht unsere Wertschätzung, so doch unsere Aufmerksamkeit verdienen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Lagers setzte unglücklicherweise und zu unserer Betroffenheit - da haben Sie schon den einen der beiden Leitbegriffe, von denen ich sprach - zunächst ein für überwunden gehaltenes nationalistisches Potenzial im Volke frei. Das stellte uns vor ein Problem, uns, die freiheitlich-grundgesetz-demokratisch gestimmten Menschen. Es hätte sich beispielsweise die Vereinigung der beiden deutschen Landesteile ohne uns vollziehen können, etwa auf neo-kommunistischer Basis. Oder, wäre das erwähnte nationale Potenzial zum Zuge gekommen, hätten die europäischen Mächte, getreu ihrer traditionellen Politik, kein zentralistisches Deutschland zu dulden, die deutsche Einigungsbewegung mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen bekämpfen oder gar mit der militärischen Intervention beantworten können! Ihre Truppen standen in verhältnismäßig hoher Kampfstärke abrufbereit in Deutschland. Innenpolitisch herrschte glücklicherweise Einvernehmen darüber, einen neuen Nationalstaat wenn möglich zu verhindern. So wurde das neue deutsche Gesamtgebilde logischerweise internationalen, überstaatlichen Bürokratien ausgeliefert. Außerdem haben wir seinerzeit das Kunststück fertiggebracht, unsere östlichen Landesteile einfach wie ein bankrottes Unternehmen zu behandeln, die Konkursmasse erworben und alle Abwicklungskosten einem Dritten aufgehalst."
"Endlich begreife ich, weshalb es nötig gewesen ist, Ihre nationale Kultur preiszugeben, obschon ich es dann auch bedauern sollte, überflüssige Studien betrieben zu haben", sagte der Eleve. "Übrigens stellt Deutschland die Ausnahme von der Regel dar, falls es eine solche gibt und falls sie besagt, dass sich alle Kulturen als überholt in eine Einheitskultur von selbst einzubringen haben. Ich habe eine allgemeine Agonie des kulturellen Lebens beobachtet, was offensichtlich das Niveau des Bildungsstandes gesenkt hat. Kultur bewirkt doch im Allgemeinen die Verfeinerung, Verbesserung eines Volkes, sie macht dessen Zusammenhang aus oder zumindest bewusst. Wir müssten noch vom Ende der nationalen Solidarität in den gesellschaftlichen Bereichen wie in den Familien sprechen, hätten wir nur die Zeit. Wurde das alles denn ohne Widerstand der Kulturschaffenden hingenommen? Und der Staat, den es ja noch gab, was tat er?"
"Lächelnd sagte der Mentor: "Werfen Sie nicht alles durcheinander, mein Freund. Der Staat? Welchen Typs? - Die alt-englische Demokratie entwickelte sich aus bürgerlich-praktischen Verhältnissen hin zur Bill of rights und zur Habeas-Corpus-Akte. Am Anfang der Französischen Republik stand eine philosophische Idee, etwa die Proklamation der Menschenrechte, welche prompt und unerwartet die bislang unbekannte maschinelle Tötung Andersgläubiger in die Welt einführte, aber auch das Gegenteil von einer Mehrparteienherrschaft angestrebt hat. In Deutschland hielt sich zu jener Zeit immer noch das urwüchsige ständische Gebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und vielleicht hätten uns die lieben Nachbarn gewähren lassen sollen, anstatt uns ihre Geschichte und ihre Ideen aufzudrängen, da wir ja nicht eben arm dastanden. Aber wir verlieren uns schon wieder in der älteren Geschichte. - Vor der Eingangshalle meines Museums sahen Sie eine überlebensgroße Symbolfigur .... "
"Die angestrahlt wird?"
"Es handelt sich um einen unserer Präsidenten von bedeutender rednerischer Begabung und dermaßen warmherziger Ausstrahlung, dass wir ihn gar nicht beleuchten müssten, es aber aus Pietät einstweilen beibehalten, bis ihn ein größerer Psalmodist ablöst. Damit haben Sie ein Merkmal parteienstaatlicher Ausdrucksweise, das dröhnende, gleichwohl aber unverbindliche Geschwätz. - Ich lade Sie zu einem zweiten, vertiefenden Gang durch mein Museum ein. Sie werden einige Gestalten der Vergangenheit in einem neuen Lichte sehen lernen. Lernen, diese Tugend zu bewahren, lohnt unbedingt. Unseren wichtigsten Saal Nummer 1, den der Stunde Null der Weltgeschichte neuerer Zeitrechnung, kennen Sie zwar schon, aber folgen Sie mir, es wird kühl!"
Beide Herren beschleunigten den Schritt, denn der Wind hatte zugenommen und ein feiner Nieselregen setzte ein. Sie schlossen ihre Mäntel und strebten der Stadt zu.
"Ich fürchte, es lohnt kaum mehr," sagte der Eleve zum Mentor. Mahnend erhob dieser den Zeigefinger: "Discite, moniti! Lernt, ihr seid gewarnt! Virgil, Äneis."
Ergeben senkte der Schüler den Kopf, der Mentor schob den Arm unter den des Eleven und zog ihn mit sich fort.
Von der aufgehobenen Bewegung
Kurz vor der Jahrhundertwende wurde dem Ehepaar Beharrer ein Sohn geboren und im katholischen Glauben getauft; der Knabe kam mit einem silbernen Löffel im Munde zur Welt. Von seinem Kinderzimmer aus blickte er in einen riesigen parkähnlichen Garten, eine Kinderfrau beaufsichtigte ihn, und ein Hauslehrer kümmerte sich bis zum Eintritt des jungen Herren ins städtische Gymnasium um dessen elementare Bildung. Er galt als Träumer, begabt und nachlässig bis faul, woran die Strenge des Vaters, eines Bergwerkdirektors mit dem im Kaiserreich so beliebten Titel: Wirklicher Geheimer Rat, nicht viel zu ändern vermochte. - Es war eine Periode der Saturiertheit. Von der Zukunft wurde viel erwartet, dieses Bürgertum hatte etwas geschafft und geschaffen; es wollte in Sicherheit genießen. Der erstgeborene männliche Nachkomme einer wohlhabenden Familie musste nicht unbedingt in die Fußstapfen des Vaters treten; ihm war unter Umständen ein Leben als Präzeptor der reichen abendländischen Kultur reserviert. So stand es vermutlich in den Sternen des jungen Helden Beharrer. Auch nach einem schlecht abgelegten Abitur war ihm die klassische Bildungsreise, das Kunststudium in München oder in Dresden versprochen, wenn er sich nur überhaupt anstrengen wollte. Die lebenslange elterliche Apanage schien ihm sicher, sollte er sich als lebensuntüchtig erweisen. - Der Sohn des Geheimrates war ein sorgsam behütetes und gepflegtes Bürschlein von eigenem, etwas liederlichem Charme; er sah dem Wehrdienst mit Unbehagen entgegen. Sollte er vorher oder nachher die Italienreise antreten? Dieser Sorge enthob ihn der Ausbruch des Krieges mit dem allgemein unter der Jugend ausbrechenden Frontfieber; er wurde mitgerissen, meldete sich mit seinem Jahrgang freiwillig. Vor Verdun entwickelte er sich rasch zum Frontoffizier und verkörperte einen