Rock wie Hose. Holger Hähle

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Rock wie Hose - Holger Hähle


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unsere eigene Erlebenswelt und die Erlebenswelt unserer Eltern und eventuell Großeltern. Zu älterer Geschichte haben wir vielleicht Wissen, aber keine Beziehung. Die Qing-Dynastie liegt zu weit zurück. Sie ist zu weit entfernt vom aktuellen Leben. Was heute als weiblich oder männlich angesehen wird, kann zu anderen Zeiten anders gesehen worden sein. Das Beamtenkleid war sicher nicht weiblich, auch wenn wir das heute anders empfinden mögen. Es ist deshalb gefährlich, unsere gelebte Erfahrung 1:1 auf andere Epochen zu übertragen. Das führt schnell zu Geschichtsverfälschung. Wir neigen aber dazu, weil Erfahrungen als selbst erlebte Ereignisse uns so sehr überzeugen. Wir empfinden sie als so allgemeingültig, dass wir sie leicht ohne Weiteres als erwiesen einstufen und auch so damit umgehen. Das macht es so schwer, historisches, faktisches Wissen in unser aktives Denken und Handeln zu integrieren. Eigene Eindrücke wiegen schwerer als theoretisches Wissen. Ich glaube die Schüler spüren diese Diskrepanz zwischen ihrem gefühlten Wissen und den Fakten des Vortrags. Das beeindruckt sie so sehr an den folgenden Bildern

      Sie zeigen Frauen beim Reiten auf einem Damenreitsattel. Sie tragen lange Kleider bis zu den Knöcheln. Beide Beine hängen auf einer Seite des Pferderückens, damit der Rock nicht hochrutscht. Sportlich sieht das nicht aus, eher als ob die Damen gerade vom Fünf-Uhr-Tee mit den strickenden Freundinnen kämen. Damals waren Hosen den Männern vorbehalten. Das hatte nichts mit einer Maßnahme zu tun, dass die Männer nicht mehr so oft vom Pferd fallen, sondern viel mehr mit Politik und Herrschaft. Den Schülern sind diese Bilder völlig fremd. Sie können sich emotional nicht vorstellen, dass vor nicht einmal siebzig Jahren Frauen in Hosen ein Skandal waren.

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      Abb. 08a/b: Frau in der Schwerindustrie, Marlene Dietrich 1933

      Andere Bilder zeigen Frauen in Hosen. Die arbeiteten in der industriellen Produktion, als während der Weltkriege die Männer als Soldaten ihr Kriegshandwerk anrichteten. Frauen ersetzten die Männer an deren Arbeitsplätzen. Dort durften sie ausnahmsweise Hosen tragen. Gerade in der Schwerindustrie war das Arbeiten so leichter. Nach getaner Arbeit mussten sie sich aber wieder umziehen. Der Anblick von Frauen in Hosen galt in der Öffentlichkeit als unmoralisch. Die Schüler sind erstaunt, dass die Hose für Frauen sich so ganz erst in den siebziger Jahren durchsetzte, als auch die internationalen Luxushotels das Hosenverbot für Frauen aufhoben. Der Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU) drohte noch 1970, weibliche Abgeordnete in Hosen aus dem Plenarsaal zu weisen.

      Eine Schülerin meint, dass Hosen für sie im Alltag unverzichtbar sind. Und ich ergänze: „unverzichtbar geworden sind.“ Ihr Selbstverständnis als Frau in Hosen hat heute eine ganz andere Dimension als bei meiner Mutter oder Großmutter, auch weil ihr der emotionale Bezug zu der Zeit fehlt, als Hosen noch nichts für Frauen waren.

      Zum Vortragsende gibt es Bilder von Männern, die heute noch Rock tragen. Ich zeige unter anderem: griechische Wachsoldaten vor dem Präsidentenpalast, englische Universitätslehrer bei einer Zeremonie, Priester und Mönche, den japanischen Kaiser im Kimono, Kendo-Kämpfer, indische Politiker im langen und indische Arbeiter im kurzen Lungi, Polizisten aus einigen Ländern Polynesiens und Sarong tragende Touristen bei einem Tempelbesuch auf Bali.

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      Abb. 09a/b: Polizeikapelle aus Samoa, Krieger der Paiwan

      Die Schüler zeigen sich sprachlos. Ich erfahre, dass sie nicht gedacht haben, dass der Rock als universelles Kleidungsstück aller Geschlechter so weit verbreitet war und immer noch ist. Sie erkennen zum Ende, dass die Haltung zu Rock wie Hose variabel ist und mehr oder weniger vom jeweils aktuellen, kulturellen Zeitgeist abhängt. Mehr darf ich nicht von einem Kurzvortrag erwarten.

      Erst mit dem Ende des Vortrags wird mir wieder bewusst, das ich nicht nur über Röcke rede, sondern auch einen trage. Das hatte ich zwischendurch völlig vergessen. Man muss sich nur mit anderen Dingen beschäftigen, schon verschwindet der Rock im Alltag und wird kaum merklich zur Tagesroutine. Das ist ein Zeichen für Normalität. Ich staune, wie schnell das geht. Vor etwa einer halben Stunde hatte ich noch Bauchgefühle mit Bedenken gegen den Rock, und jetzt fühle ich mich, als hätte ich nie etwas anderes getragen. Genauso normal setzt sich der Unterricht mit dem Grammatikteil fort. Es gibt kein Lachen und kein Tuscheln mehr. Jeder konzentriert sich auf meine Ausführungen zum Perfekt und probiert die Beispielsätze. Mein Rock ist auch bei den Schülern in der Normalität des Alltags angekommen. Der wird zur Nebensache, wo der Fokus auf den Unterricht schwenkt. Es gilt halt das Rock wie Hose-Prinzip. Wo der Unterricht im Mittelpunkt steht, wird Bekleidung zweitrangig. Bedenken, dass ich mich mit meiner Verkleidung eventuell lächerlich mache und an Autorität verliere, bestätigen sich nicht. Das Gegenteil trifft zu. Die Schüler zeigen sich beeindruckt.

      Herausgerissen werde ich aus dieser Normalität erst wieder, als der bestellte Fotograf hereinkommt. Automatisch fange ich an, für die Kamera zu posieren. Beim Gehen setze ich die Füße voreinander. Im Stehen winkele ich das rechte Knie etwas an. Die linke Hand stützt die Hüfte. Nach einigen Augenblicken wird mir mein übertrieben weiblicher Gang anstrengend. Er entspricht nicht meinen natürlichen Bewegungen. Etwas später versuche ich noch mal den Catwalk-Gang. Wenn ich schon in einer Kostümierung auftrete, dann gehört das dazu. Die Rolle ist interessant, ich kann die Erfahrung durchaus weiter empfehlen. Sie weicht aber zu sehr von meinem Bewegungsmuster ab, um daran Gefallen zu entwickeln. Es bleibt anstrengend und meinem Bewegungsapparat fremd. Ich spiele eben nur das Schulmädchen, mehr nicht. Es ist eine Erfahrung, die ich zu einem besonderen Anlass gerne wiederhole. Nur in meinem Alltag brauche ich das nicht. In meinen Alltag möchte ich aber durchaus den Rock mitnehmen.

      Seit heute weiß ich, es gibt in einem feuchtheißen, tropischen Klima keine bequemere Kleidung als einen weiten Rock. Mit dieser physischen Erfahrung im Bewusstsein kann ich überhaupt nicht mehr verstehen, warum Röcke zur Frauensache geworden sind. Ich finde, das sollte sich ändern.

      Wenn ich genauer überlege, sind selbst viele traditionelle Männerhosen heute Frauenhosen geworden. Mit einer Hose ist Mann heute nicht immer auf der anerkannt männlichen Seite. Das ist umso verwunderlicher, wenn man bedenkt, dass vor weniger als hundert Jahren Frauen nicht mal Hosen tragen durften. Damals waren alle Hosen für Männer da. Heute werden alle betont weiten Hosen ganz überwiegend nur noch von Frauen getragen.

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      Abb. 10: Knickerbocker und moderner Hosenrock

      Dazu gehören auch Pump- und Pluderhosen, wie ich sie im Urlaub auf dem Balkan und auf Kreta bei alten Männern gesehen habe. Die waren weit geschnitten. Nur an den Waden waren sie eng. Ihr Schritt hing auf Kniehöhe. Selbst die Sansculotte der französischen Arbeiter, die in der französischen Revolution zum Markenzeichen der Jakobiner wurde, wird heute unter dem Namen Culotte als kniebundfreie Damenhose oder Hosenrock ausschließlich für Frauen angeboten (siehe Abb. 10, kleines Bild). Die Knickerbocker meines Großvaters finde ich ebenfalls nicht mehr bei der Herrenmode. Das waren wadenlange Hosen, die so lang und weit geschnitten waren, dass der Stoff über die Bünde am Bein fiel. Heute werden diese und ähnliche Hosen nur noch in den Abteilungen für Damenmode angeboten.

      Das letzte Rückzugsgebiet für Weite und Schritttiefe, das Männern geblieben ist, befindet sich daheim mit Nachthemd, Schlafanzug und Morgenmantel. Den hitzefreundlichen Schlabber-Look gibt es für Männer nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit etwas Kreativität ließe sich aus jeder Pyjamahose leicht eine coole Freizeithose entwickeln, die einen heißen Sommer angenehmer macht. Für Frauen gibt es das schon.

      Wie kommt das? Was ist passiert? Welche neuen Erkenntnisse haben dazu geführt, die Bekleidungsordnung für Frauen freier zu gestalten und gleichzeitig für Männer zu verschärfen? Wie wurden aus klassischen Männerhosen Hosenröcke für Frauen? Warum ist das so, wo doch für Männer weite Unterhosen, wie Boxershorts,


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