Humania. Walter Rupp
Читать онлайн книгу.eine und dann in die entgegengesetzte Richtung machen, Hirschen; wieder andere, die sich schwere Lasten aufbürden lassen, Eseln oder nichthöckrigen Kamelen. Am häufigsten verbreitet sind die verschiedensten Arten von Kriechtieren, die sich mit Hilfe einer starken Schleimabsonderung langsam, aber stetig fortbewegen, und die Schafe, die außerordentlich gefräßig sind und täglich alle Illustrierten, deren sie habhaft werden können, Wort für Wort verschlingen.
Brehm warnte mich vor allem vor den Haien, die ihr Opfer so lange verfolgen, bis es seine Ersparnisse hergibt, vor den zierlich wirkenden Miezen, die nach sorgfältiger Krallenpflege ihre Jagd beginnen, und nur von erfahrenen Dompteuren zu zähmen sind; vor den duften Bienen, die mit Stichen, und vor den Würgeschlangen, die mit heftigen Umarmungen ihre Opfer zugrunde richten.
Überall im Lande konnte ich unter den ökologisch eingestellten Humaniern die Forderung hören, man müsse endlich auch in jedem Zoo jedem Tier den ihm von der Natur gewährten Bewegungsraum zur Verfügung stellen. Oft hörte ich Bedauern, dass es noch immer nicht gelungen sei, für die Tierheit ein eigenes Siedlungsgebiet zu reservieren, damit sie künftig nicht mehr gezwungen sei, mit dem Menschen zusammenleben zu müssen, der doch bekanntlich der ärgste Feind der Tiere ist und mehr als jedes andere Tier zu deren Dezimierung - und häufig zu deren Ausrottung - beigetragen hat.
Schäferhund, zwölfeinhalb Jahre alt, mit guten Manieren, wünscht sich für seinen Lebensabend ein älteres Damchen oder Herrchen, das ihm Unterhalt und Verpflegung gewährt. Als Gegenleistung nimmt er jede Art von Liebkosungen entgegen.
Kanarienvogel, seiner Einsamkeit überdrüssig, möchte, um nicht mehr allein piepsen zu müssen, mit einem Beamten oder einem Studenten zusammenziehn.
Jung verheiratetes Floh-Ehepaar ist bestrebt, nach einem glücklich überstandenen Kleiderbad eine neue Existenz aufzubauen. Es bevorzugt eine Wohngemeinschaft in einem Gammlerhemd.
Papagei, der fließend bajuwarisch spricht, bewirbt sich zwecks sprachlicher Weiterbildung um Aufnahme in eine kinderreiche Familie, in der schwäbisch oder sächsisch als Umgangssprache üblich ist.
Zierfische, seit 17 Jahren im Süßwasser lebend, wünschen dringend eine Ortsveränderung. Sie bieten als Gegenleistung ein beheiztes Aquarium mit Sandboden und umweltverträglichen Wasserpflanzen an, außerdem einen einmaligen Panoramablick, und die Möglichkeit, exotische Menschentypen zu begaffen.
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Geschichte
Als ich mich für die Geschichte des Landes zu interessieren begann, war ich ganz auf mich gestellt. Die Leute konnten mir nicht weiterhelfen, weil sie sich ausschließlich für ihre persönliche Vergangenheit interessieren. Sonst sind die Humanier mit ihrer Geschichte überaus zufrieden, mit der ihrer Nachbarn jedoch nicht. Wie der weise Sokrates sagen sie gerne, wenn sie in die Vergangenheit zurückblicken: „Ich weiß nichts! Ich habe von all dem nichts gewusst und möchte davon auch nichts mehr wissen!“
Leopold von Ranke, ein bereits pensionierter Geschichtslehrer eines Gymnasiums, war überglücklich, zum ersten Mal in seinem Leben jemanden gefunden zu haben, der sich für Geschichte interessiert und war sofort bereit, mich, trotz seiner doch beträchtlichen Gedächtnislücken, in die wichtigsten historischen Ereignisse Humaniens einzuführen. Er erklärte mir die Regierungszeiten der verschiedenen Herrscher, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Herrscherhäusern, wieviele Ehen sie eingingen und wieviele Kinder als ehelich anzusehen sind, ihre Raubzüge, Niederlagen oder Siege. Er meinte, da das Volk nur selten einmal gegen einen Herrscher aufgestanden ist, sei es unbedeutend. Auch Entdeckungen, Erfindungen oder die Werke großer Künstler, wären nicht der Erwähnung wert, weil das geistige Errungenschaften sind.
Da die Humanier in jedem Jahrhundert mehrmals Kriege führten, sind sie kriegserfahren wie kaum ein anderes Volk. Zahlreiche Heldenfriedhöfe, Kriegerdenkmäler, Gedenktafeln oder Gedenkstätten, die allerorten errichtet wurden, zeugen von ihrer steten Bereitschaft, für hohe Ideale Menschenopfer zu bringen. Hohe Ideale sind bei ihnen: der Gewinn von Ländereien, Machtzuwachs und die Demonstration der eigenen Überlegenheit. Die Humanier haben allerdings immer nur dann Kriege geführt, wenn sie sich dazu gezwungen sahen: wenn ein Gegner Schwächen zeigte oder wenn ein überraschender Überfall Vorteile versprach.
Außerhalb der Kriege sind sie stets bemüht, ihre Feindseligkeiten nicht über den engeren Verwandten- und Bekanntenkreis hinaus auszudehnen. Sie achten sehr darauf, ihre Feinde womöglich nur seelisch zu verwunden. Haben sie einmal einen Feind ausgemacht, sind sie sehr tapfer. Sie verfolgen ihn dann so lange, bis er auf alle Forderungen eingeht und kapituliert. Vor ihren Feinden schützen sie sich, indem sie Verleumdungen gegen sie ausstreuen, sie mit einem Wortschwall einschüchtern oder sich hinter Mehrheiten verstecken. Dreißigjährige Kriege werden eigentlich täglich geführt, wenn eine Ehe nicht rechtzeitig geschieden wurde oder das gespannte Verhältnis zu Bekannten und Kollegen nicht entspannt werden konnte. Nachdem die Helden, die Humania zu allen Zeiten hervorgebracht hat, fast ausnahmslos in den zahlreichen Kriegen gefallen sind, ist zu befürchten, dass Humania eines Tages nur noch aus Feiglingen besteht.
Leider muss ich rückblickend darin einen folgenschweren Fehler sehen, dass ich nicht verhindert habe, zu meinen Gesprächen mit Herrn von Ranke auch die Gebrüder Grimm miteinzuladen. Ich hätte voraussehen müssen, dass das nicht gut gehen kann. Als Wilhelm und Jakob Grimm sich auf den Standpunkt stellten, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichten sei ein Unfug, der Wahrheitsgehalt in einer Legende sei nicht geringer als in einem historischen Ereignis, ja schließlich zu behaupten wagten, dass in Kinder- und Hausmärchen mehr Wahrheit enthalten sei als in einem geschichtlichen Bericht, verlor Herr von Ranke die Fassung und erklärte außer sich vor Wut, dass er nicht mehr bereit sei, sich mit Banausen zu unterhalten, und von da an den Umgang mit mir mied.
Die Geschichte wiederholt sich nie sofort, meist erst nach Jahrhunderten, und dann auf eine Weise, wie man sie nicht erwartet hätte!
Aus der Festrede des Präsidenten bei den ‘Freunden der Geschichte’
Regierungsform
Humania hat wie alle anderen Völker immer eine Regierung, auch wenn das Volk eine Regierung nicht verdient. Das Zusammenleben ist bei den Humaniern nach einer nicht in Gesetzen festgeschriebenen Hackordnung geregelt. Die eine laute Stimme haben, stehen obenan und bestimmen die Richtung. Die sehr viel Geld besitzen, werden zu allen wichtigen Beratungen herangezogen. Die ihre Ellenbogen gebrauchen können, dürfen ihre Schlüsselpositonen verteidigen, und alle Hochbegabten müssen sich streng unterordnen, damit sie nicht mit ihren unbequemen Gedanken Unruhe stiften und das friedliche Miteinander stören.
An der Spitze steht ein Präsident. Er muss eindringliche, zu Herzen gehende Reden halten und feierlich auftreten können. Während seiner Amtszeit lernt er, das Volk als sein Volk zu sehen und zu lieben. Da er nicht mitansehen möchte, wie sein Volk unglücklich wird, wehrt er sich gegen seine Abwahl. Seine Gattin stellt sich allen Wohltätigkeitsvereinen als Vorsitzende zu Verfügung und zieht bei der Verteilung der Spenden so sehr die Aufmerksamkeit auf sich, dass die Anwesenden von der Opferbereitschaft der Präsidentengattin beeindruckt sind und die Spender - ihrem Wunsch entsprechend - unbeachtet bleiben können.
Die Regierungsform ist eine demokratische. Alle reden gleichberechtigt mit, aber nur einer führt die Sache aus. Alle wählen zu ihrem Anführer den besten aller Kandidaten, obwohl sie sehr wohl wissen, dass es den Besten gar nicht gibt. Jeder fühlt sich jedem überlegen, behält es aber für sich. Während in autoritären Systemen immer nur derselbe Fehler wiederholt werden kann, macht die Demokratie es möglich, verschiedene Fehler zu multiplizieren.
Da Humania ganz auf dem Fundament der Freiheit errichtet wurde, darf der Staat nicht in die Schlafzimmer seiner Bürger blicken.