Oskar Lafontaine. Robert Lorenz

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Oskar Lafontaine - Robert Lorenz


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statt sich erwartungsgemäß zum Oppositionschef im Landtag aufzuschwingen, leitet er seine Wahl zum Oberbürgermeister Saarbrückens ein, die ihm im Januar 1976 gelingt – mit 33 Jahren ist er der jüngste Stadtregent der Republik. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Klugheit dieses Schritts:30 Als Regierungschef der Landeshauptstadt verfügt er über eine der Staatskanzlei gleichwertige Infrastruktur und Öffentlichkeitsaufmerksamkeit, wie sie ihm als Oppositionsführer im Landtag niemals zu Gebote gestanden hätte. Denn im kleinen Saarland ist Saarbrücken umso größer – rund zwanzig Prozent der Landesbevölkerung leben dort. An der Spitze der Stadtverwaltung kann Lafontaine gestalten, kann sichtbare Zeichen seiner Politik setzen und sich damit in der Öffentlichkeit platzieren.

      Der Oberbürgermeister Lafontaine wirkt tatkräftig und modern: Seine ersten Maßnahmen gelten der Kulturpolitik, mit der er die Lebensqualität der Saarbrücker anheben will. Lafontaine lässt den Marktplatz zu einer Fußgängerzone ausbauen, richtet die Stadtgalerie ein, fördert kulturelle Veranstaltungen wie das Festival „Perspectives du théâtre“ oder den „Max-Ophüls-Filmpreis“ und restauriert das marode Saarbrücker Schloss; mit dem österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka begibt er sich in der Modernen Galerie Saarbrücken in einen symbolischen Dialog zwischen Kunst und Politik. Kurz: Wie in der Politik als irgendwie glamouröse Parteigröße konterkariert Lafontaine auch kulturell das Image des provinziellen Saarlandes. Längst bezeichnen ihn politische Berichterstatter als den „starken Mann der SPD“31, der schon kurz darauf als der „beste Kopf der Saar-SPD“32 gilt. So wie ihn damals Journalisten beschreiben, müssen zeitgenössische Leser unweigerlich den Eindruck gewinnen, dass es sich bei dem Nachwuchspolitiker um einen angehenden Spitzensozialdemokraten handelt, dessen weiteren Aufstieg allenfalls noch ein Skandal oder ein Unglück aufhalten könnte.

      Mit dem Wissen von heute zeichnet sich damals also der spätere Status eines Politstars bereits ab. Aber eigentlich lässt sich in den 1970er Jahren Lafontaines weiterer Weg bestenfalls erahnen; denn Politik ist viel zu wechselhaft und zufällig – unberechenbar also –, als dass sich wirklich anhand beobachtbarer Merkmale auf den künftigen Karriereverlauf schließen ließe. Was wäre z.B. passiert, wenn Lafontaine seinen Allüren stärker nachgegeben hätte, als er dies tat, oder über eine politische Affäre gestolpert wäre, die schon oft vielversprechende Politikerkarrieren mit einem Male zerstört haben? Was wäre geschehen, wenn Lafontaine bereits 1987 den SPD-Bundesparteivorsitz übernommen und drastischer gescheitert wäre als 1990 mit der verlorenen Bundestagswahl? Und keineswegs war auszuschließen, dass Lafontaine seiner Abneigung gegen die alltäglichen Härten des Politikbetriebs – endlose Sitzungen, langweilige Termine, ständige Präsenz – doch einmal nachgibt und sich unter Aufgabe seiner aussichtsreichen Position, aber mit dem Auskommen eines erfolgreichen Publizisten oder Kopfes einer Behörde aus der Politik zurückzieht. Bei Lafontaine gab es etliche charakterliche Dispositionen, die zeigen, dass trotz einer faktisch standardisierten Laufbahn Politikerkarrieren alles andere als determiniert sind. An vielen Stellen von Lafontaines Karriere hätten Situationen ganz anders ausgehen können – wahrscheinlich stärker als bei anderen Politikern, die weitaus zielstrebiger auf immer höhere Weihen und Ämter zustrebten. Kurzum: So ehrgeizig und zupackend er auch bereits Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wirken mochte – der Weg zum Ministerpräsidenten, Kanzlerkandidaten und Bundesparteivorsitzenden schien möglich, ja drängte sich sogar auf, aber war, wie gesagt, mitnichten vorprogrammiert.

      Rhetor und Rebell: Aufstieg in der Bundespartei

      Aber Lafontaines Karriere geht weiter. In einer Geschwindigkeit und mit Erfolgen, die ihn binnen kurzer Zeit zum Anwärter auf höchste Ämter in Partei und Republik machen. Bei der Landtagswahl 1985 erringt Lafontaine einen spektakulären Sieg. Unter seiner Führung gewinnt die SPD nicht nur die Wahl, sondern demütigt obendrein die bislang regierende CDU.33 Bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent – die bei zukünftigen Urnengängen nie wieder erreicht werden sollten – gelingt es der SPD beinahe, die absolute Mehrheit unter den gültigen Stimmen zu erhalten: 49,2 Prozent stehen auf ihrem Konto, die CDU kommt nur noch auf 37,3 Prozent. Dieses Resultat ermöglicht Lafontaine eine Mehrheit, die ohne Koalitionspartner auskommt. Eine kuriose Geschichte: Noch kurz vor dem Wahltag lagen der Ministerpräsident und der Herausforderer in Umfragen gleichauf; außerdem musste die SPD die absolute Mehrheit der Mandate holen, um regieren zu können, da FDP und Grüne für eine Koalition nicht bereitstanden. Die Ausgangslage der Saar-SPD war also alles andere als verheißungsvoll, ein Wahlsieg trotz vorheriger Stimmenzuwächse auf der Kommunalebene keineswegs ausgemachte Sache. Doch mit „Oskar“, so legt der Wahlausgang nahe, klappt es eben doch. Überall ist nun – gleich, ob dies den Tatsachen entspricht oder nicht – zu lesen, und damit geschichtlich dokumentiert, dass „Oskar“ den Wahlsieg errungen habe, eben dieser „Oskar“ also Architekt und Urheber des Triumphes sei.34

      Für Lafontaines Karriere ist dieses Husarenstück enorm wichtig: Denn dieser historische Erfolg ist nun untrennbar mit seinem Namen verknüpft, fortan wird mit ihm der Wiederaufstieg der bundesweit ins Hintertreffen geratenen SPD assoziiert – Lafontaine, der Erfolgsmensch, der Siegertyp inmitten von Absteigern und Langweilern. Denn Helmut Schmidt hat die Kanzlerschaft verloren und sich aus der SPD-Elite zurückgezogen, Willy Brandt ist längst nicht mehr die charismatische Gestalt von ehedem und der neue Fraktionschef im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, erscheint vielen Zeitgenossen als visionsloser Pedant. Lafontaine aber ist nicht nur ein Gewinner, sondern auch ein Provokateur, der sich als eigenständiger Kopf erweist, bedenkenlos von der Partei- und Vorstandslinie abweicht, wenn er es für nötig befindet oder sich davon einen Vorteil erwartet. Außerdem finden sich in der SPD jener Zeit nicht viele Namen, die scharfe Positionen vertreten. Auch wird in den Medien nach politischen Namen gefahndet, die sich mit den Positionen der Friedens- und Ökoaktivisten verknüpfen lassen – Lafontaine steht parat, ist Aufrüstungs- und AKW-Gegner. Entweder hat er also Weitsicht bewiesen oder schlicht Glück gehabt: Doch in den frühen 1980er Jahren wird er im Fahrwasser der Neuen Sozialen Bewegungen prominent.

      Und allein schon als Ministerpräsident, noch dazu mit einer solchen Triumphgeschichte im Gepäck, zählt Lafontaine nun automatisch zu den Aspiranten auf Ämter und Positionen in der Bundespartei. 1985 ist Oskar Lafontaine also in der Parteielite angekommen; nun stellt sich für ihn die Frage, wie lange er dort bleiben, welchen Status er dort einnehmen wird. Denn einmal dorthin zu gelangen, glückt vielen – so z.B. auch dem gleichaltrigen Baden-Württemberger Dieter Spöri, der damals steuerpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion ist, jedoch mehrfach in seinem Bundesland erfolglos das Amt des Regierungschefs anstrebte und an den sich heute jenseits seiner Herkunftsregion vermutlich kaum mehr jemand erinnert.

      Bekanntlich setzt sich Lafontaines Aufstieg tatsächlich fort. Seine Machtgrundlage, und damit eine Voraussetzung seines Aufstiegs, sind Wahlsiege. Bis er das Ministerpräsidentenamt 1998 mit seinem Wechsel in die Bundeshauptstadt niederlegt, erhält die Saar-SPD unter ihm dreimal in Folge die absolute Mehrheit, nach jedem Urnengang kann Lafontaine mit Traumergebnissen aufwarten: 1985 sind es 49,2 Prozent, 1990 im Jahr seiner Kanzlerkandidatur sogar 54,4 Prozent und 1994 noch immer 49,4 Prozent. Was auch immer sich für Vorfälle ereignen und wie klein das Saarland auch sein mag: Absolute Mehrheiten sind ein beeindruckender Erfolgsausweis, der sich schwerlich kleinreden lässt und Lafontaine in den eigenen Reihen so etwas wie Narrenfreiheit verschafft.

      Aber das ist nicht alles: Mit seiner Regierungsbilanz beweist Lafontaine obendrein, dass er nicht bloß ein formidabler Redner ist, der im Angesicht eigener politischer Entscheidungsgewalt allerdings versagt. Vielmehr bewältigt er gleich zwei wirtschaftspolitische Probleme, die es in sich haben: das drohende Ende des Saar-Stahls und der Saar-Kohle.35 In beiden Fällen geht es darum, schwerwiegende Konsequenzen für die Region abzuwenden. Zum einen ist der Selbstwert der Saarländer als bedeutsamer Produktionsstandort und Energielieferant für das „Reich“, wie die übrige Republik im Saarland genannt wird, schlagartig bedroht; zum anderen sind schlichtweg etliche Arbeitsplätze betroffen. Freilich gibt sich Lafontaine nicht als Wunderheiler der siechenden Industriegesellschaft; die Stahlindustrie wird zwar nicht in vollem Ausmaß gerettet, doch mit sensiblen Sozialplänen, Auffanggesellschaften und kräftigen Staatsinvestitionen das Problem in einer verträglichen Weise gelöst. Die saarländischen Kohlegruben rettet Lafontaine damit zwar nicht, doch vertagt er deren Aus und schiebt der Bundesregierung die Schuld


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