Oskar Lafontaine. Robert Lorenz

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Oskar Lafontaine - Robert Lorenz


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In den 1980er Jahren zählte Lafontaine bereits zu den SPD-Stars, schien sich den Zeitpunkt zur Übernahme von Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz aussuchen zu können – zu einem Zeitpunkt, da Gerhard Schröder noch fernab jeglicher Exekutivmacht war. Dieses Gefühl bestand fort oder wurde sogar noch verstärkt: So waren nach dem Attentat im April 1990 einige in der SPD-Führung bereit, Lafontaine den Parteivorsitz anzutragen, wenn er doch bloß weitermachte.111 Und obwohl Lafontaine 1990 die Wahl verlor, daran mit seiner tiefen Einheitsskepsis auch augenscheinlich alles andere als schuldlos war, gehörte er auch anschließend zur Führungsspitze der SPD, zu einer neuen, jedoch kurzlebigen Troika mit Parteichef Björn Engholm und Fraktionschef Hans-Ulrich Klose.112 Nachdem diese zerfallen war, bildete Lafontaine mit dem rasant emporgestiegenen Gerhard Schröder ein Duo, einstweilen bis zur Bundestagswahl 1998 sogar ein Traumpaar, das die SPD nach sechzehn Jahren zurück an die Macht bugsierte. Jedenfalls: Zu all diesen Zeiten war Lafontaine aus der Parteielite nicht wegzudenken, war immer im Gespräch für höchste Weihen, eine „Ausnahmeerscheinung“113, schien selbst nach 1990 jederzeit eine neue Kanzlerkandidatur bevorzustehen. Überflüssig und mittelmäßig, insofern austauschbar oder gar entbehrlich war er indessen nie. Umso drastischer fiel nun, zur Jahreswende 1998/99, für ihn der Statuswandel aus.

      Dort, wo Lafontaine nun im Herbst 1998 stand, war er unzähligen Schwierigkeiten und Problemen ausgesetzt, befand sich in einer für ihn völlig neuen, ungewohnten, nachteiligen Position. Im Grunde war jetzt kaum mehr etwas wie zuvor: Menge und Intensität zeit- und kraftraubender Arbeit nahmen binnen kurzer Zeit exponentiell zu – und das alles bei einem Politiker, der weniger als viele andere aufgrund seiner hedonistischen Neigungen dazu bereit war. Im Saarland lebte das Konzept Lafontaine, das provokante Spiel mit den Medien und die rhetorische Überlegenheit, schon früh von der personellen Alternativlosigkeit, dem Fehlen eines ebenbürtigen Rivalen – dort musste sich Lafontaine nicht mit der Sicherung seiner Macht herumschlagen, diese bewahrte und steigerte er eher beiläufig.114 Zum ersten Mal in seiner Karriere ist Lafontaine von den Gegebenheiten seines politischen Umfelds übermannt worden – was die manchmal schwächere Bedeutung des Faktors Persönlichkeit veranschaulicht. Zugleich blieb der persönliche Einfluss jedoch wirksam, denn die Drastik der Reaktion war dann doch Veranlagung und Zustand des Protagonisten geschuldet.

      So gesehen war Lafontaines Scheitern in der damaligen Konstellation also nur noch eine Frage der Zeit gewesen, ein unausweichlicher Prozess. Form und Ausmaß dieses nahezu unvermeidlichen Scheiterns waren hingegen weit weniger festgelegt; Lafontaine standen sicherlich noch andere Optionen zur Auswahl – er entschied sich bekanntlich für die radikalste von ihnen.

      Das hatte etwas von einem trotzigen Wegwerfen politischer Macht, wie es in der Geschichte nur selten vorkommt. Wie viel Arbeit ist da zunichte gemacht worden? Aber bei Lafontaine ist dies aus der Retrospektive nicht unbedingt überraschend gewesen; Anzeichen eines solchen Bruchs hatte es schon vorher gegeben. Vorhersehbar muss er deshalb aber noch lange nicht gewesen sein. In manchen Momenten konnte die Enttäuschung ob Lafontaines politischem Verhalten daher groß, ja gewaltig sein. Die an Liebe grenzende Zuneigung und Verbundenheit vieler SPD-Mitglieder für „Oskar“ hatte deshalb neben dem Verehrungsaspekt auch eine Kehrseite. Das war sicherlich vor allem 1999 der Fall, als viele seiner Anhänger sich im Stich gelassen, aufgrund ihres pflichtvergessenen Anführers Lafontaine urplötzlich der neoliberal anmutenden Schröder-SPD ausgeliefert fühlten. Bis heute dürften ihm das ziemlich viele Menschen verübeln.

      Doch wie gesagt, auch früher schon hatte sich diese Charakteristik gezeigt: Noch vor der Kür zum Ministerpräsidenten 1985 sahen Beobachter in Lafontaine einen politischen Aufsteiger, der „vordergründig mit der Rolle des politischen Aussteigers, der sich keiner Disziplin zu beugen habe“115, kokettiere. Und 1989/90 meinten viele Lafontaine-Anhänger, ihr Kanzlerkandidat verspiele leichtfertig seine Siegeschancen, schmeiße das bislang Erreichte mit einer geringen Handbewegung einfach weg, statt mit wenig Mühe seine Chancen zu wahren. Denn fast jeder ahnte bereits Ende 1989, als Lafontaine sich zum Einheitsskeptiker aufschwang, dass das Kanzlerschaftsvorhaben unter diesen politischen Vorzeichen scheitern würde. Dabei schien Lafontaine doch das beste Pferd im Stall zu sein, jahrelang als Spitzenkandidat herbeigesehnt, von politisch ausschlaggebenden Parametern wie Redetalent und Programmatik dem amtierenden Kanzler Kohl augenscheinlich haushoch überlegen. Und dann Lafontaine: Wollte die DDR-Bürger „drüben“ halten, schien geistige Mauern zu errichten, wo doch gerade die steinerne gefallen war. Lafontaine-Fürsprecher wie der nordrhein-westfälische Fraktionschef Friedhelm Farthmann verzweifelten angesichts von „Oskars“ trotziger Uneinsichtigkeit: „Wir haben uns jahrzehntelang wegen unserer Ostpolitik prügeln lassen, und jetzt erwecken wir bei den Bürgern den Eindruck, als ob wir Angst vor der Wiedervereinigung hätten.“116

      Darin drückte sich die ungeheure Enttäuschung, ja Frustration darüber aus, dass ein ansonsten durchsetzungswilliger, bisweilen genialer Politiker wie Lafontaine im erkennbar günstigen Moment sämtliche Chancen auf einen großen, lange herbeigesehnten und vielleicht nie wieder so leicht zu erringenden Sieg einfach ausschlug. So sehr Lafontaines Schaffenskraft faszinierte, so konnte dessen sporadisch aufblitzende Destruktivität abstoßen – ähnlich zeigte sich dies nach 2010 in der LINKEN. Natürlich würde die Einheit nicht leicht zu bewältigen sein – aber wer wollte das in den stürmischen Tagen des Mauerfalls und der anschließenden Wiedervereinigungsphase schon hören? Natürlich fiel der Umgang mit einem Machiavellisten wie Gerhard Schröder 1998/99 nicht leicht; doch warum musste er neben dem Kabinettsplatz auch gleich noch den Parteivorsitz aufgeben? Welche Botschaft zum Stellenwert dieses ehrwürdigen Amtes wollte Lafontaine damit entbieten?

      Einerseits. Doch andererseits muss man Lafontaine auch zugestehen, dass er schon des Öfteren mit Ausstiegsgedanken geliebäugelt hatte. Ob das jeweils Ernst oder Koketterie war, muss dahingestellt bleiben. Aber auf die nach dem Kölner Attentat im Frühjahr 1990 gestellte Frage, ob er über ein vorzeitiges Ende seiner politischen Karriere nachgedacht habe, antwortete Lafontaine, „in diesem Spannungsverhältnis ja schon seit Jahren“117 zu stehen: „Ich bin auf der einen Seite politisch engagiert, auf der anderen Seite weiß ich, wieviel ich dafür preisgeben muss.“ Auch seine Biografen Werner Filmer und Heribert Schwan schrieben 1990 lakonisch: „Oft droht er, alles hinzuschmeißen.“118 Und spätestens nach dem Attentat, als Lafontaine beinahe nach dem Messerstich der Adelheid Streidel in Köln gestorben wäre, schien er wie nach einem überfälligen Weckruf Gefallen zu finden an dem Gedanken: „Fünf, zehn Jahre mal kürzer treten, leben, wie es mir gefällt.“119 Er fühlte sich von einigen der Spitzengenossen, allen voran Parteichef Vogel, in der Deutschlandfrage – einem mehr als gewichtigen Politikum – hintergangen, um zweifelsfreie Absprachen betrogen. Warum sollte er jetzt weitermachen? Was oder wie viel sprach dagegen, in noch jungem Alter, zumal nach einem fast tödlichen Attentat, einen Rückzieher zu machen und es seinen für den Moment verzweifelten Gegnern damit heimzuzahlen? Sein Rücktrittsbrief war damals schon geschrieben.120

      Doch vermutlich waren sein eigener Glaube in den Erfolg seiner Kanzlerkandidatur und die Verlockung des machtvollsten politischen Amtes dann doch schlichtweg zu groß, als dass er den vermeintlich greifbaren Sieg auslassen würde. Bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren dürften in Lafontaine zwei Kräfte gegeneinander gewirkt haben: Die pure Lust am Politzirkus mitsamt dessen von großem Publikum umsäumter Manege; und der Unwille, sich für eine so langsame, oftmals auch undankbare Sache wie den politischen Prozess der demokratischen Mehrheitsfindung kaputtzumachen, kostbare Lebenszeit in Gremien, Kommissionen und Plenen zu vergeuden, wo doch die Hochgenüsse der westeuropäischen Zivilisation darauf warteten, von einem Gourmet ausgekostet zu werden. Aber vielleicht dienten ihm die koketten Allüren ganz einfach auch bloß als Gradmesser für seinen persönlichen Status, um zu erkennen, ob er noch wichtig genug ist, um sie ihm durchgehen zu lassen. Auch in diesem Punkt ist Lafontaine rätselhaft genug, um mehrere Deutungsvarianten zuzulassen.

      Das Attentat, so Lafontaine, habe ihn „verändert“121, ihn für viele Facetten des Lebens sensibilisiert, die er als aufstrebender Berufspolitiker vernachlässigt habe. Demnach scheint seine Aufopferungsbereitschaft für das politische Leben – überhaupt dessen Stellenwert – infolge der existenziellen Erfahrung, dem Tod knapp zu entrinnen, deutlich zurückgegangen zu sein. Es wäre an dieser Stelle unfair, als Außenstehender den Wahrheitsgehalt von Lafontaines Aussage zu bestreiten. Da eine wissenschaftliche


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