Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein


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Den Höhepunkt erreichte die Unordnung und Unruhe im Hause, wenn Marthas Mutter und ihre Schwester mit den Kindern aus Amerika kamen.

      Meine Schwägerin sprach stets mit der größten Liebe von diesen Angehörigen, rühmte ihre Schönheit, ihre Klugheit, ihre witzigen und geistreichen Einfälle. Sie hatte meiner Schwester Else schon während der gemeinsamen Seminarzeit von ihrer schönen Mama vorgeschwärmt und nicht geruht, bis sie die beiden miteinander bekannt machen konnte. Da war dann Else sehr erschrocken; man konnte nämlich bei näherem Zusehen an Frau Kaminski noch Spuren ehemaliger Schönheit fein geschnittener Gesichtszüge entdecken, aber sie war durch ein Augenleiden und einen Hautausschlag sehr entstellt. Später, wenn sie von Amerika kam, fiel sie außerdem schon von weitem durch ihre Kleidung auf, durch schreiende Farben, riesenhafte Hüte und ebenso riesenhafte Schuhe. In Amerika hatten Mutter und Töchter zusammengelebt. Seit Martha wieder in Deutschland war, wechselten sie viele und lange Briefe, teilten sich alle Einzelheiten des täglichen Lebens mit und setzten die Neckereien, die zu ihrem Verkehrston gehörten, schriftlich fort. Monatelang wurde der Besuch der Angehörigen mit großer Freude erwartet. Es war überhaupt Marthas Grundsatz, sich lange und ausgiebig auf bevorstehende Ereignisse zu freuen, weil man die Vorfreude jedenfalls sicher hätte. Meine Mutter dagegen warnte immer davor, zu früh zu jubeln, faßte nicht gern Pläne auf lange Sicht und sprach von etwas Künftigem fast nur mit dem Zusatz: „Mit Gottes Hilfe“ oder: „Wenn Gott will“. Mit den amerikanischen Gästen zogen nun große Koffer und Körbe ins Haus, denen ein bunter Inhalt entquoll: Kleider, Hüte, Schuhe in allen Farben, Formen und Größen; Süßigkeiten und Spielsachen, Zeitschriften und Bücher. All das war teils zu eigenem Gebrauch bestimmt, teils als „Mitgebrachtes“ gedacht. Es war aber oft schwer, zu den Gegenständen Menschen zu finden, die sie verwenden konnten. Es war unmöglich, für diese ganze Jahrmarktherrlichkeit Schränke und Schubfächer zu finden, die sie aufnehmen konnten. Das wurde aber auch gar nicht beansprucht. Man war gewöhnt, aus den Koffern zu leben und das, was man herausgezogen hatte, auf dem Fußboden umherzustreuen. In Amerika gab es wohl Dienstboten, die immer wieder hinterherräumten. Hier aber war für einen Haushalt mit 4 kleinen Kindern höchstens ein Mädchen, meist nur eine Stundenfrau da. Und wenn nun noch zwei Erwachsene und zwei Kinder hinzukamen, so war an gar keine Ordnung mehr zu denken. Meine Schwägerin hatte sich gewöhnt, die Hausarbeit zu machen, wenn sie auch alles möglichst vereinfachte, um für andere Dinge Zeit übrig zu behalten. Ihre Mutter aber sah es nicht gern, daß sie Arbeiten verrichtete, die in Amerika Sache der Dienstboten oder der Männer waren. Das führte zu Mißstimmungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn, aber auch zwischen Mutter und Tochter. Nach ihrem letzten Besuch reiste die alte Dame schwer gekränkt ab, sodaß wir herzliches Mitleid mit ihr hatten. Sie war bei allen Eigenheiten eine gütige Frau, die ihre Kinder und Enkel herzlich liebte und auch allen andern Menschen freundlich entgegenkam, geistig beweglich und vielseitig interessiert, humorvoll und unterhaltend. Manches Schwere was das Leben ihr gebracht hatte, trug sie, ohne etwas davon merken zu lassen.

      Außer den Mängeln in der Haushaltsführung und Kindererziehung gab es noch etwas anderes, was meine Mutter an ihrer Schwiegertochter enttäuschte. Solange sie nur als Gast zu uns kam, hatte sie uns alle mit (zweifellos aufrichtig gemeinten) Liebesbeweisen überschüttet und war überglücklich, als sie in die Familie aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch, wie sie lachend und weinend zugleich meine Mutter umarmte, als sie sie als Braut ihres Sohnes begrüßte. Meine Schwester Else, die auf ihren jüngeren Bruder immer etwas herabgesehen hatte, behauptete sogar, es sei Martha weniger um ihn als um die Familie zu tun. Niemand hätte ihr zugetraut, daß sie darauf bedacht sein könnte, ihren Vorteil auf Kosten der andern sicherzustellen. Meine Mutter gewann aber im Lauf der Jahre immer mehr den Eindruck, daß ihr Sohn in diesem Sinn beeinflußt wurde. Ihm selbst lag eigennützige Berechnung von Natur aus durchaus fern. Er war uns ein sehr guter Bruder und hatte es früher geliebt, uns gelegentlich kostbare Geschenke zu machen, z.B. hatte er für Erna zum Beginn ihres Medizinstudiums ein gutes Mikroskop gekauft. Und für Gerhard, seinen ältesten Neffen, den er besonders liebte, hatte er lange Zeit regelmäßig etwas von seinem Einkommen beiseite gelegt, weil er sagte, er als Junggeselle brauche für sich nicht zu sparen. Bis zu seiner Verheiratung war meine Mutter alleinige Geschäftsinhaberin, Arno und Frieda waren Angestellte mit Prokura. Meine Schwägerin besaß ein kleines Vermögen, das als Betriebskapital in unser Geschäft mit aufgenommen wurde; im Verhältnis zum Wert des großen Grundstücks und des reichen Warenlagers war es nicht beträchtlich, wenn auch eine willkommene Hilfe im Zahlungsverkehr. Sie gründete aber darauf den Anspruch auf Mitinhaberschaft, und mit dem Anwachsen der Kinderzahl kam das Verlangen, deren Zukunft sicherzustellen, hinzu. Meine Mutter litt sehr unter diesen Auseinandersetzungen. Sie hatte ihre ganze Arbeitskraft für ihre Kinder eingesetzt, und was wir besaßen, verdankten wir ihr. Für sich brauchte sie fast nichts; für ihre Kleidung mußten die Töchter Sorge tragen. Meist schenkten wir ihr zu ihrem Geburtstag, was sie brauchte, weil sie sich sonst zu sehr gegen Neuanschaffungen sträubte; und auch dann bekamen wir noch Vorwürfe, daß wir unnötige Ausgaben gemacht hätten. Wenn sie etwas nach jahrelangem Gebrauch ablegen oder wenigstens nur noch im Hause auftragen sollte, verteidigte sie mit komischer Entrüstung ihr „gutes, neues Kleid“. So lebten wir alle im Vertrauen auf die mütterliche Fürsorge und dachten nicht daran, für uns selbst Sorge zu tragen; auch wir Geschwister untereinander kannten keine Berechnung. Eine Regelung der Vermögens Verhältnisse für die Zukunft zu verlangen, konnte uns schon darum nicht einfallen, weil wir den Gedanken an eine Zeit, wo unsere Mutter nicht mehr sein würde, gar nicht aufkommen ließen. Den Tod eines lieben Menschen als Tatsache, die unvermeidlich einmal kommen muß, nüchtern ins Auge zu fassen, davon zu sprechen und dafür Vorkehrungen zu treffen, gilt dem jüdischen Empfinden als Herzlosigkeit. So etwas überläßt man den „Gojim“, für die man einen Mangel an Zartgefühl und Herzenstakt als charakteristisch ansieht. Daß nun solche Überlegungen in unsere Familie hineingetragen wurden, war für meine Mutter ein großer Schmerz. Nachdem sie aber einmal den Verdacht geschöpft hatte, daß ihre Schwiegertochter eigennützig auf ihren Vorteil bedacht sei, hielt sie sich ihrerseits für verpflichtet, ihre Töchter gegen künftige Übergriffe sicherzustellen. Sie begann mit uns über die Lösung zu beraten, und nachdem wir unter uns zu einem Ergebnis gekommen waren, das uns für alle annehmbar schien, sollte ich als Sprecherin für Mutter und Schwestern meinem Bruder in ihrer Gegenwart unsern Vorschlag unterbreiten. Das hatten sie sich ausgedacht, weil sie sich alle vor seiner Heftigkeit fürchteten und sich selbst nicht genügend Selbstbeherrschung zutrauten, um seinen Zornausbrüchen gegenüber ruhig und sachlich zu bleiben.

      Es war ein sehr peinlicher Augenblick, als Arno in diesen Familienrat hineingerufen wurde. Er blieb sehr ruhig auf meine Ansprache und antwortete nur mit wenigen Worten, die kein klares Ja oder Nein enthielten. Es kränkte ihn schwer, daß so förmlich mit ihm verfahren wurde und daß man ihm die jüngste Schwester als Autorität gegenüberstellte. Er rief nun einen andern Vermittler zu Hilfe, der ebensosehr sein Vertrauen besaß wie das unserer Mutter: ihren Bruder Eugen aus Berlin. Ich habe schon einmal erwähnt, daß dieser jüngere Bruder besonders an ihr hing und ihr oft in geschäftlichen Dingen zur Seite stand. Er war ein hervorragend tüchtiger Kaufmann, hatte eine Fabrik für Maschinenteile mit ausgebreitetem Exporthandel, besonders nach England und Rußland, selbst ins Leben gerufen und leitete dieses ganze Unternehmen mit großer Umsicht. Solange er an seinen eigenen Söhnen keine genügende Unterstützung hatte, rief er meinen Bruder öfters zu Hilfe bei größeren Abschlüssen in den Büchern; von daher bestand auch zwischen ihnen ein besonderes Vertrauensverhältnis. Nach der ersten Regelung, die bei uns getroffen wurde, blieb meine Mutter Geschäftsinhaberin, Arno wurde als Teilhaber mit Gewinnanteil auf genommen. Als sie etwa siebzig Jahre alt war, begannen Geschwister und Kinder in meine Mutter zu dringen, sie sollte sich zur Ruhe setzen und das Geschäft ganz ihrem Sohn übergeben. Sie wollte davon nichts wissen, und ich habe sie in ihrem Widerstand immer unterstützt, weil es mir klar war, daß die Tätigkeit im Geschäft unlöslich zu ihrem Leben gehörte. Zehn Jahre später fiel es niemanden mehr ein, sie in den Ruhestand versetzen zu wollen. Sie hat aber in diesem hohen Alter noch einmal eine Umordnung vorgenommen: Arno als Inhaber des Geschäfts eintragen lassen und sich selbst und Frieda nur einen Gewinnanteil gesichert. An der Arbeitsteilung zwischen den Dreien wurde dadurch nichts geändert; meine Mutter nannte aber seitdem ihren Sohn den „Chef“. Nach außen hin war nun er der verantwortliche und bestimmende Leiter, er schloß die Geschäfte ab und nahm unter den


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