Wintermärchen. Wolfgang Bendick
Читать онлайн книгу.Die Durchgänge waren als Bögen ausgebaut, die Mauern unglaublich dick, einer der Säle besaß sogar ein Gewölbe. Die junge Wirtin kam auf uns zu. Ihr Blick hellte sich auf, als wir nach unseren Freunden fragten. Sie führte uns zurück in den Hof und deutete auf das große Gebäude, wohl eine alte Stallung, umgeben von Esskastanienbäumen, wohinter die Boccia-Bahn liegen sollte. Dort schoben unsere Freunde um diese Zeit eine ruhige Kugel…
Hiesel
Das Wiedersehen war herzlich. Hatten wir uns doch seit Ende August nicht gesehen. Ich stellte ihnen Ludwig, meinen Kumpel vor. Bald hatten wir jeder ein Glas Roten in der Hand und umstanden die Boccia-Bahn, auf der sich das Finale austrug. Man bot uns eine Kugel an. Aber wir konnten kaum noch auf den Beinen stehen und wollten erst mal ausruhen. Ferdi meinte, er habe da ein sehr gutes Heilmittel zur Hand und reichte mir eine Selbstgedrehte aus Eigenanbau. „Oh Mann!“ entfuhr es mir. Alles brach in Lachen aus. Jetzt war an eine Partie Boccia für uns überhaupt nicht mehr zu denken! Eine solche wohlige Müdigkeit durchströmte unsere Glieder, dass wir uns nur noch in die Korbsessel fallen lassen konnten und den Anderen bei ihrem Spiel zuschauen, uns wundernd, dass man ein Kugelspiel so ernst nehmen konnte! Jeder hatte ein Bandmaß in der Tasche. Fehlte nur noch die Mikrometerschraube.
Als sie die gegnerischen Kugeln nicht mehr von den eigenen unterscheiden konnten, (wegen der Dunkelheit, oder wegen des Weines), kickten sie diese in eine Ecke der Bande und wir setzten uns alle in Rudis Zimmer, das gleich neben der Boccia-Bahn lag. Bei einem weiteren Glas Wein tauschten wir die Neuigkeiten der letzten Wochen aus. Es war die Zeit um Allerheiligen. Ferienzeit. Alle Unterkünfte waren belegt, meist von Deutschen. Aber diese wären für uns zwei sowieso unerschwinglich gewesen. Wir begnügten uns mit dem Gartenzimmer, einer Art Abstellraum, wo außer zwei Stahlrohrbetten auch die Geranienkästen auf dem Boden standen. Keine Heizung, kein Bad, nur ein Wasserhahn draußen im Hof. Genau das Richtige für uns!
Hatten die anderen Gäste im Speisesaal anfangs die Nase wegen unseres Aussehens gerümpft, so betrachteten sie uns bald als etwas Exotisches: echte Hippies! Außerdem waren lange Haare inzwischen etwas zur Mode geworden. Unsere Freunde hatten Gästezimmer gemietet, die ganz dem Stil des Gebäudes entsprachen: mit antiken Möbeln und modernem Luxus. Für eine Nacht hier konnte man mindestens einen Monat in Afghanistan leben! Während unsere Freunde den Urlaub nutzten und lange schliefen, war ich schon beim ersten Licht draußen. Reif lag graudornig in den Mulden, das gefrorene Laub knisterte unter meinen Schritten, wenn ich durch die Weinberge streifte. Die vergessenen Trauben waren gefroren. Manchmal hingen noch auf einer ganzen Parzelle die Trauben unterm Laubendach. Einzelne Beeren waren verschimmelt, das Ganze sah gar nicht appetitlich aus. War hier der Weinbauer verstorben? Nein! Das sollte den köstlichen Eiswein geben! Durch Kälte und Schimmel entwickelte sich mehr Zucker und mit etwas Glück und Winzerwissen wurde daraus etwas ganz Besonderes.
Bald erglühte der Grat der Mendel im ersten Morgenlicht, der Horizont im Osten wurde heller. Es schien, als würde das Thermometer noch etwas sinken, der Atem kristallisierte an meinem Bart. Dann stieg über den östlichen Bergen langsam die Sonne empor. Erst nur Licht. Es brachte der Welt die Farben zurück und ließ den Reif aufblitzen wie Millionen von Sternen. Doch dann spürte ich die Wärme. Sie drängte den Reif in die schattigen Ecken zurück, brachte den Boden zum Dampfen, von den gefrorenen Trauben rannen Tauperlen. Dann setzte ich mich an eine sonnenbeschienene Mauer und sog die Wärme und die Farben in mich ein. Ich war glücklich…
Nachher traf ich die Freunde beim verspäteten Frühstück. Rudi hatte eine Idee: Da man erst spät gefrühstückt hatte, könnte man ins Tal von Kaltenbrunn fahren. Dort wohnte der Hiesel, dem könnte man einen Besuch abstatten, ihr werdet schon sehen… Ferdi und Marina zwängten sich in ihren MG, wir kamen bei Rudi und Mona im R4 unter. Zuerst durch die Obstanlagen im Etsch-Tal ging es bald bergauf durch Weinterrassen. Hinter Kaltenbrunn wurde die Landschaft dann ursprünglicher. Bunter Lärchen- und Mischwald säumte die kurvenreiche Straße. Trat dieser etwas zurück, erkannten wir die weiß glänzenden Berge im Hintergrund. Ferdi und Martina hatten uns schon seit einer Weile abgehängt. Diese Straßen sind einfach zu verlockend für Sportwagen! Dann bog Rudi links in einen Waldweg ein. Bald sahen wir den gelben MG schräg am Wegrand geparkt. „Denen werden wir zeigen, was ein R4 kann!“ meinte Rudi und schaukelte so lange weiter, bis die Räder auf dem Gras durchdrehten und das Auto auf dem Buckel zwischen den Fahrspuren aufsaß. Wir schoben, um es aus dem Weg zu schaffen und es umzudrehen.
Wir waren auf einer Lichtung angelangt. Nicht weit stand eine Hütte aus Brettern mit einem weite Vordach. Darunter saßen schon Ferdi und seine Freundin und hoben uns prostend das Weinglas entgegen. Der Rauch eines Holzfeuers würzte die klare Luft. Der Wirt stand bei unseren Freunden. Er lief uns zur Begrüßung entgegen. Als er uns sah, stutzte er etwas. „Freunde aus dem Deutschen,“ erklärte Rudi, „echte Hippies!“ Wir setzten uns zu den anderen an die fest im Boden befestigten, aus einfachen Brettern zusammengenagelten Tische. Schon hatte jeder ein Glas Tiroler Roten in der Hand und man stieß auf das Wiedersehen an. Von hier aus sah man, dass unterhalb und weiter zum Wald hin mehrere Fischteiche angelegt waren. Die Ufer waren von hohem Gras und stellenweise von buntem Schilf gesäumt, hier und da schwammen Seerosenblätter auf der dunkel glänzenden Oberfläche. Ein Idyll, geschaffen vom Hiesel für Eingeweihte. Unweit der Tische stand ein in der Länge aufgeschnittenes, ausrangiertes Ölfass, gefüllt mit Asche von Wochen und Glut. Darüber ein Grill, auf dem die Forellen der Gäste an einem Nebentisch sich gar bräunten. In einem schmalen Verschlag reihten sich wartende Angelruten aneinander, nicht weit davon lief eine Quelle in einen Holztrog. Hier nahm Hiesel die gefangenen Fische aus. Eine handgemalte Tafel verkündete die Tarife. Hiesel selber war von stattlicher Gestalt, loderndes weißes Haar umrahmte sein Gesicht, das so faltig war wie die Dolomiten. Natürlich trug auch er die blaue Schürze und weigerte sich, italienisch zu sprechen. Um das zu bekräftigen, flatterte an einem Mast die Südtiroler Flagge. Er lachte gern und viel und hatte für jede Situation einen entsprechenden Spruch, meist so zweideutig, dass er fast schon wieder eindeutig war, auf Lager.
Ferdi hatte unauffällig unterm Tisch mit seiner Rollmaschine ein paar Zigarettle gedreht, angereichert mit etwas ‚Green Green Gras of Home‘. Diese machten diesmal nicht die Runde, sondern jeder saugte alleine daran, damit man sie nicht herumreichen musste. Das war weniger auffällig. Bald vermischte sich deren Rauch mit dem der brutzelnden Forellen und erfüllte das Tal. „Was raucht ihr nur für einen stinkenden Tabak!“ bemerkte Hiesel. „Das ist echt vorarlbergischer Anbau, aus dem Bregenzer Wald!“ schmunzelte Rudi. „Wusste gar nicht, dass der da überhaupt wächst!“ meinte er. Wir kriegten eine Lachkriese. Die Stimmung stieg. Hiesel trug seinen Teil dazu bei, als er mit einer Flasche mit einer klaren Flüssigkeit zurückkam. Darin erkannte ich einen Wacholderzweig, einen Grashalm und einen Weberknecht, eines jener übergroßen, spinnenartigen Wesen. Unsere Freunde wussten anscheinend, was das war. Ihre Augen leuchteten auf. „Grappa!“ kam es ehrfürchtig aus dem Mündern der Eingeweihten. Sie tranken ihr Weinglas leer, um Hiesel Gelegenheit zu geben, einzuschenken. Dann setzte sich dieser zu uns. Doch Rudi meinte, für diese heilige Handlung müssten eigentlich alle aufstehen. Etwas unsicher standen wir um den Tisch herum, der uns Halt gab. Jetzt erkannte ich, warum die Tische so fest in der Erde verankert waren. „Auf unseren Hiesel!“ rief Rudi und die Gläser klirrten aneinander, dass sie fast zersprangen. Ich machte es wie die anderen und leerte es in einem Zug runter. Ich kam leicht ins Husten. Fast kam mir das Zeug zu den Ohren wieder raus, so scharf war der Stoff. Eine solche Durchschlagskraft hatte ich nicht erwartet! Eine wohlige Wärme stieg in mir hoch, so ähnlich wie nach meinem ersten Kuss. Alles lachte. Hiesel griff erneut nach der Flasche. Der Weberknecht hatte inzwischen etwas Luft bekommen. Noch ein Gläschen für jeden, und er würde durch die Öffnung hinauskriechen und davonflattern! Doch als alle bedient waren, stöpselte Hiesel die Flasche zu. Wir hoben die Gläser. „Auf Südtirol!“ rief Hiesel. Wir hoben die Gläser in Richtung Flagge. Jemand stimmte das Andreas Hofer Lied an. Selbst die Gäste an den Nachbartischen fielen ein. Dann leerten wir die Gläser und ließen uns erschöpft auf die Bänke sinken. Wirkte bei mir der konsumierte Cocktail eher einschläfernd, so löste er die Zungen der Freunde. Bald schnatterten alle wild durcheinander. Rudi holte seinen Kassettenrecorder aus dem Auto und bald grölten die Dubliners durch das herbstbunte Tal.
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