Aaron. HeikeHanna Gathmann

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Aaron - HeikeHanna Gathmann


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gebeten. Vergeblich. Niemand antwortete. „Lisa wird alles wissen“, sagte Martha ungerührt, „wir sind da.“ Die Frau hatte die Fensterscheibe des altmodischen Wagens heruntergekurbelt, um besser einparken zu können. Rauchschwaden von frisch gebratenem Barbecue Grillfleisch wehte vom Flussufer des Mississippi zu ihnen herüber. „Mmmh, lecker!“ Aaron schien besänftigt und öffnete erwartungsvoll die Beifahrertür. „Pass‘ auf, du Clown“, schnauzte ein vorbeigehender Konzertbesucher, „das hier ist kein Faschingsfest!“ Verdutzt las der Sänger die grossen Letter auf einem Plakat an einem Baum am Strassenrand: „We Want No Nuclear Refuse In Tennessee.“

      Er sei eben kein Typ, für den sich in einem beliebigen Konfektionsgeschäft schnell beliebige Klamotten besorgen liessen, zweifelte die Malerin an ihrer spontanen Idee zu diesem Ausflug. Beunruhigt beobachtete sie, wie Aaron aufgeregt und mit dynamischen Schritten vor der Konzertbühne herumlief und sich mühte, eine Sitzmöglichkeit für beide zu ergattern. Strahlend kam er mit zwei Plastikstühlen auf sie zugelaufen. „Wir sind ja beide bereits etwas älter“, präsentierte er stolz seinen Beutefang, „im Zeichen des Steinbocks Geborene sind schwierig, aber zäh.“ Währenddessen flatterte seine Trompetenhose und sein Seidenhemd heftig im Wind. Die Schmetterlingsbrille - Grösse XXL - liess ihn wie einen verirrtes, nervöses Insekt aussehen. „Ich hätte besser einen Flug nach Las Vegas für uns buchen sollen.“ „Warum?“ „Weil dort gerade eine Retroperspektive mit all deinen Songs gezeigt wird. Und in dekorativen Bühnenbildern der Einfluss der Country-, Blues- und Gospelmusik auf dein Tun erzählt wird. In einem Bühnenbild schwebt eine überdimensionale, elektrische Gitarre im Raum. Zwei Artisten hängen an dem Musikinstrument. Der eine stellt dich dar, der andere deinen totgeborenen Zwillingsbruder Jesse.“ „Lass‘ ihn in Frieden ruhen!“, schnauzte Aaron, „wer kann denn schon voraussagen, dass Jesse sich für Musik interessiert hätte - wenn er denn hätte leben dürfen. Und wer verdient an dieser Show?“ Inzwischen hatten sich mehrere dutzend Zuhörer rings um das Paar eingefunden. Wolldecken ausgebreitet oder selbst Klappstühle mitgebracht. „Hey … es sind bereits um die eintausendfünfhundert Konzertbesucher gekommen“, freute sich Martha. Sie zog ein zerknülltes Papier aus ihrer Jeanstasche. Darauf die Namen der eingeladenen zwei Musikgruppen. Sie gab den Zettel Aaron. Es waren „Die toten Hosen“ und „Kraftwerk“. Der Musiker, welcher sich an viele deutsche Worte aus seiner Militärzeit in Westdeutschland erinnerte, grübelte über die Bedeutung der Bandnamen. Ihm, der immer mit kraftbetonter, voller Stimme auf der Bühne gesungen hatte, bis ihm der Schweiss von der Stirn lief und sein Haar klatschnass triefte, beobachtete verwundert die eingeladenen Gäste. Erstaunt stellte er fest, dass die Männer zumeist akkurate Kurzhaarfrisuren trugen und niemand rauchte. Es kam ihm so vor, als würden sich die Menschen wie in den frühen Sechzigern bewegen. Wie vor den kommenden wilden, zuweilen enthemmten Jahren. Mit dem Unterschied, dass sie lockerer und selbstbewusster als damals schienen. Doch er entdeckte in der Menschenmenge auch sehr ernst blickende, nachdenkliche Gesichter. Die vielen elegant geschnittenen, modischen Blazer in unterschiedlichen Farbfacetten, die Aaron entdeckte, und die formschönen Stiefeletten, die die Leute trugen, gefielen ihm sehr. „In welcher Sprache reden die neben uns?“, flüsterte er eingeschüchtert in Marthas Ohr. „Das sind russische und lettische Touristen“, grinste seine Begleiterin. „Die sehen aber aus wie Amerikaner! Sind die USA jetzt kommunistisch?“ Durch das Hirn des Sängers schossen in Millisekunden tief in seinem Gedächtnis verankerte Kriegsbilder. Von zerfetzten, entstellten, vietnamesischen Leibern. Er dachte an den schmählichen Abzug der US Armee aus Südvietnam. „Die Träume von einer sozialeren Gesellschaft, welche deine Generation auszeichnete, scheinen abhanden gekommen zu sein. Ausser dem kleinen Nordkorea und dem ausser Rand und Band geratenen Venezuela frönen alle Nationen nun dem globalen Kapitalismus“, erklärte Martha dem Troubadour aus vergangenen Tagen. „Hi, Schmusetarzan“, unterbrach eine hübsche, dunkelhaarige Frau im löchrigen Lederkostüm, „du wirst an diesem Tag für deine zugegeben gute Elvisimitation keinen Preis gewinnen. Angesagt sind heute Punk und Techno, keine Fummelmusik!“

      Aaron hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. „Was für ein Getöse! In meinem Innenohr klingelt es“, schimpfte er. Zusammen mit seiner Begleiterin hockte er am Ufer des weiten Stromes, während die orangerotfarbene Abendsonne langsam hinter dem Flussbett versank. Sichtbar wurden die Gestirne, welche wie winzige, wissende Goldkügelchen über das Stadt, scheinbar schwebend, hingen. „Es hat dir also alles missfallen?“ „Mitnichten. Die elektronische Musik, die etwas plastern und monoton daherkam, war zugleich witzig und durchdacht. Seine Akteure agierten wie fremdgesteuerte, marionettenhafte Wesen. Mit ihren eigenen Klängen verschmolzen. Das hat mich fasziniert!“ Martha blickte auf die Goldkügelchen am Himmel. „Es stellt sich nach wie vor die Frage nach dem Puppenspieler, welcher die Fäden in der Hand hält“, sagte sie. „Meine Lebensaufgabe hat er mir zugewiesen. Dort oben - im Sternbild der Waage. Sie lautete, mittels des Gesanges Harmonie zu schaffen.“ „Aber du warst am Beginn der Laufbahn ein Revolutionär! Jemand, der den Blues wie ein Farbiger singen konnte!“ „Der Mars, der zum Zeitpunkt meiner Geburt in der Waage stand, machte mich leidenschaftlich.“ „Hast du deshalb so viele Frauen geküsst?“ „Das war meine unterdrückte, indianische Lebensart. Eine Wiederkehr des Bruderkusses. Es handelt sich um ein indianisches Begrüssungszeremoniell.“ „Ich verstehe.“ „Ehrlich gesagt - hunderte Frauen in Gestalt einer Aphrodite sind für jeden Mann eine Überforderung. Am Ende war ich es leid, ihnen meine verschwitzten Halstücher zuzuwerfen. „Das klingt nach harter Arbeit.“ „Geschafft hat mich letztendlich die Trinität von Sonne, Venus und Merkur. Beeinflusst von Pluto, diesem unerbittlichen, gemeinen Racker. Es tut mir so leid um meinen Vater, der an meinem frühen Tod zerbrochen ist. Vermutlich ist das alles passiert, weil ich keine Verantwortung kannte. Leise begann der tote Musiker den Song „You are always on my mind“ anzustimmen. Während sich im faden, nebeligem Morgenlicht der Oldtimer, dieses Mal unter seiner Regie, Graceland näherte, sang Aaron immer noch „so close, yet so far from paradise.“

      IV. „Eddy Adam Predley“

      Ein ohrenbetäubender Lärm schreckte die noch Schlafenden zur Mittagszeit. Mürrisch zog Martha die Gardine am Fenster zur Seite, um nach dem Grund zu forschen. Im Garten erspähte die Malerin zwei Arbeiter, welche im Duett begonnen hatten, mit einer Kettensäge morsche, abgestorbene Eichen zu fällen. Gleichzeitig näherte sich ein Firmennamen mit der Aufschrift >sanitary articles< der Villa. „Wir müssen sofort verschwinden!“, rief Martha laut dem verärgert, müde wirkenden Sänger zu, „auf der Kommode neben dem Bett liegen dein neuer Reisepass und ein gemeinsames Flugticket.“ Dann verschwand sie im Badezimmer. Unter einem Foto, welches tatsächlich seine Person zeigte, entzifferte er verdutzt seine neue Identität: EDDY ADAM PREDLEY, geboren am 8. Januar 1973 in Tupelo, Tennessee. In den Reiseunterlagen fand er ein Ticket für zwei Personen mit der Flugroute Memphis-New York-Dubai-Jerusalem. „Himmel … wie kostspielig!“, erwiderte er freundlich. Hoffend, seine Begleiterin umstimmen zu können, „können wir nicht einfach deine gemütliche Hütte in Colorado aufsuchen? Ich sehe kein Rückflugticket.“ „Ist alles bezahlt“, krähte Martha fröhlich unter Dusche, „durch eine Erbschaft, die ich gemacht habe.“ „Glückwunsch“, brüllte Aaron, „vergiss‘ nicht, den Memphis Blues und die Shabbeskerzen einzupacken.“

      „Ich werde euch beide zum Flughafen bringen“, bot Larry, der Friseur, seine Hilfe an, „willst du im Nerzmantel die Flucht antreten, Evis? Tierschützer werden dich jagen.“ „Ich bin jetzt Eddy“, antwortete der Sänger ungerührt, „was hat es eigentlich mit den vielen Protestplakaten am Boulevard auf sich, Larry?“ „Seit deinem Ableben sind zwei Atomkraftwerke explodiert. Eines vor drei Jahrzehnten in der Sowjetunion, was den Kollaps ihrer maroden Wirtschaft zur Folge hatte. Das andere aufgrund eines Erdbebens just in Japan. Es erzürnt die Menschen in Tennessee, das vor Ort eine Anlage errichtet wird, die internationalen Atommüll entsorgen soll. Hast du deinen Namen auch geändert, Martha?“ „Nein, ich bin die gebleiben, die ich immer war: Von meinen besten Freunden einfach >Marshmarigold< gerufen.“

      Im Flughafengebäude angekommen tauchte der Sänger mit den Worten „Ich muss mich auf den neuesten Stand bringen“ in einem Laden für Filmartikel ab. Heftig gestikulierend kam er zurück. „Ich habe nach den besten männlichen Schauspielern aus den letzten zwei Dekaden gefragt“,


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